# taz.de -- Internetzensur: Der virtuelle Gegenputsch
       
       > Die türkische Regierung nutzt den Ausnahmezustand nicht nur zur Zensur,
       > sondern gezielt zur Verfolgung von Oppositionellen im Netz.
       
 (IMG) Bild: Meinungsfreiheit? Gefällt der türkischen Regierung nicht!
       
       Zehntausende arbeitslose Beamt*innen auf der Straße, Hunderte von Vereinen,
       Bildungseinrichtungen und Medienbüros geschlossen, über hundert
       Journalist*innen hinter Gittern: So sieht die Bilanz der türkischen
       Regierung nach dem vereitelten Putschversuch am 15. Juli 2016 aus. Was die
       Meinungsfreiheit im Internet betrifft, richten sich die rechtlichen
       Neuregelungen und unrechtmäßigen Beschränkungen gegen die Opposition, und
       nicht gegen die Putschisten.
       
       Um ehrlich zu sein: Auch vor dem Putsch stand es nicht gut um die
       Meinungsfreiheit. Trotz der zahlreichen Proteste von Jurist*innen und
       Aktivist*innen wurde das Internet in der Türkei fortwährend blockiert. Mit
       dem „Obszönitätsartikel“ des 2007 verabschiedeten Internetgesetzes wurden
       nicht nur Erotikseiten, sondern auch Seiten zu LGBT-Rechten aus dem
       Internetverkehr gezogen. Mit dem sogenannten „Familienfilter“ kamen die
       Webseiten von oppositionellen Vereinen auf die schwarze Liste.
       
       2014, als die Ermittlungen zu den Korruptionsvorwürfen die Regierung und
       die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğans erreichten, wurde
       das bestehende Gesetz kurzerhand durch den Zusatz „Angriff auf
       Persönlichkeitsrechte“ erweitert: eine neue Möglichkeit der Zensur, nicht
       nur für Politiker, sondern auch für regierungsnahe Unternehmer.
       
       Im Jahr 2015 folgte die Schließung von vielen kurdischsprachigen
       Nachrichtenseiten. Als klar wurde, dass die Verhandlungen mit der
       kurdischen Bewegung auf Eis gelegt werden, befand man sie als Gefahr für
       die „Nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung“.
       
       ## Ein Schlag gegen die Opposition
       
       Eins sollte man hier jedoch unterstreichen: Die Internetzensur, wie sie die
       Jahre zuvor stattfand, ist nichts im Vergleich zu den Restriktionen, die
       nach dem Umsturzversuch ein Vielfaches an Fahrt aufgenommen haben. Mit den
       Notstandsdekreten, die ohne Parlamentszustimmung und juristische
       Überprüfung erlassen werden, schießen die Vorkehrungen gegen einen erneuten
       Putschversuch über ihr Ziel hinaus. Die Restriktionen richten sich als
       Gegenschlag eines autoritär geführten Regimes gegen alle Oppositionelle im
       Land.
       
       Auf Grundlage des einen Monat nach dem Putschversuch veröffentlichten
       Notstandsdekrets Nummer 670 sind Informationen über alle verdächtigen
       Mitarbeiter*innen im öffentlichen und privaten Sektor verwendbar. Der
       Regierung zufolge sind alle Unternehmen, die dem Netzwerk der religiösen
       Gülen-Bewegung nahestehen, von vornherein schuldig. Diesem wird
       vorgeworfen, für den Putschversuch verantwortlich zu sein.
       
       Ein großer Teil der Journalist*innen, die sich im Gefängnis befinden,
       arbeiteten für Zeitungen, die der Gülen-Bewegung nahestanden. Genau wie ein
       Teil der entlassenen Beamten, die Konten bei Gülen-nahen Banken besaßen.
       Und wie ein Teil der Verdächtigen, die ein spezielles Messenger-Programm
       benutzten, das – welch spektakuläre Erkenntnis – von den Putschisten
       verwendet worden war.
       
       Anhand solcher Kriterien finden sich nun in den Untersuchungsakten die
       Namen von 105.000 Verdächtigen – diejenigen, die in U-Haft kamen und wieder
       in ihren Beruf zurückkehren konnten, nicht mit gerechnet. Aktuell befinden
       sich 42.000 Menschen hinter Gittern.
       
       ## Verdächtig wegen Tweets
       
       Während der Ausnahmezustand verlängert wird, werden die Mittel zur
       Einschränkung von Grundrechten und -freiheiten immer drastischer. Mit der
       Verhängung des Notstandsdekrets Nummer 680 sechs Monate nach dem Putsch
       erhielten Polizeikräfte die Erlaubnis, im Zusammenhang mit Cybercrime das
       Internetverhalten aller Bürger*innen zu durchleuchten, und sogar Daten von
       Internetanbietern anzufordern – auch ohne gerichtliche Genehmigung.
       
       Soweit aus der Presse bekannt, sind 62.000 Personen aufgrund ihrer
       Äußerungen in den sozialen Medien verdächtig und werden beobachtet, 17.000
       sind polizeilich bekannt, 3.000 wurden bereits in Untersuchungshaft
       vernommen und 1.500 sind in Haft.
       
       Unter den Festgenommenen befindet sich auch der renommierte
       Investigativjournalist Ahmet Şık, der in seiner Vernehmung explizit nach
       elf Tweets befragt wurde. Şık wird, wie vielen anderen Regierungskritikern
       auch, „Beleidigung von Staatsoberhäuptern“ vorgeworfen.
       
       ## Zum Schweigen gebracht
       
       Mit dem Ausnahmezustand wird auch begründet, dass die Inhaftierten nur noch
       begrenzt Familie und Freunde während der Haft empfangen können. Um Platz
       für neue Insassen zu schaffen, wurden zuvor 38.000 Gefangene mit leichten
       Straftaten entlassen; in naher Zukunft werden weitere Gefängnisse
       hochgezogen.
       
       Oppositionelle bringt die Regierung aber nicht nur zum Schweigen, indem sie
       sie hinter Gitter bringt, sondern auch durch den Versuch, sie im Internet
       und in den sozialen Medien einzuschränken. Nach den Korruptionsvorwürfen im
       Jahr [1][2014 sperrten Erdoğan und seine Regierung den Zugang zu Twitter
       für türkische Nutzer].
       
       [2][Seitdem führt das Unternehmen Twitter die Zensurbestrebungen der
       Regierung durch.] Bereits verifizierte Accounts von Journalist*innen und
       Medienunternehmen wurden auf Geheiß der Regierung ebenfalls zensiert. Per
       Notstandsdekret sind [3][Hunderte von Nachrichten-Webseiten und Accounts in
       sozialen Medien zensiert].
       
       ## Zensur im Ausnahmezustand
       
       Auch wenn die Verhaftungen von kurdischen Oppositionellen und die
       Einschränkungen des Nachrichtenflusses von kurdischen Medien nicht viel mit
       dem Umsturzversuch zu tun haben, zeigen doch zu gut, wie die Regierung die
       Gesetzmäßigkeiten des Ausnahmezustands benutzt und beherrscht. Durch das
       Notstandsdekret 671 hat die Regierung nun mit dem Vorwand, dass „die
       nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung“ gestört werde, eine
       direkte Möglichkeit, auf Internet-Provider Einfluss zu nehmen.
       
       Ende Oktober 2016, als die Bürgermeister*innen von Diyarbakır Gültan
       Kışanak und Fırat Anlı (beide HDP) wegen Terrorvorwürfen ihres Amtes
       enthoben wurden, wurde den Städten, in denen die oppositionelle HDP als
       politischer Vertreter der kurdischen Bewegung mit deutlicher Mehrheit
       gewählt wurde, [4][fünf Tage lang der Zugang zum Internet gesperrt].
       
       Anfang November, als die beiden Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin
       Demirtaş und Figen Yüksekdağ und elf weitere Abgeordnete mitten in der
       Nacht verhaftet wurden, konnten die Internetnutzer nicht mehr auf Twitter,
       Facebook, YouTube und WhatsApp zugreifen. [5][Seitdem werden zudem
       bestimmte VPN-Dienste und auch der „Tor“-Browser per Regierungsdirektive an
       die Internetunternehmen blockiert.]
       
       ## Verbindung nach außen gekappt
       
       Mit dem autoritären Durchgreifen der Regierung wird der Druck innerhalb des
       Landes erhöht, während gleichzeitig die Verbindung nach außen gekappt wird.
       Als die Hackergruppe Redhack das Email-Archiv des Energieministers und
       Schwiegersohns von Erdoğan, Berat Albayrak, veröffentlichte, blockierte der
       kurzerhand den Zugang zu Clouds wie Dropbox, Google Drive, One Drive und
       GitHub.
       
       Wenn heute regierungsnahe Medien eine „nationale Suchmaschine“ und eine
       „nationale soziale Plattform“ verkünden, lassen sie durchblicken, dass in
       Zukunft sogar Facebook, Twitter und Google in der Türkei Schwierigkeiten
       haben werden, Server zu finden. Damit wäre es ein Leichtes, die Überwachung
       besser zu gestalten. Die Türkei, die als EU-Beitrittskandidat vor kurzem
       noch bahnbrechende Reformen durchführte, spielt nun, was Internetfreiheit
       und seine Beschränkungen angeht, mit den Ländern İran, Russland und China
       in einer Liga.
       
       9 Feb 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://blog.twitter.com/2014/challenging-the-access-ban-in-turkey
 (DIR) [2] http://www.dailydot.com/layer8/twitter-censorship-journalists-turkey-coup/
 (DIR) [3] https://twitter.com/efekerem/lists/post-coup-censorship/members
 (DIR) [4] http://www.dailydot.com/layer8/turkey-cuts-kurdistan-internet/
 (DIR) [5] http://www.dailydot.com/layer8/turkey-block-tor-vpns-activists/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Efe Kerem Sözeri
       
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