# taz.de -- NRW-Innenminister Ralf Jäger: Die Belastung
       
       > Viele Skandale fallen in seine Amtszeit, zum Beispiel die Kölner
       > Silvesternacht. Ralf Jäger befindet sich in der Defensive und setzt
       > dennoch auf Angriff.
       
 (IMG) Bild: Reaktionsschnell und nassforsch – Ralf Jäger in Erwartung seines Auftritts vor dem Amri-Untersuchungsausschuss Ende März im Düsseldorfer Landtag
       
       Düsseldorf/Aachen taz | Ralf Jäger sitzt an einem kleinen Tisch im Raum
       E3A02 des Düsseldorfer Landtags, einem runden, holzverkleideten Saal. Durch
       die große Fensterfront sieht man die Kniebrücke über den Rhein. An diesem
       Mittwoch, der letzte im März, tagt hier seit 10 Uhr der
       Amri-Untersuchungsausschuss. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen
       sollte eigentlich am Mittag um eins mit seiner Aussage beginnen. Jetzt ist
       es zehn nach fünf.
       
       Jäger, 56 Jahre alt, Sozialdemokrat, drahtige Figur, rotblonder
       Bürstenhaarschnitt, spricht zu Beginn fast eine halbe Stunde am Stück,
       sagt: „Ich bedauere zutiefst, dass es uns nicht gelungen ist, Anis Amri
       außer Gefecht zu setzen.“ Und erklärt, warum das rechtsstaatlich nicht
       möglich gewesen sei. Jäger hat das alles vielfach ausgeführt, er kennt den
       Fall bis ins Detail. Doch vor ihm liegt ein Zettel. Jäger liest ab.
       
       Am 19. Dezember 2016 hat der Tunesier Anis Amri mit einem Lastwagen auf dem
       Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche zwölf Menschen ermordet.
       Amri war als Flüchtling im nordrhein-westfälischen Kleve gemeldet, sein
       Asylantrag war abgelehnt worden, abgeschoben wurde er aber nicht. Dabei
       hatte ihn die Polizei in NRW als „islamistischen Gefährder“ eingestuft.
       
       Haben die Behörden versagt? Wer ist verantwortlich? Diese Fragen wollen die
       Abgeordneten klären. Die Opposition greift den Innenminister an.
       CDU-Landeschef Armin Laschet, der nach der Landtagswahl am kommenden
       Sonntag Ministerpräsident werden will, nennt Jäger ein „Sicherheitsrisiko“.
       Auch FDP und Piraten fordern seinen Rücktritt. Nur noch 24 Prozent der
       Bevölkerung sind mit Jägers Arbeit zufrieden.
       
       ## Er wollte den Rockern „die Kutten ausziehen“
       
       Nach der letzten Landtagswahl galt der Innenminister als der starke Mann im
       rot-grünen Kabinett, sogar bundesweit fiel er auf. Anders als viele seiner
       Kollegen ist Jäger, der aus einem Duisburger Arbeiterviertel stammt, kein
       Jurist. Glaubhaft gab er den Innenminister, der durchgreift, der aber das
       Maß nicht verliert. Jäger drohte, den Rockern „die Kutten auszuziehen“. Er
       ging gegen rechtsextreme Kameradschaften vor. Das kam an. Doch daran denkt
       heute kaum einer mehr. Jäger ist zur Belastung für die Regierung geworden.
       Wäre die Bindung an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nicht so eng, hätte
       diese ihn wohl längst entlassen.
       
       Als Jäger in seinem Skiurlaub in Österreich von dem Lkw-Anschlag in Berlin
       und wenig später von dem Tatverdächtigen erfährt, ist ihm vermutlich
       schnell klar, dass es für ihn jetzt ums Ganze geht. In seine bald
       siebenjährige Amtszeit fallen viele Skandale, so viele wie wohl bei keinem
       anderen Innenminister. Mai 2012: Bei einer Salafisten-Demo werden zwei
       Polizisten durch Messerstiche schwer verletzt. September 2014: Mitarbeiter
       des Sicherheitsdiensts misshandeln Flüchtlinge in einer Landesunterkunft.
       
       Oktober 2014: Die Polizei unterschätzt eine Demonstration der HoGeSa, der
       „Hooligans gegen Salafisten“, in Köln, die in einer Straßenschlacht mit den
       Beamten endet. Dezember 2015: In der Silvesternacht werden Frauen am Kölner
       Hauptbahnhof massenhaft Opfer sexualisierter Gewalt. Dann Anis Amri. Und
       zuletzt flog auf, dass Polizeigewerkschafter Rainer Wendt seit vielen
       Jahren vom Land als Hauptkommissar bezahlt wird, ohne dafür zu arbeiten.
       
       ## Der „Jäger 90“ des Düsseldorfer Landtages
       
       Nach dem Berliner Anschlag bricht Jäger seinen Skiurlaub ab. In einer
       Pressekonferenz stellt er sich vor die Fernsehkameras und betont, wie wenig
       Zeit Amri in NRW verbracht habe. Soll wohl heißen: Eigentlich sind die
       Behörden in Berlin zuständig, wo sich der Tunesier vor allem aufhielt.
       Jäger ist in der Defensive, doch selbst da setzt er auf Attacke. Als er
       einfacher Landtagsabgeordneter war und die SPD in der Opposition, hat ihm
       das den Spitznamen „Jäger 90“ eingebracht. Jäger, der Angreifer – direkt,
       reaktionsschnell, nassforsch.
       
       Mitte April, Jäger sitzt in seinem Dienstwagen, der ihn von Duisburg nach
       Aachen bringen soll, gerade beendet er eine Telefonkonferenz. Ralf Jäger
       hat sein ganzes Leben in Duisburg verbracht. Aufgewachsen ist er im
       Arbeiterviertel Meiderich. Sein Vater starb früh, manchmal musste der Sohn
       in der Kneipe seiner Mutter den Stahlarbeitern das Bier zapfen. „Ich habe
       da eine Menge gelernt“, plaudert Jäger. Auch, dass er der Erste in der
       Familie war mit Abitur.
       
       Aus kleinen Verhältnissen, bodenständig und gradlinig, aufgestiegen durch
       die sozialdemokratische Bildungspolitik. Das ist ein Bild, das Ralf Jäger
       von sich kultiviert. Er absolviert eine Ausbildung zum Groß- und
       Außenhandelskaufmann, arbeitet als Gesundheitsreferent bei der Techniker
       Krankenkasse. Später beginnt er ein berufsbegleitendes Pädagogikstudium.
       
       ## Vom Duisburger Ortsverein in die Regierung
       
       Mit zwanzig Jahren tritt Jäger in die SPD ein. Es folgen
       kommunalpolitisches Engagement, Stadtratsposten in Duisburg, Vorsitzender
       des Ortsvereins, Landtagsmandat. Ralf Jäger wird stellvertretender Chef der
       Landtagsfraktion und Vorsitzender der Duisburger Sozialdemokraten – und
       damit ein Machtfaktor im SPD-Landesverband. 2010 bildet Hannelore Kraft
       eine rot-grüne Minderheitsregierung und beruft Ralf Jäger zum Minister für
       Inneres und Kommunales.
       
       Kaum im Amt, kommen bei einer Massenpanik während der Loveparade in
       Duisburg 21 Menschen ums Leben, über 500 werden zum Teil schwer verletzt.
       Der neue Innenminister verspricht Aufklärung, greift Stadt und Veranstalter
       an und stellt sich vor die Polizei. Er reagiert schnell. Wie immer.
       
       Dabei sagt er mitunter Dinge, die sich schwer wieder einfangen lassen. Die
       Behörden seien im Fall Amri „an die Grenze des rechtsstaatlich Möglichen“
       gegangen. Das ist so ein Satz. Jäger hat ihn nach einer Sitzung des
       Innenausschusses in die Kameras gesagt. Dass das nicht zu halten ist, meint
       nicht nur die Opposition.
       
       ## „Das war ein Fehler“
       
       Auf der Fahrt nach Aachen hat sich Ralf Jäger auf der Rückbank inzwischen
       eine Krawatte umgebunden, jetzt schält er sich eine Banane, eine zweite
       liegt neben ihm auf der Ablage.
       
       Herr Jäger, gibt es Sätze, die Sie nicht noch einmal sagen würden? Jäger
       denkt kurz nach, dann spricht er die HoGeSa-Demo im Oktober 2014 in Köln
       an. „Ich kannte die Bilder vom umgekippten Polizei-Bulli nicht. Und hab
       dann im Morgenmagazin gesagt: Guter Einsatz. Das war ein Fehler, ganz egal
       wie gut der Einsatz polizeitaktisch auch gewesen sein mag. Das kriegt man
       nicht zusammen.“
       
       Und dass die Behörden im Fall Amri an die Grenze des rechtsstaatlich
       Möglichen gegangen seien – würden Sie das noch einmal in die Welt setzen?
       „Ja“, antwortet Jäger prompt. „Und zwar in dem Sinne, dass rechtsstaatlich
       heißt: nach Recht, Gesetz und Rechtsprechung.“ Ursprünglich hatten Sie es
       anders gesagt. Das ist eine Relativierung. „Das ist eine Klarstellung“,
       antwortet er knapp. Ralf Jäger kann locker und zugewandt reden, aber geht
       es um Politik, sagt er nur Sätze, die man von ihm schon kennt.
       
       ## Kritik perlt an Jäger ab
       
       Im Düsseldorfer Landtag befragen die Mitglieder des
       Untersuchungsausschusses den Minister an jenem Märztag bis in den Abend
       hinein, auf der Kniebrücke haben die Autofahrer längst das Licht
       eingeschaltet. Warum wurde Amri nicht abgeschoben? Jäger: Tunesien stellte
       keine Passersatzpapiere aus, verschleppte das Verfahren.
       
       Warum wurde der Tunesier nicht in Abschiebehaft genommen, wie es
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière rechtlich für möglich hält? Jäger:
       Weil das nach gängiger Rechtsprechung in der Praxis unmöglich sei, auch
       wenn der Kollege im Bund das anders sieht. Warum wurde der Paragraf 58a des
       Aufenthaltsgesetzes nicht angewandt, um Amri doch aus dem Verkehr zu
       nehmen? Jäger: Die rechtlichen Hürden waren zu hoch.
       
       So geht es Runde um Runde. Zweifel, die die Abgeordneten vorbringen, perlen
       an Jäger ab. Bleibt einer hartnäckig, sagt Jäger Halbsätze: „Ich habe es
       schon mehrfach ausgeführt . . .“ Oder: „Obwohl wir schon mehrfach darüber
       gesprochen haben . . .“ – „Der behandelt uns wie kleine, unwissende Jungs“,
       knurrt einer der Abgeordneten, als er den Raum verlässt.
       
       ## Er hat auch Positives bewirkt
       
       Jäger, das wird in diesen Zeiten oft vergessen, hat in seiner Amtszeit auch
       Positives bewirkt. Überschuldete Städte wurden unterstützt, manche, wie
       Marl oder Minden, sind inzwischen schuldenfrei. Es war lange nicht mehr so
       viel Polizei in NRW auf der Straße wie heute. Und im Bereich der
       Salafismus-Prävention hat NRW ein Programm auf den Weg gebracht. Es heißt
       „Wegweiser“ und soll Jugendliche und junge Erwachsene vor Radikalisierung
       schützen.
       
       Jäger ist inzwischen in Aachen angekommen. Er will hier den dreizehnten
       Standort von „Wegweiser“ eröffnen. In den kommenden Jahren sollen es
       insgesamt 25 werden. Der Minister steht am Rednerpult, spricht von
       religiöser Toleranz, betont, dass Demokraten Extremismus ablehnen und wie
       wichtig Prävention für eine zeitgemäße Strategie gegen Terror ist. Laut
       Redemanuskript soll er am Ende sagen: „Wir alle hier teilen die
       Überzeugung, dass der Weg, den wir vor drei Jahren mit ‚Wegweiser‘
       eingeschlagen haben, der richtige ist. Lassen Sie ihn uns gemeinsam
       weitergehen.“ Doch das lässt Jäger weg.
       
       Dass er den vierzehnten „Wegweiser“ noch als Innenminister eröffnen wird,
       gilt als unwahrscheinlich.
       
       10 May 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine am Orde
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Landtagswahl Nordrhein-Westfalen
 (DIR) NRW-SPD
 (DIR) Ralf Jäger
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Landtagswahl Nordrhein-Westfalen
 (DIR) Landtagswahl Nordrhein-Westfalen
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahlen
 (DIR) Sexuelle Übergriffe
 (DIR) Rainer Wendt
 (DIR) Nordrhein-Westfalen
 (DIR) Köln
 (DIR) Köln
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hannelore Krafts NRW-Wahlkampf: Nah bei den Leuten
       
       In der westfälischen Provinz pflegt die Ministerpräsidentin ihr Image als
       Kümmerin. Ob das aber reicht? Sie scheint selbst zu zweifeln.
       
 (DIR) CDU, Grüne und FDP vor der NRW-Wahl: Sicher ist nichts, Distanzierung ist alles
       
       Die CDU hofft auf die Wähler in der Provinz. Die Grünen besinnen sich auf
       die linksliberale Kernklientel. Die FDP will in den Bundestag.
       
 (DIR) Kommentar Wahl in NRW: Riecht nach Angst
       
       Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in NRW, hat der Linken nicht zum
       ersten Mal eine klare Absage erteilt. Diesmal wirkt sie aber seltsam.
       
 (DIR) Untersuchung zur Kölner Silvesternacht: Bericht offenbart Behördenversagen
       
       Der Untersuchungsausschuss des Landtags in NRW präsentiert einen
       Abschlussbericht zur Kölner Silvesternacht. Die CDU wirft Rot-Grün
       Trickserei vor.
       
 (DIR) Polizeigewerkschafter Rainer Wendt: Gut besoldet
       
       Er wurde jahrelang von Nordrhein-Westfalen als Polizist bezahlt, arbeitete
       aber gar nicht als solcher. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft
       steht nun in der Kritik.
       
 (DIR) SPD-Parteitag in Nordrhein-Westfalen: Unangefochtene Kraft
       
       Die NRW-SPD geht optimistisch in den Wahlkampf. Ministerpräsidentin Kraft
       setzt auf den Schulz-Effekt und grenzt sich von den Grünen ab.
       
 (DIR) Umgang mit Übergriffen in Köln: Verharmlosung angeordnet?
       
       Die Landespolizeibehörde soll darauf gedrungen haben, die Übergriffe der
       Silvesternacht abzuschwächen. Das Innenministerium bestreitet das.
       
 (DIR) Diskussion über Polizeiversagen in NRW: Wortlos die Wache verlassen
       
       NRW-Innenminister Ralf Jäger übt heftige Kritik an der Polizei. Die habe
       die Lage falsch eingeschätzt und angebotene Hilfe abgelehnt.