# taz.de -- Menschen mit geistiger Behinderung: Der Vorfall
       
       > Was tun, wenn ein behinderter Mensch einen Absence in der Öffentlichkeit
       > hat? Mancher Arzt hält Pfleger für Idioten und die Polizei ist oft
       > überfordert.
       
 (IMG) Bild: Jeder Vorschlag stößt auf dankbares Interesse, wenn er bedeutet, Aufmerksamkeit zu bekommen
       
       Es war ein kalter Frühwinternachmittag, alle langweilten sich in der
       Einrichtung. Man könnte doch etwas unternehmen, dachte ich, aber was macht
       man, wenn man etwas unternimmt? Man könnte zum Beispiel ins Kino gehen.
       
       Geistig Behinderte werden oft mit Kindern gleichgesetzt, um ihre
       Fähigkeiten zu beschreiben: Kalle wäre dann auf der Entwicklungsstufe eines
       Sechs- bis Achtjährigen. Jedes Geschenk, das er erhält, ist für ihn nicht
       nur eine Zuwendung, sondern eine Aufgabe, an der er sich misst: Kann ich
       mich für das interessieren, was der andere als mein Ich empfindet?
       
       Neulich hat sein Vater all seine alten Modelleisenbahn-DVDs ausgemistet,
       und statt sie stillschweigend zu entsorgen, hat er sie Kalle geschenkt –
       und nun sitzt Kalle Abend für Abend drei Stunden vor dem Fernseher und
       sieht den Modelleisenbahnen dabei zu, wie sie durch eine
       Modelleisenbahnlandschaft tingeln. Er entwickelt dabei keineswegs die Lust,
       selbst Modelleisenbahnen aufzubauen oder auch nur zu besitzen; das Ansehen
       des Films ist für ihn wie eine Hausaufgabe, durch die er seine Liebe
       beweist.
       
       Und weiß Gott, Kalles Liebe ist groß. Jeder Vorschlag stößt auf dankbares
       Interesse, wenn er bedeutet, Aufmerksamkeit zu bekommen, und nicht allzu
       sehr nach Arbeit riecht. Kino ist Freizeit, also keine Arbeit, und es wird
       außer Kalle nur noch Stefan mitkommen. Obendrein gibt es ungesundes Essen.
       Es hat schon schlechtere Tage gegeben.
       
       Ich bin noch nicht allzu lange da, ich kenne Kalles Störungsbild nur aus
       den Akten. Ich weiß, dass er Bluter ist, was während der Geburt
       undiagnostiziert blieb, und er nach einem Sturz in früher Kindheit eine
       Einblutung in den Frontallappen hatte, woraus eine multifokale Epilepsie
       entstand. Kalles Anfälle äußern sich nicht dadurch, dass er auf dem Boden
       liegt und zuckt; er rennt stattdessen unter lautem Geschrei unkontrolliert
       und blind durch die Gegend, wobei er so ungefähr jedes Hindernis andötzt,
       das sich in näherer Reichweite befindet. Und wenn dieses Hindernis eine
       Schrankwandkante ist, rennt er sich eben auch ein Loch ins Hirn.
       
       ## 14 verschiedene Präparate
       
       Kalle bekommt am Tag ungefähr 14 verschiedene Präparate: Antiepileptika,
       Antipsychotika, Gerinnungsfakoren, L-Thyroxin für die Schilddrüse, und ein
       Magenmedikament, damit ihn die ganzen Präparate nicht von innen zersetzen.
       Kalle werden in der Woche Substanzen im Wert meines Monatseinkommens in den
       Körper gepumpt. Und es hilft. Obwohl wahrscheinlich niemand sagen kann, wie
       die ganzen Medikamente miteinander reagieren und welche Auswirkungen das
       zeitigt, gilt er seit drei Jahren als anfallfrei.
       
       Allerdings: Kalle hat Absencen. Wenn er überfordert ist, klappen seine
       Augen nach oben und er ruft fortwährend, dass er nichts sehen kann. Bleibt
       er einige Zeit in diesem Zustand, steigert sich seine Verunsicherung und er
       beginnt wild herumzubrüllen; in dem Fall ist er kaum mehr ansprechbar. Kein
       Arzt kann uns sagen, was da in seinem Kopf vor sich geht, und selbst wenn
       er es wüsste: Würde uns das helfen, mit den Absencen umzugehen? Schwer zu
       sagen.
       
       Den Film über ist alles in Butter, Kalle muss viermal auf Toilette. Nach
       jedem Gang hängt er sich wieder an den Hahn und versucht, den
       Grundwasserspiegel Berlins um einen halben Meter runterzusaufen. Kalles
       enormer Durst ist möglicherweise Folge des Medikamentencocktails,
       Nebenwirkung der Psychopharmaka. Es ist aber auch denkbar, dass da seine
       Gier und Grenzenlosigkeit durchschlägt; Kalle kennt kein Maß. Wenn man ihn
       ließe, würde er sieben Schnitzel verdrücken, noch vor dem Frühstück.
       
       Wir sind auf dem Weg zum Bus, als Kalles Augen beginnen, nach oben zu
       klappen; als würde er versuchen, in seinen Schädel hineinzukucken. Er
       greift nach meiner Hand, seine ist riesengroß und warm, wie ein Kuhlfladen,
       denke ich, da beginnt Kalle zu rufen: „Ich seh dich nicht, ich seh dich
       nicht!“ Sofort bekommt seine Stimme etwas Aggressives, als würde er auf
       einer Demo stehen und eine Rede halten; eine, von der er nicht weiß, ob sie
       was taugt.
       
       ## Kalle will auf die Straße
       
       Ich beginne, laut vor mich hinzusprechen: wo wir sind, was wir gerade
       gemacht haben, wohin wir jetzt gehen und wie weit das noch ist, was wir
       danach machen und was es heute Abend zu essen geben wird. Das wiederhole
       ich möglichst oft. Zwischendrin stelle ich ihm einfache Fragen, aber Kalle
       antwortet nicht, er hat seine Augen fest geschlossen und langsam setzt die
       Nackenstarre ein. Inzwischen sagt Kalle nicht mehr, dass er mich nicht
       sehen kann, er schreit nur noch oder stößt Gurgellaute aus. Ich versuche,
       ihn in einen Hauseingang zu ziehen, damit er sich dort auf die Treppe
       setzen und entspannen kann, während er weiter abwechselnd brabbelt und
       brüllt. Kalle hat ein sagenhaft lautes Organ.
       
       Erste Passanten beginnen uns großräumig zu umgehen, während ich die Hand
       auf Kalles Schulter habe und versuche, meine Stimme nicht zu blechern
       klingen zu lassen. Noch drei Meter trennen Kalle von einer vierspurigen,
       vielbefahrenen Straße; genau da will er hin. Ich stelle mich ihm immer
       wieder in den Weg, er ist knapp 20 Zentimeter größer als ich und wiegt 40
       Kilo mehr, es ist ein Kampf wie Klitschko gegen Kentikian. Vielleicht
       sollte ich ihm einfach ein Bein stellen und hoffen, dass er nicht allzu
       ungünstig fällt – aber das bringe ich nicht über mich.
       
       Während ich Kalle abdränge wie ein BMW-Fahrer, fische ich in meiner
       Hosentasche nach dem Handy. Aber wen soll ich anrufen? Die Polizei? Vor
       Kurzem haben die im Wedding einem offensichtlich geistig Verwirrten die
       Hunde auf den Hals gehetzt, und einen nackten Durchgedrehten im
       Neptunbrunnen haben sie direkt erschossen. Kalle ist nicht aggressiv, aber
       er sieht beängstigend aus, wie er dasteht: ein alter keltischer Krieger,
       den Schlachtschrei auf den Lippen, in Hochwasserhose und vollgekleckerter
       Winterjacke. Die bringen es fertig und stecken ihn in eine Gummizelle.
       Oder, noch besser: Sie schießen ihm in den Oberschenkel; das Blut würde bis
       nach Leipzig hinunterfließen. Mindestens werden sie ihm den Arm auf den
       Rücken drehen, dass er jault vor Schmerz. Das geht schon mal nicht.
       
       ## Erst mal beruhigen
       
       Soll ich also vielleicht die Sanitäter rufen? Die dürfen Kalle ohne
       ärztliche Weisung nicht mitnehmen. Da muss dann schon ein Arzt seinen Blick
       drauf werfen, und das ist reines Glücksspiel. Ich habe schon einige Male
       die Erfahrung machen müssen, dass Ärzte bisweilen Betreuer für Idioten
       halten, denen man nicht zuzuhören braucht. Natürlich machen das nicht alle.
       Aber nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, im Notfall auf einen Arzt der
       selbstherrlichen Sorte zu stoßen, der es für eine ausgezeichnete Idee hält,
       Kalle in die Psychiatrie einzuweisen oder sonst was.
       
       Ich habe tatsächlich keine Ahnung, ich weiß nicht, ob diese Szenarien
       realistisch sind, ich weiß nur: Im Ernstfall verlasse ich mich lieber nicht
       auf Polizei und Notarzt. Stattdessen rufe ich auf Gruppe an, ich habe
       Glück, dass da gerade ein erfahrener Kollege Dienst tut. Der hat schon so
       viel erlebt, der weiß bestimmt irgendwas. Einmal hat ihm ein Bewohner bei
       „Hollyday on Ice“ während der Pause mitten auf die Zugangstreppe gekackt,
       und er hat das trotzdem hinbekommen, der wird mir sagen, was zu tun ist.
       
       Drei Minuten später zweifle ich weniger an mir selbst. Der Kollege hat
       gesagt, ich solle Kalle in eine Seitenstraße zerren, „und wenn es sein
       muss, packste ihn am Schopf“, er organisiere ein Auto, käme in zehn Minuten
       und hole uns ab.
       
       Nachdem ich Kalle in eine Ecke gesetzt habe, während er die ganze Zeit
       „Nein, nein!“ schreit und ich ihn ungefähr ein Dutzend Mal über den Film,
       das kommende Abendessen und unsere Abholung informiert habe, beruhigt er
       sich so weit, dass er das Kinn auf die Brust nehmen kann und sogar die
       Augen öffnet. Sein Blick ist zwar glasig, aber er fixiert mich. „Wo bin
       ich?“, frage ich, und er sieht mich an, als wäre ich ein Idiot. „Häh?“,
       antwortet er, ich frage noch mal: „Wo bin ich?“ Er zeigt auf meine
       Körpermitte und sagt: „Da natürlich!“, und ich denke: natürlich. Erst jetzt
       fällt mir ein, dass ich mal rauchen müsste.
       
       Als wir in der Einrichtung ankommen, lacht Kalle schon wieder. Der Film,
       erzählt er, habe ihm gut gefallen, das wolle er wieder machen, ins Kino
       gehen. Das sei lustig. Und gutes Essen gebe es da auch. Ich plündere den
       Schokoladenvorrat im Büro, und als Kalle zum dritten Mal erzählt, wie gut
       ihm das Kino gefallen habe, nicke ich. In ein paar Stunden werde ich
       verwundert feststellen, dass niemand während der zwanzigminütigen Krise
       seine Hilfe angeboten hat, dass auch keiner aus den Anliegerwohnungen die
       Polizei gerufen hat, dass niemand nach uns sehen kam. Ich werde darüber
       nicht unglücklich sein.
       
       22 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frederic Valin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz-Kümmern-Serie
 (DIR) Menschen mit Behinderung
 (DIR) Leben mit Behinderung
 (DIR) Leben mit Behinderung
 (DIR) taz-Kümmern-Serie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Betreuer über Ekel in der Pflege: Schleim, Haftcreme, Magensonde
       
       „Ich könnte das nicht“ ist der Satz, den Pflegende wieder und wieder hören.
       In der Praxis muss jeder mit seinem ganz persönlichen Ekel umgehen.
       
 (DIR) Menschen mit geistiger Behinderung: Was ist schon normal?
       
       Man muss vermittelt bekommen, behindert zu sein, um selbst zu wissen, dass
       man es ist. Ein Einblick in eine betreute Wohneinrichtung.
       
 (DIR) Betreuer über das Sterben in der Pflege: Ich jedenfalls hätte Angst bekommen
       
       Was tun, kurz vor dem Tod? Warum ist Sabrina fröhlich, während Peter jede
       Berührung als Zumutung empfindet? Ein Einblick in die Realität sozialer
       Arbeit.