# taz.de -- Vorwürfe gegen Journalistin Aslı Erdoğan: Tage ohne Anfang und Ende
       
       > Aslı Erdoğan erhält den diesjährigen Bruno-Kreisky-Menschenrechtspreis.
       > In Istanbul droht ihr lebenslange Haft. Was wird ihr vorgeworfen?
       
 (IMG) Bild: Worüber sie schrieb: Schaufenster in Cizre, das vom Militär unter Beschuss genommen wurde
       
       Offiziell lauten die Anklagepunkte: Volksverhetzung und Mitgliedschaft in
       sowie Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Aber, so sagte Aslı
       Erdoğan kurz nach [1][ihrer vorläufigen Freilassung am ersten Prozesstag,
       dem 29. Dezember 2016], im Grunde habe sie noch immer nicht wirklich
       verstanden, was man ihr genau vorwirft. Als „Beweise“ dienen der
       Staatsanwaltschaft in erster Linie ihre Texte.
       
       Das ist bei vielen in der Türkei inhaftierten Journalisten so. Der
       ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, hatte die
       Anklageschrift gegen ihn als „unautorisierte Anthologie meiner Artikel“
       beschrieben. Dündar war von November 2015 bis Februar 2016 inhaftiert.
       Inzwischen lebt er in Deutschland. Er wurde in Abwesenheit zu fünf Jahren
       Haft verurteilt.
       
       Dündar und Erdoğan sind zwei international bekannte Namen, die
       stellvertretend stehen für Hunderte Kollegen mit ähnlichem Schicksal. Mal
       wirft man ihnen Propaganda für die PKK oder Gülen vor (den die türkische
       Regierung für den Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich macht), mal
       ist es Beleidigung des Staatspräsidenten. Mal geht es um einen Artikel, mal
       um einen Tweet.
       
       ## Kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen
       
       Die Begründungen sind austauschbar. Es geht darum, kritische Stimmen zum
       Schweigen zu bringen. Die Texte von Aslı Erdoğan ließen Aktivisten von
       Anwälten überprüfen. Nichts an ihnen sei strafbar, urteilten diese
       übereinstimmend.
       
       Aslı Erdoğans Kolumnen sind düster-poetische literarische Kleinode.
       Zugleich sind es erschütternde Texte, die Schlaglichter werfen auf die Lage
       in der Türkei. Im Frühjahr und Sommer 2016 schrieb sie über die Situation
       in Diyarbakır, in den Bezirken Cizre und Sur, in denen die türkische Armee
       eine Ausgangssperre verhängt hatte. Die regierende AKP hatte den
       Friedensprozess mit der PKK aufgekündigt, die Gewalt eskalierte wieder.
       
       Die PKK verübte fast täglich tödliche Anschläge auf Soldaten und
       Polizisten, während das Militär Dörfer und Städte mit schweren Waffen unter
       Beschuss nahm, ganze Stadtbezirke in Schutt und Asche legte. Offiziell lief
       das unter dem Label „Antiterrorkampf“. Doch zwischen Zivilisten und
       PKK-Kämpfern machten die Soldaten keinen Unterschied.
       
       ## Aus den betroffenen Gebieten
       
       In einem Beitrag vom 8. Juli, der in Anspielung auf T. S. Eliots „Das wüste
       Land“ mit „April ist der grausamste Monat“ betitelt ist, reiht Aslı Erdoğan
       Beispiele von Menschen aus den betroffenen Gebieten aneinander. „24 von 44
       evakuierten Zivilisten wurden verhaftet“, schreibt sie, „Augenzeugen
       berichten, dass viele gefoltert werden.“ Obwohl die kurdischen Kämpfer sich
       zurückzogen, habe die Armee ihre Angriffe intensiviert.
       
       Sie erzählt von dem neunzehnjährigen Emrullah Er, der seinen Großvater aus
       dessen Haus holen wollte. Dabei geriet er unter Beschuss. „Wir schießen
       nicht auf weiße Flaggen, haben sie gesagt. Aber sie taten es. Sie nahmen
       ihn fest, als er verletzt war.“ Sie schreibt von einem Jungen, der von
       Soldaten zu Tode gefoltert wurde, und von Menschen, die einfach spurlos
       verschwanden.
       
       „Ein weiterer Tag ohne Anfang und ohne Ende“, schreibt sie in einer anderen
       Kolumne mit dem Titel „Chroniken des heutigen Faschismus“. Ende März: „Ich
       zitiere weiter: aus den Nachrichten, von Augenzeugen, offiziellen
       Statements.“ In Sur seien 14 Kinder verhaftet worden. Zeugen sprechen von
       Menschen, die lebendig verbrannt wurden, von zerfetzten Leichen in
       Folterkellern, darunter Kinder.
       
       ## Verbrechen der Armee
       
       „Sie gaben mir einen Sack voller Knochen. Das ist dein Mann, sagten sie“,
       zitiert Aslı Erdoğan eine Frau aus Cizre. Andere sprechen von Hunden und
       Katzen, an Bäumen aufgehängt, und von sexistischen Sprüchen, die an Wände
       geschrieben sind. Viele der Zitate sind kaum zu ertragen, sind Dokumente
       der Verbrechen der Armee.
       
       In einer weiteren Kolumne thematisiert sie das Schweigen. „Wir haben so
       viele Worte, aber keine Stimme, die wir erheben können“, sagt Aslı Erdoğan.
       „Es ist, als würde unsere Stimme uns nicht gehören.“ Sie beklagt „das
       furchtbare Gewicht der schweigenden Worte“. Und weil sie nicht schwieg,
       weil sie denen, die nicht gehört werden sollten, eine Stimme gab, weil sie
       als Journalistin ihren Job machte, wurde sie verhaftet. Denn die AKP und
       ihre Willkürjustiz sehen darin Propaganda für die PKK.
       
       12 Jan 2017
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /!5365949/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerrit Wustmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Aslı Erdoğan
 (DIR) Vorwürfe
 (DIR) Anklage
 (DIR) Psychedelic-Rock
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Schwerpunkt Can Dündar
 (DIR) Pressefreiheit in der Türkei
 (DIR) Aslı Erdoğan
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) PKK
 (DIR) Aslı Erdoğan
 (DIR) Aslı Erdoğan
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Türkische Band Baba Zula: „Die Welt ist dystopisch genug“
       
       Baba Zula aus Istanbul feiert 20-jähriges Bestehen. Bandgründer Murat Ertel
       über „No“-Kampagnen, Aslı Erdoğan und das Jubiläumsalbum „XX“.
       
 (DIR) Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Werte, die fehlen, werden zur Litanei
       
       Das Erste, was Kinder in der Türkei kennenlernen, ist Nationalismus. Du
       sollst siegen, mehr nicht! Das ist die Erwartung, die an einen gestellt
       wird.
       
 (DIR) Internetzensur in der Türkei: Gar nicht so unfrei
       
       Die türkische Regierung blockt das Webportal des Journalisten Can Dündar.
       Doch viele in der Türkei juckt das nicht besonders.
       
 (DIR) Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Schaut her, hierher!
       
       Ein Blick in die Geschichte zeigt: Es ist einfach, seine Menschlichkeit
       abzulegen, aber es ist es ebenso schwer, sie aufzugeben.
       
 (DIR) Kolumne Stimmen für Aslı Erdoğan: Von der Unlust, Märchen zu erzählen
       
       Unsere Autorin hört vor allem eine Frage oft: Was passiert eigentlich in
       deinem Land? Nach Erklärungen ist ihr schon lange nicht mehr zumute.
       
 (DIR) Verfassungsänderung in der Türkei: Präsidialsystem wäre „Sultanat“
       
       Der Chef der türkischen Anwaltskammer warnt mit drastischen Worten vor dem
       möglichen Systemwechsel. Er hält ihn für „Selbstmord“.
       
 (DIR) PKK-Prozess in Berlin: In den Kellern von Cizre
       
       Der HDP-Abgeordnete Faysal Sarıyıldız erhob in Berlin-Moabit schwere
       Vorwürfe gegen die türkische Regierung. Er ist Zeuge in einem PKK-Prozess.
       
 (DIR) Kommentar Prozess gegen Aslı Erdoğan: Gefährliche Wahrheit
       
       Sie schrieb über Menschenrechtsverletzungen und wird des Terrors
       beschuldigt. Der Prozess richtet sich gegen sie und gegen die
       Pressefreiheit.
       
 (DIR) Prozess gegen Aslı Erdoğan: Vorerst freigelassen
       
       Die Schriftstellerin und acht weitere Angeklagte haben für die prokurdische
       Zeitung „Özgür Gündem“ gearbeitet. Sie werden des Terrorismus beschuldigt.
       
 (DIR) Aslı Erdoğan in türkischer Haft: Die Wahrheit kann man nicht töten
       
       Aslı Erdoğan ist eine Ikone des Widerstands. Freunde und Kollegen führen
       hier ihre Kolumne aus der Zeitung „Özgür Gündem“ fort.