# taz.de -- Neues Album von Kreidler: Akustischer Sichtbeton
       
       > Die Düsseldorfer Band Kreidler vertont mit ihrem neuen Album „European
       > Songs“ Werke des Künstlers und Filmemachers Heinz Emigholz.
       
 (IMG) Bild: Umtriebige rheinische Brutalisten: Kreidler
       
       „Alle Gewalttätigkeiten vergangener Jahrhunderte erscheinen wie neu
       erdacht. Versprochen ist versprochen: Hinter den Schwarzen Löchern des
       Universums lauern eschatologische Paradiese.“ Wie ein Orakelspruch stehen
       die Sätze des Künstlers und Filmemachers Heinz Emigholz vor den ersten
       Tönen von „European Song“.
       
       Das Zitat des Künstlers, der einen beachtlichen Teil des Œuvres der
       Düsseldorfer Band Kreidler verfilmte, stammt aus einer Serie von
       Notizheften, die Emigholz während der Siebziger in New York mit Skizzen und
       Kommentaren füllte. „Zeichnung No. 391 – Die Chinesische Landschaft“, der
       dieser Aphorismus zur Seite gestellt ist, zeigt eine groteske Szenerie, die
       Emigholz folgendermaßen kommentiert: „Aus den Öffnungen und Ritzen einer
       perfekten Küche wachsen bananenförmige Dildos – oder sind es Mondsicheln?
       Eine Frau putzt, kocht und spült sie ab, ein Kind hält ein Exemplar davon
       ratlos vor sich in der linken Hand und schaut ins Nichts. Eine
       Haushaltsrolle wartet auf ihren Einsatz. Auf den Holzdielen foltern
       Ureinwohner ihresgleichen mit Analdehnungen.“
       
       Es ist eine augenscheinlich absurde und doch enorm angespannte Position, in
       die das Bild seine Betrachter drängt. Eine erzwungene Verschränkung von
       Vertrautem und Fremdem: Einerseits steht die „perfekte“ Küche in ihrer
       Modellhaftigkeit stellvertretend für jede und folglich auch meine Küche,
       während die Absurdität dieser geradezu unmöglichen Situation befremdlich
       wirkt.
       
       ## Angst vor dem Fremden
       
       Die Spannung lässt sich partout nicht auflösen, denn das Format der
       Zeichnung kettet beide Konstellationen unablösbar aneinander und
       unterdrückt obendrein den instinktiven Drang nach Abstandnahme. Beklemmung,
       eine ans Pathologische grenzende Angst vor dem Fremden im Eigenen – das ist
       das Gefühl, das Emigholz mit schlichter Comic-Ästhetik zu vermitteln
       versuchte. Ein Gefühl, das Kreidler nun in Musik übersetzen.
       
       Die eschatologischen Paradiese, vom jüngeren Verlauf der Geschichte ihres
       paradiesischen Gehalts beraubt, ähneln zunehmend trostlosen
       Endzeitszenarien. Kreidler arbeiten sich an dem Soundtrack für ein Europa
       ab, das allenthalben von wiedererstarkenden Rassismen und Nationalismen
       geplagt wird. Nichts daran ist schön, weil die Frage nach dem Schönen, dem
       Wohlgefälligen weil zwecklosen, wie es noch Kant verstand, bis auf Weiteres
       vertagt ist.
       
       Dem Quartett geht es auf klanglicher Ebene mehr um Ethik als um Ästhetik.
       Darum, dieser befremdlichen Kälte, die einen aus den medialen Bilderwelten
       heraus anspringt und bis in die eigenen vier Wände verfolgt, ein
       akustisches Pendant zu bauen, sie in verdichteter Form hörbar und derart
       zum Gegenstand der Reflexion werden zu lassen. Das Album wird so zum
       Versuch einer Gegenwartsbestimmung, die notgedrungen düster, starr und
       klanglich kühl ausfallen muss.
       
       ## Architektonische Qualität
       
       Ethik statt Ästhetik, das war zuletzt auch Leitspruch der architektonischen
       Brutalisten, die im England der fünfziger Jahre damit begannen, Wohn- und
       Geschäftshäuser aus nacktem Stahl und Beton zu fertigen. Die Referenz
       passt, nicht nur, weil einen Teil des Plattencovers von Kreidler eine
       Sichtbetonfassade ziert, sondern auch, weil ihrem Klangkosmos eine
       architektonische Qualität innewohnt, die seit dem 2009 erschienenen Album
       „Mosaik 2014“ immer deutlicher zutage tritt.
       
       Der Architekturtheoretiker Reyner Banham bezog sich nicht auf die Musik,
       als er schrieb: „To construct moving relationships out of brute materials.“
       Aber eben darum geht es: Eine Klangarchitektur zu schaffen, die das
       Rohmaterial – allen voran Thomas Kleins unerbittlich maschinelles
       Schlagzeugspiel – mobilisiert und dabei den Zeitgeist aufnimmt. „European
       Song“ ist akustischer Sichtbeton. Und dabei doch nicht ungelenk oder
       inhuman.
       
       Es steckt Bewegung in diesem störrisch hämmernden Ungetüm, ein Verlangen
       nach Ausbruch: Dieses augenblickliche und unkontrollierte Aufflackern der
       Gitarre in „Coulées“ und der gedämpfte und nach Luft ringende Aufschrei des
       Stimmfragments in der Variation des ewigen Nietzsche-Themas „No God“. Und
       wo Bewegung ist, da ist immer auch Aufbruch.
       
       9 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Henschel
       
       ## TAGS
       
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