# taz.de -- Historische Reiseberichte: Hinterm Horizont wird’s heiter
       
       > Reiseberichte waren früher begehrte Bestseller. Eine subjektive Auswahl
       > von Reiseberichten furchtloser Eroberer und selbstbewusster Frauen.
       
 (IMG) Bild: Grafik aus „Wahrhaftige Historie einer Landschaft der Wilden…“: Indianerangriff auf das Segelschiff des Hans Staden
       
       Historische Reiseberichte entführen nicht nur in ferne, unglaubliche
       Welten, sondern auch in zeitbedingte Vorstellungen und Vorurteile. Es ist
       spannend, wie Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen zu
       unterschiedlichen Zeiten aufeinander reagieren. Vor allem, wenn sie völlig
       subjektiv und eigenwillig die Begegnung beschreiben.
       
       Dann sind sie einserseits unverfälscht, ehrlich, und übertreiben
       möglicherweise stark, weil sie auf die Gunst des Lesers schielten. Denn
       viele der Reisebeschreibungen waren zu ihrer Zeit Bestseller.
       Übertreibungen, Lügen, aber auch Weglassungen sollten Ruhm und Ehre der
       Reisenden mehren, ohne Zeitgenossen in ihrem Weltbild allzu sehr zu
       verstören.
       
       In der Fremde ist der Fremde, der Besucher, der Einwanderer fremd.
       Eurozentrismus, Überlegenheitsgefühle, Rassismen, aber auch Bewunderung und
       Staunen durchziehen diese Berichte. In Zeiten um sich greifender
       politischer Correctness lastet manchmal bereits auf dem Wahrnehmen von
       Fremdheit ein Generalverdacht.
       
       Dabei achtet jener, der vor der Fremde zurückschreckt oder sich zumindest
       darüber wundert, diese mehr, als derjenige, der Fremdheit abstreitet.
       Unterschiede und Eigenwilligkeiten, auch die Feindlichkeit gegenüber dem
       Fremden, werden verdrängt. Ein Tugendterror, der die Unterschiede und damit
       das Staunen über die Welt verneint. Oft bleibt dann nur die gleichgültige
       Ignoranz.
       
       Ob die Indianer ihre Feinde tatsächlich aßen wie bei Hans Staden oder die
       Christen aus Not ihre Kumpanen verspeisten wie bei Cabeza de Vaca,
       Reiseberichte setzen Fantasien und ungewohnte, subjektive Perspektiven
       frei.
       
       Auch diese Auswahl von Reiseberichten aus dem 16. bis 20. Jahrhundert ist
       subjektiv. Sie schöpft aus einem ausufernden Fundus. Um die Leser nicht zu
       langweilen, wurden die bekanntesten und wissenschaftlichsten – Humboldt,
       Seume, Goethe, Livingstone, Conrad – übergangen. Vorgestellt werden die
       kurzweiligen, weniger bekannten. Auch die ersten allein reisenden Frauen,
       die im Zuge des Kolonialismus aus ihrer Rolle flüchteten. Litten sie daheim
       unter Schwindsucht, Anämie und rätselhaftem Siechtum, entwickelten sie
       unterwegs eine erstaunliche Robustheit.
       
       Diese Zusammenstellung versteht sich als Anregung, als Appetizer auf
       wunderliche Begegnungen und Einblicke.
       
       ## Der schreibende Exot aus Hessen
       
       „Sie essen ihre Feinde nicht, weil sie Hunger haben, sondern aus Haß und
       großer Feindseligkeit.“
       
       Hans Staden verfasste „Die wahrhaftige Historia und Beschreibung eines
       Landes der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser“. Mehr Aufreger in
       einer Zeile konnte man damals nicht bringen. Das Buch erschien 1557 in
       Marburg, über ein Land, von dessen Existenz man in Europa erst eine vage
       Ahnung hatte. Staden hatte viel gesehen, mehr als jeder andere in seiner
       hessischen Heimat, und er hatte etwas zu verkaufen – eine Geschichte, so
       unfassbar, dass es ein Problem sein könnte, den Lesern glaubhaft zu machen:
       Alles wahr, alles selbst erlebt.
       
       Aller Wahrscheinlichkeit nach kämpfte Hans Staden als Landsknecht, ein
       bezahlter Söldner, mit den Portugiesen. Staden wurde als Kommandant einer
       kleinen Artilleriestellung bei São Vicente angeheuert, unweit des heutigen
       São Paulo, und dort von Tupinambá-Indianern entführt. Neun Monate
       verbrachte er unter ihnen, lernte ihre Sprache. Unter Ethnologen wurde
       Stadens Bericht deshalb lange als originäre Quelle für die Geschichte
       Brasiliens gehandelt. Doch Zweifel sind angebracht, ob er nicht zumindest
       gelegentlich übertrieben hat, um seinem Buch bessere Marktchancen zu
       eröffnen.
       
       Insbesondere seine drastische Schilderung des Kannibalismus geriet in die
       Kritik. Er habe damit dem eurozentrischen Weltbild Vorschub geleistet –
       für alle Zeiten galt der Indianer nun als unzivilisierter Wilder.
       
       ## Der verlorene Kolonisator
       
       „Fünf Christen, die in einer Hütte an der Küste hausten, gerieten in solche
       Not, dass sie einander aufaßen, bis nur noch einer am Leben blieb.
       Hierüber wurden die Indianer so aufgebracht, und es kam unter ihnen zu
       einer derartigen Aufregung, dass sie zweifellos, wenn der Vorfall gleich
       anfangs zu ihrer Kenntnis gekommen wäre, die Männer erschlagen und wir uns
       alle dadurch in eine große Notlage versetzt gesehen hätten.“
       
       Sie suchten Gold und strandeten in den Sümpfen Floridas. Im Juni 1527
       brachen sie von Spanien auf, um das Land an der Küste des Golfs von Mexiko
       zu erkunden. „Schiffbrüche – die Unglücksfahrt des Álvar Núñez Cabeza de
       Vaca“ ist ein Klassiker der Reiseliteratur und der Bericht von einer
       unglaublich strapaziösen Reise durch den völlig unerforschten Süden
       Nordamerikas.
       
       Nach einer gescheiterten Florida-Expedition lebt der gestrandeter
       Konquistador Cabeza de Vaca (1490–1575) sechs Jahre lang unter Indianern.
       Er war der erste Europäer, der Amerika von Ost nach West, von Florida über
       Arizona bis Kalifornien zu Fuß durchquerte. Sein Bericht ist ein
       ethnologisches Fundstück, das ungefiltert die Begegnung mit
       Indianerstämmen, die heute längst ausgestorben sind, beschreibt.
       
       Er schildert die Indianer direkt, unverblümt und in ihrer ganzen von ihm
       wahrgenommenen Ambivalenz. Seine indianischen Protagonisten sind fröhlich
       und freundlich, feindlich und missgünstig. Doch im Gegensatz zu seinen vom
       Gold besessenen und mordenden Landsmännern sieht er sie als Menschen und
       nicht als unzivilisierte Wilde. De Vaca nimmt ungewollt ihre Perspektive
       ein. So hat selten ein Konquistador über die Indianer gesprochen.
       
       De Vacas Reisebericht spricht die gleiche Sprache wie die Aufzeichnungen
       Bartolomé de Las Casas, des Dominikanermönchs, der zur selben Zeit über die
       frühen Jahre der spanischen Konquista, deren Augenzeuge er war, kritisch
       berichtete. De Las Casas war einer der Ersten, der sich für die Rechte der
       Indianer im Mutterland Spanien einsetzte.
       
       ## Der reisende Nörgler
       
       „Der Hochmut der Spanier und die Höhe der Berge ihres Landes scheinen mir
       in einer Beziehung zu stehen. Jene versuchen mit grenzenlosem Ehrgeiz, die
       Welt unter ihre Herrschaft zu zwingen, wie diese durch ihre grenzlose Höhe
       den Himmel in Furcht und Schrecken versetzten, als wollten sie Jupiter vom
       Throne stoßen. Und so macht der kleinwüchsige Spanier sich im Innern zu
       eigen, was seine Berge ganz äußerlich kennzeichnet.“ 
       
       Der Schotte William Lithgow reiste Anfang des 17. Jahrhunderts quer durch
       Europa nach Ägypten, Tunesien, Konstantinopel. Fast immer schlecht gelaunt,
       schildert er nörgelnd seine Erlebnisse: In allen Der Reisende Nörgler
       italienischen Städten herrsche die Sodomie, die Bevölkerung Polens sei von
       Natur aus „vierschrötig, mit Stiernacken, breiten Hüften und kräftigen
       Beinen, sowie rohen, grobschlächtigen Gesichtern“. Es ist die
       überraschendste, unterhaltsamste und trockenste Reiseliteratur.
       
       Das tapfere Schneiderlein aus Schottland zog zum ersten Mal 1609 in die
       Welt hinaus. Wegen Liebeshändeln, so das Gerücht, sollen ihm die Ohren
       abgeschnitten worden sein. Das soll der Grund seiner drei Reisen in den
       Orient gewesen sein: Denn der Turban verdeckte die sichtbare Schmach. Als
       „Odysseus der Misanthropen“ bezeichnet ihn Roger Willemsen, dem das
       Verdienst der Herausgabe dieser Reiseaufzeichnungen von 1632 auf Deutsch
       zukommt.
       
       En passant, trocken und lakonisch beschreibt Lithgow die unglaublichsten
       Dinge, beispielsweise über das marokkanische Fes: „Das Schlimmste ist, dass
       im Sommer dreitausend Lustknaben in den Straßen ihre Dienste anbieten. Ich
       selbst habe gesehen, wie Männer am helllichten Tag mitten auf dem
       Marktplatz ihre Lust an diesen verderbten Knaben befriedigten, ganz ohne
       Scham oder Angst, und danach unbekümmert weitergingen.“
       
       Und auch Lithgow, in dem manche einen englischen Spion vermuten, scheint
       unbekümmert immer weiterzureisen – er wird Opfer der spanischen
       Inquisition, er trotzt Schiffbruch, Überfällen und Betrug, er erlebt
       Hinrichtungen, Verbrennung, Ersäufnisse und Sklavenhandel. Lithgow ist ein
       unterhaltsamer Chronist, der nie darüber hinwegtäuscht, dass das Reisen
       eigentlich ein verdammt mühseliges Geschäft ist.
       
       ## Eine Lebemann in Tunis
       
       .„Durchaus ist diese strenge Verschleierung nicht zu verwerfen, nur müßte
       sie sich in den civilisierten Staaten allein auf die Alten und Häßlichen
       beschränken.“
       
       Diese Erkenntnis brachte Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau
       (1785–18) von seiner Tunisreise mit. Pückler wusste und sagte, was ihm
       gefällt. Das Publikum in Europa, es folgte ihm begeistert. Der
       Generalleutnant von preußischem Adel und Landschaftsarchitekt,
       Schriftsteller und Weltreisender, dessen Grundbesitz und dandyhaftes Leben
       sein Vermögen verschlang, verdiente mit seinen Reisebüchern den aufwendigen
       Unterhalt. Sein Pseudonym als Autor und Reisender: der „Semilasso“ (der
       Halbmüde).
       
       Seine Reiseberichte in Briefen, vor allem an seine Frau Lucie oder seinen
       Freund Leopold Schefer gerichtet, wurden in kurzer Zeit in Deutschland,
       England und Frankreich zu Bestsellern. Er reiste durch Algier und Tunesien
       weiter nach Ägypten und Sudan. Die Reiseberichte des in seiner Zeit als
       Kosmopolit, aufgeklärt und liberal geltenden Pückler sind eine Fundgrube
       für Liebhaber historischer Reiseerzählungen, ein Highlight für
       Maghreb-Kenner, eine Provokation für heutige antirassistische Wächter der
       politisch korrekten Sprache. Es wimmelt nur so von Negern, Mohren und
       anderen Despektierlichkeiten. Ein ungeschöntes Zeitdokument, doppelbödig
       und unziemlich wie ein rassistischer Witz.
       
       ## Der aufgeklärte Humanist
       
       In einem Winkel der Erde hatten wir, nicht ohne Mitleid, die armseligen
       Wilden von Tierra del Fuego gesehn; halbverhungert, betäubt und
       gedankenlos, unfähig sich gegen die Rauhigkeit der Natur zu schützen, und
       zur niedrigsten Stufe der Natur bis an die Gränzen der unvernünftigen
       Thiere herabgewürdigt. In einer anderen Gegend hatten wir die glücklicheren
       Völkerschaften der Socitäts-Inseln bemerkt; schön von Gestalt und in einem
       vortreflichen Clima lebend, welches alle ihre Wünsche und Bedürfnisse
       befriedigt. Ihnen waren schon die Vortheile des geselligen Lebens bekannt;
       bey ihnen fanden wir Menschenliebe und Freundschaft, ihnen war es aber auch
       zur Gewohnheit geworden, der Sinnlichkeit bis zur Ausschweifung Raum zu
       geben. Durch die Betrachtung dieser verschiedenen Völker, müssen jedem
       Unparteyischem die Vortheile und Wohlthaten, welche Sittlichkeit und
       Religion über unseren Welttheil verbreitet haben, immer deutlicher und
       eindringlicher werden.“ 
       
       Er war Vorbild für den schließlich viel berühmteren Alexander von
       Humboldt, Goethe speiste im Kreise seiner Familie, Schiller verehrte ihn:
       Georg Forster. Im Schlepptau seines egomanischen Vaters heuerte der
       17-Jährige als Naturkundler für die zweite Weltumsegelung von Kapitän James
       Cook auf der „Resolution“ an. Die Reise dauerte von 1772 bis 1775. Sie
       führte vorbei an Kapstadt und dem Kap der Guten Hoffnung, durch den
       Indischen Ozean in Richtung Pazifik. Dort segeln die beiden Schiffe
       „Resolution“ und „Adventure“ zwischen Neuseeland und Tahiti. Zwei Jahre
       nach seiner Rückkehr veröffentlichte Forster seinen Expeditionsbericht „A
       Voyage Round The World“. Ein historisches Dokument, das bald auch in
       deutscher Sprache erschien.
       
       Die Französische Revolution schien seinen humanistischen Traum von
       Freiheit, Moral und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Er wird ihr glühender
       Anhänger. Zeitlebens betrachtete er sich selbst als „Weltenbürger“. Ein
       aufgeklärter Zeitgenosse, den das Geschlechterverhältnis zutiefst ungerecht
       dünkte. Nachhaltig beschäftigt ihn, dass die einheimischen Männer in
       Neuseeland ihre Töchter und Schwestern den sexuell ausgehungerten
       Matrosen für ein Hemd oder einen Nagel unter Gewaltandrohung anbieten.
       
       ## Reisende Amazonen
       
       „Mit Sicherheit ist es einer der Vorteile des Reisens, dass es nicht nur
       Vorurteile gegen Fremde und ihre Sitten abbaut – es intensiviert auch
       währenddessen um ein Zehnfaches die Wertschätzung des Guten zuhause.“
       
       Isabella Lucy Bird war die kränkelnde Tocher eines schottischen Pastors.
       Doch in der Ferne gesundete sie auf wundersame Weise. Jeder Versuch, zu
       Hause das Leben einer ehrbaren englischen Lady zu führen, brachte einen
       Rückfall. Also reiste sie.
       
       Ein von ihr verfasster Reisebericht erschien 1856 anonym unter dem Titel
       „The Englishwoman in America“. Im darauf folgenden Jahr unternahm sie eine
       Reise nach Kanada und erkundete danach Schottland. 1872 brach sie nach
       Australien auf, reiste weiter nach Hawaii, begab sich nach Colorado und
       ritt 1873 im Pferdesattel durch die Rocky Mountains. Die Briefe, in denen
       sie der Schwester von ihren Reiseerlebnissen berichtete, wurden in Birds
       wohl bekanntestem Werk, „A Lady’s Life in the Rocky Mountains“,
       veröffentlicht.
       
       Auch ihre künftigen Unternehmungen sollten Reisebeschreibungen begleiten.
       Sie besuchte Japan, China, Vietnam, Singapur Malaysia, Indien, Tibet,
       Persien, Kurdistan und die Türkei. 1892 wurde Isabella Bird als erste Frau
       in die Royal Geographical Society aufgenommen. Ihre letzte große
       Unternehmung führte sie 1897 nach Korea und China.
       
       Die Reduktion aufs Frausein unter lustfeindlichen, repressiven Konventionen
       ließ Isabella Bird und andere viktorianische Ladys kränkeln – und auf
       Reisen wieder genesen. Beschränkte sich ihr Wirkungsradius daheim auf die
       Runde um den Teetisch, so wurden sie unterwegs zu travelling ladies, die es
       zuweilen zu legendärem Ruf brachten.
       
       Ihr Mut führte Frauen wie Ida Gräfin Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer, Alexandra
       David-Neel auf Himalayagipfel, in die verbotenen Tempel und hinter die
       verschlossenen Türen der Harems. Sie erfuhren die Unendlichkeit der Wüste,
       begaben sich auf Tigersafari und sahen zu ihrem blanken Entsetzen
       Witwenverbrennungen in Indien. Beeindruckende Frauen, leuchtende Beispiele
       der Eigenwilligkeit. Reisende Amazonen!
       
       Die travelling ladies wurden zu Vorreiterinnen und Vorbild der modernen
       Reisenden. Der Aufbruch war für sie Befreiung aus starren Rollenmustern.
       Dabei zeichneten sich diese Frauen aus dem Bürgertum häufig durch eine
       erzkonservative Haltung gegenüber der politischen Frauenbewegung im eigenen
       Land aus. Auch bei der Betrachtung anderer Kulturen schauten sie mit
       imperialistischem Blick auf den Rest der Welt. Niemals gaben sie vor, in
       eine andere Haut, eine andere Rolle schlüpfen zu können oder auch nur zu
       wollen.
       
       14 Oct 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Edith Kresta
       
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