# taz.de -- Menschen mit geistiger Behinderung: Was ist schon normal?
       
       > Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu wissen,
       > dass man es ist. Ein Einblick in eine betreute Wohneinrichtung.
       
 (IMG) Bild: „Furchtbar, immer diese Behinderten!“: Das sagt Maria gern, wenn sie Bus fährt
       
       Der Grad an geistiger Behinderung wird mit IQ-Tests ermittelt. IQ-Tests
       sind schon unter optimalen Bedingungen umstritten, in der Praxis sind sie
       bisweilen grandios grotesk.
       
       Stefan stammt aus der Ulmer Gegend. 44 Jahre lang lebte er mit seinem Vater
       auf dem Dorf, umgeben von Kuhställen und Wiesen. Dann erkrankte sein Vater
       und wurde pflegebedürftig, also kümmert sich jetzt seine Schwester. Die
       Schwester lebt in Berlin, sie wollte ihn in der Nähe haben, so kam Stefan
       zu uns, in die große Stadt: Er, der sich der Tatsache, dass überhaupt mehr
       als 500 Menschen auf dieser Welt leben, wahrscheinlich nur rudimentär
       bewusst war.
       
       Zur Ermittlung seines Hilfebedarfs wurde er getestet. Das erwies sich als
       schwierig, weil Stefan sehr starken Dialekt spricht, den die Berliner
       Gutachterin nicht verstand; und weil er auf die Frage, wo er wohne, „Beim
       Frett“ antwortete, nahm sie an, er wisse nicht einmal, wo er genau gelebt
       habe, bisher. Sie wusste nicht, dass sein Vater Alfred hieß und
       entsprechend „Frett“ genannt wurde. Jetzt heißt es in dem Schreiben, er sei
       über seine bisherigen Lebensumstände kaum orientiert gewesen. Mei, so
       isches halt, würde Stefan sagen.
       
       Wenn ich in meiner Gruppe frage, warum die Bewohner glauben, dass sie hier
       sind, in einer betreuten Wohneinrichtung, antwortet Kalle, der kognitiv
       fitteste: „Weil ich ein bisschen doof bin.“ Die anderen sagen Sachen, die
       mit ihrer Behinderung nichts zu tun haben, aber trotzdem stimmen. „Weil das
       ist mein zu Hause“ zum Beispiel oder „weil meine Mama alt ist“ oder „allein
       komm ich nicht klar“.
       
       Es sind praktische Gründe, die ihnen einfallen, und die mich zu der Annahme
       bringen, geistig Behinderte würden jene Menschen genannt, die mit den
       Zumutungen des Lebens schlechter zurechtkommen als der Durchschnitt
       (entsprechend werden sie auch viermal häufiger seelisch krank im Vergleich,
       sagt man).
       
       Diese Zumutungen sind nicht unbedingt objektiv, sie ergeben sich aus einer
       persönlichen Sicht. Am deutlichsten wurde mir dieser Umstand bei Markus
       bewusst.
       
       ## Er war, was er war
       
       Markus ist mit dem Sturge-Weber-Syndrom diagnostiziert. Ein rötlich-blau
       schimmerndes Geschwulst zieht sich über die komplette linke Gesichtshälfte
       und mündet in seiner Oberlippe, die riesig ist, so riesig, dass sie ihm
       über das Kinn hängt. Die meisten erschauern unwillkürlich, wenn sie ihn
       sehen. Allein sein Aussehen macht ihn zum Behinderten, die meiste Zeit ist
       ihm die Welt da draußen mit Ekel begegnet.
       
       Das passiert hier, in meiner Einrichtung, nur sehr selten. Dieses Heim ist
       einer dieser selten gewordenen Orte, an denen Schönheit nicht existiert.
       Die Bewohner sehen aus, wie sie aussehen, dick zu sein bedeutet wenig oder
       nichts, außer dass man schneller aus der Puste ist.
       
       Markus hat sich nie als behindert verstanden. Er war, was er war, da
       blieben wenige Fragen offen. Behinderte, das waren für ihn immer nur
       Rollstuhlfahrer. Solange er laufen konnte und nicht geschoben werden
       musste, bestand kein Anlass, sich zu kategorisieren. Woher seine
       grundsätzliche Schwermut kam, fragte er sich nicht, das haben wir Betreuer
       uns hergeleitet: Er hat viel Ablehnung erfahren in seinem Leben, seine
       Mutter verließ die Familie, da war er drei. Sein Vater gab ihn mit sieben
       in ein Heim für geistig behinderte Kinder.
       
       Was ihn tatsächlich behindert, ist nicht sein Aussehen. Der Blutschwamm
       breitet sich aus, das ganze Leben von Markus ist er schon gewachsen, und
       dabei drückt er auch immer stärker auf das Gehirn. Dadurch werden
       epileptische Anfälle ausgelöst, und außerdem fallen halbseitig immer mehr
       motorische Fähigkeiten aus. Seit drei Jahren ist er bettlägrig, und erst
       seitdem begreift er sich als eingeschränkt: Das ist es, was ihn unglücklich
       macht.
       
       ## Was soziale Arbeit macht
       
       Soziale Arbeit hat eine doppelte Perspektive; einerseits geht es darum, die
       Einschränkungen der Bewohner zu kompensieren oder zu lindern. Und
       andererseits gibt es einen von der Gesellschaft vorgegebenen
       Zivilisierungsauftrag, der sich aber nur mittelbar bemerkbar macht.
       
       Der Hilfebedarf – also der Umfang der Betreuung – bemisst sich nach dem
       Metzler-Bogen, ein Verfahren, das nach Optimierungsmöglichkeiten sucht. Es
       soll gefördert werden, die Bewohner sollen sich entwickeln, und nur wenn es
       eine Perspektive auf Vorankommen gibt, rechtfertigt das den größeren
       finanziellen Aufwand. Das führt zu der absurden Situation, dass in vielen
       Bundesländern bei Bewohnern, die an Demenz erkranken, der Hilfebedarf
       sinkt.
       
       Das ist eine faktische Konsequenz aus dem Inklusionsbegriff: Gerade jene,
       die am meisten Hilfe nötig haben, überlässt man immer mehr sich selbst.
       Zumindest in der Theorie – praktisch wird versucht, das in den gemischten
       Wohngruppen aufzufangen.
       
       Die Unschärfe des Begriffs der geistigen Behinderung führt dazu, dass
       beispielsweise in meiner Gruppe die eine Hälfte der Bewohner demenziell
       ist. Da geht es vor allem darum, die Bewohner zu begleiten, ihnen ein
       schönes Leben zu machen, sie zu umsorgen und Defizite auszugleichen. Bei
       der anderen Hälfte geht es darum, ihnen zu ermöglichen, so selbstbestimmt
       zu leben wie möglich; sie zu ermächtigen, eigene Entscheidungen zu treffen,
       ein eigenes Leben zu führen.
       
       ## Stefan will gar nicht gefördert werden
       
       Das führt natürlich fortwährend zu Konflikten, zu Eifersucht. Stefan hat
       das sehr gut verstanden; er findet es unfair, dass er sich seine Brote
       selber schmieren muss, wo Sabrina ihre doch sogar mundgerecht geschnitten
       und gereicht bekommt. Wieso sich anstrengen, wenn andere in einem
       Brueghel’schen Schlaraffenland leben?
       
       Stefan will eigentlich gar nicht gefördert werden, er will malen und essen
       und viel duschen (er liebt Wasser). Was die Gesellschaft von ihm will, ist
       ihm – mit Verlaub – scheißegal; eigentlich soll er arbeiten gehen, weil das
       halt so ist hierzulande, aber er schläft eben gern bis zwölf. Und er hat
       auch sehr gut verstanden, welche Sorte Argumente greifen, um zu verhindern,
       dass wir ihm auf die Nerven gehen.
       
       Vor drei Jahren hatte er einen Bandscheibenvorfall. Kommt die Sprache auf
       eine Werkstätte, zeigt er auf seine Schulter und sagt: „Der Arm tut weh!“
       Und dass er, bevor er arbeiten gehen könne, erst mal gesund werden wolle.
       Und damit hat sich die Sache dann für die nächsten drei Monate. Ich stehe
       für Frühdienste um halb fünf Uhr nachts auf, ich würde sagen, Stefan stellt
       sich da geschickter an. Es sind – wenn überhaupt – häufig tradierte
       Vorstellungen, die den Bewohnern einen Begriff ihrer eigenen Behinderung
       geben. Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu
       wissen, dass man es ist.
       
       ## Maria will Kekse
       
       Maria mochte ich immer gern. Nachmittags besuchte sie die Gruppen und
       fragte nach Kaffee und Keksen, wobei „fragen“ hier schon eine grobe
       Interpretation ist. Sie kam zu der Gruppe, setzte sich zu den anderen an
       den großen Tisch und versuchte, möglichst unauffällig dreinzukucken. Wenn
       man sie dann fragte, ob sie was haben wolle, strahlten einen zwei braune
       Knopfaugen an. „Kaffee.“ Also gab ich ihr Kaffee. „Und Kekse!“ Also gab ich
       ihr Kekse.
       
       Die anderen Bewohner am Tisch interessierten Maria nicht, sie fühlte sich
       nie wohl unter anderen Behinderten. Sie achtete sehr auf ihr
       Erscheinungsbild, sie war immer sauber und adrett gekleidet, mit Blusen und
       Faltenrock, weil man, wie sie mir einmal erklärte, sich eben so anzieht.
       Ordentlich.
       
       Wenn man mit einer Gruppe Bewohner in einen Bus stieg, und Maria war dabei,
       dann sah sich um, suchte sich eine allein sitzende, ältere Dame, kletterte
       neben sie auf den Sitz, kuckte sich ein paar Augenblicke ihre Gruppe an und
       sagte dann zur Seite hin: „Furchtbar, immer diese Behinderten!“ Ich habe
       nur einmal erlebt, dass eine Nebensitzerin daraufhin in Gelächter ausbrach.
       Maria hat sich daraufhin direkt weggesetzt. Ich fragte sie hinterher,
       warum, und Maria sagte: „Die war bekloppt.“ Erst da fiel mir auf, dass ich
       diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen hatte.
       
       4 Jul 2017
       
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 (DIR) Frederic Valin
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