# taz.de -- Debatte Globale Gerechtigkeit: Wie schwer wiegt Verantwortung?
       
       > In der globalisierten Welt sind die Beziehungen zu dicht, um wegzugucken.
       > Jeder ist den Ärmsten der Welt etwas schuldig, deshalb müssen wir
       > handeln.
       
 (IMG) Bild: Es ist ein trauriges Paradox, dass Kinder – wie auch Erwachsene – in ressourcenreichen Ländern oft trotzdem arm sind
       
       Die internationale Gemeinschaft schuldet allen Menschen Schutz, die vor
       Krieg und politischer Verfolgung fliehen – unabhängig etwa von ihrem
       Geschlecht oder ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung. Die
       politische Interpretation dieses völkerrechtlich verbürgten Imperativs hat
       insbesondere seit dem Sommer des Jahres 2015 für aufgeregte Debatten und
       Zerwürfnisse in und zwischen den EU-Mitgliedstaaten gesorgt. Zunehmend
       intensiver wird seitdem auch erörtert, wie dem militärischen Mord an
       Syriens Zivilbevölkerung ein Ende bereitet werden kann.
       
       Unter dem Eindruck dieser Ereignisse kann eine andere grenzüberschreitende
       Verantwortung aus dem Blick geraten, die nicht täglich im Fokus der Medien
       steht und auch weniger einfach vermittelbar ist. Gemeint ist unsere
       Verantwortung gegenüber den Ärmsten dieser Welt, die in der Regel keine
       Chance haben, ihrer Lage durch Migration in Nachbarländer zu entkommen,
       geschweige denn die hohen Geldbeträge aufbringen können, um sich auf den
       gefährlichen Weg nach Europa zu begeben. Ich will mich hier mit dieser
       globalen Verantwortung befassen – und dafürhalten, dass sie viel schwerer
       wiegt, als es gewöhnlich angenommen wird.
       
       Obwohl im historischen Vergleich noch nie so viele Menschen wie heute vom
       gestiegenen Wohlstand und dem mit ihm einhergehenden technischen
       Fortschritt profitierten, bewegt sich die Zahl der in extremer Armut
       Lebenden weiterhin auf inakzeptablem Niveau. Noch immer ist jeder neunte
       Mensch unterernährt. Besonders Kinder sind betroffen, die dadurch in ihrer
       Entwicklung gehemmt werden.
       
       Extrem Armen mangelt es nicht nur an einem soliden Auskommen, sondern auch
       an den elementarsten und für uns selbstverständlichen Gütern: an sauberem
       Trinkwasser, Nahrung, medizinischer Grundversorgung, sanitären Anlagen und
       sicheren Behausungen; an elementarer Bildung und Einflussmöglichkeiten auf
       politische Entscheidungen, die sie ganz existenziell betreffen. Wie könnte
       man unsere Verantwortung diesen Menschen gegenüber auf den Begriff bringen
       und begründen?
       
       Das Nachdenken darüber kreiste in der akademischen Philosophie lange Zeit
       um ein Beispiel, das von Peter Singer ins Spiel gebracht wurde. Singer
       wartete mit dem Vorschlag auf, die infrage stehende moralische Relation
       analog zu derjenigen eines Passanten zu verstehen, der ein um Hilfe
       rufendes Kind in einem Teich erblickt. Alles andere als die Rettung des
       Kindes wäre ein gravierendes Vergehen – so viel ist unstrittig.
       
       Singers Provokation besteht darin, die Untätigkeit angesichts globaler
       Armut für moralisch äquivalent mit einer Untätigkeit dieses Passanten zu
       erklären. Demnach ist auch die Unterlassung von Hilfe im Angesicht extremer
       Armut eine schwerwiegende Verfehlung.
       
       Dieser Vergleich regt zum Nachdenken an. Zudem ist Singer, wie sich zeigen
       soll, darin zuzustimmen, dass Untätigkeit angesichts globaler Armut
       verwerflich ist. Dennoch überzeugt seine Begründung dieser These letztlich
       nicht, weil sich die beiden Fälle in wesentlichen Punkten unterscheiden.
       Leider lässt sich die Not der Ärmsten nicht schon durch wenige einfache
       Schritte beseitigen. Während es für die Rettung des Kindes zudem irrelevant
       ist, wie es in den Teich gelangte, spielen die komplexen
       Hintergrundbedingungen von globaler Armut sowohl für deren Fortdauer als
       auch für ihre Bekämpfung eine wichtige Rolle.
       
       Außerdem kommt dafür natürlich nicht nur eine Person, sondern eine Vielzahl
       von Akteuren in Betracht. Individuen sollten an in der Entwicklungshilfe
       aktive NGOs spenden, aber auch Druck auf andere Kollektivakteure wie
       Regierungen und Konzerne ausüben. Denn diese Organisationen verfügen über
       vielfältige und historisch einzigartige technische Möglichkeiten, extreme
       Armut nachhaltig einzudämmen.
       
       ## Beziehungen verpflichten
       
       Immerhin kann das Teichszenario gut veranschaulichen, dass der humanitäre
       Imperativ zur Hilfe in Not unabhängig davon gilt, welche Nationalität,
       Hautfarbe oder Religion potenzielle Helfer und Hilfebedürftige haben.
       Entscheidend ist aber, dass es etwas Unvollständiges und auch
       Unbefriedigendes hat, sich bei der Begründung von globaler Verantwortung
       nur auf diese allgemeinmenschliche Moral zu berufen.
       
       Bessergestelle sollten sich, anders gesagt, für die ärmsten Mitglieder der
       Weltgesellschaft nicht nur deshalb einsetzen, weil diese Menschen sind und
       weil sie deren Lage durch kollektive Anstrengungen verbessern können. Es
       tritt noch eine besondere Verantwortung hinzu, die aus einem
       weltumspannenden Geflecht von interpersonalen und strukturellen Beziehungen
       erwächst.
       
       Auch mit Menschen in fernen Ländern sind wir über den globalen Handel mit
       Rohstoffen und Waren und durch politische und ökologische Interdependenzen
       verbunden. Für Letztere ist der Klimawandel nur das eindeutigste Beispiel,
       weil es bekanntlich für die Erderwärmung keinen Unterschied macht, wo
       Treibhausgase emittiert werden.
       
       Die himmelschreiende Ungerechtigkeit besteht darin, dass es die Mittellosen
       sind, die schon jetzt von Hitze und Dürren, Stürmen und Überschwemmungen am
       stärksten betroffen sind, während die Bessergestellten überproportional zu
       deren Entstehung beitragen – und dies vermutlich noch so lange tun werden,
       wie materieller Wohlstand und die Höhe von Emissionen eng miteinander
       verknüpft sind.
       
       ## Viele arme Länder sind reich an Rohstoffen
       
       Man könnte versucht sein, die These der besonderen Beziehung zu den Ärmsten
       zumindest hinsichtlich des globalen Handels infrage zu stellen. Sind die
       Ärmsten dieser Welt nicht auch deshalb arm, so ließe sich einwenden, weil
       sie (noch) nicht am Austausch von Rohstoffen und Waren teilhaben? Denn
       diejenigen, die Rohstoffe abbauen, welche in den von uns konsumierten
       Produkten stecken, oder diejenigen, die Kleidung, Elektronik oder Möbel in
       den berüchtigten „Sweatshops“ herstellen, sind trotz der häufig
       menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen zumeist noch besser dran als die
       Mittellosen außerhalb dieser Produktionsketten.
       
       Dieser Einwand übersieht, dass Menschen, die nicht am Welthandel teilhaben,
       negativ von diesem betroffen sein können. Viele bettelarme Länder sind
       zugleich reich an weltweit gefragten Rohstoffen. Für dieses Paradoxon hat
       sich die Rede von einem „Ressourcenfluch“ etabliert, der seine
       zerstörerische Kraft durch das Zusammenspiel von mangelhaften politischen
       Institutionen und Rohstoffreichtum entfaltet.
       
       Durch den Verkauf von Rohstoffen können Gewaltherrscher ihre Macht
       konsolidieren, ohne sich um das Wohl ihrer Bevölkerungen zu scheren. In
       anderen Fällen führt der Kampf um Ressourcen zu langjährigen Bürgerkriegen.
       Die bittere Wahrheit ist jedoch, dass auch wir indirekt zur Exklusion und
       Unterdrückung der Ärmsten beitragen – weil wir Produkte aus Rohstoffen
       kaufen, die unter solchen Bedingungen abgebaut werden.
       
       ## Umbau von globalen Strukturen
       
       Der „Ressourcenfluch“ ist nur eines von mehreren Beispielen dafür, dass wir
       das Augenmerk auf das System internationaler Regelungen legen müssen, wenn
       wir unsere Verantwortung gegenüber extrem Armen richtig beschreiben und ihr
       entsprechend handeln wollen. Auch die ungenügende Regulierung
       internationaler Finanzströme und des Waffenhandels sowie die Beschaffenheit
       von Handelsabkommen verdeutlichen, dass es neben lokalen und regionalen
       auch globale Sozialstrukturen sind, die den Ärmsten dieser Welt den Zugang
       zu lebensnotwendigen Gütern versperren. Deshalb stellt es nicht nur ein
       Gebot der Humanität, sondern auch der Gerechtigkeit dar, dass wir die
       weltweit Ärmsten durch den Umbau von globalen Strukturen aus ihren Fesseln
       befreien müssen.
       
       Erst diese Begründung von globaler Verantwortung bringt ihr wirkliches
       Gewicht zum Vorschein. Sie gibt aber auch den Blick darauf frei, was
       Individual- und Kollektivakteure konkret tun sollten. Regierungen und
       Konzerne haben jeweils großen Einfluss auf Strukturen, die Armut
       reproduzieren, aber auch beseitigen können. Deshalb müssen wir sie – nicht
       zuletzt mithilfe von NGOs – kontinuierlich ermahnen, ihre Agenden und
       Satzungen im Dienste der Bekämpfung globaler Armut ganzheitlich zu
       reformieren.
       
       Die Auslagerung und Separierung von Verantwortung in Entwicklungshilfe- und
       CSR-Abteilungen [Corporate Social Responsibility; Anm. d. Red.] wird diesem
       Desiderat hingegen nicht gerecht und dient höchstens der Wahrung des
       schönen Scheins. Vielmehr sind traditionelle Handlungsfelder der
       Außenpolitik, aber auch die Finanz-, Agrar- und Energiepolitik mit Blick
       darauf, negative Auswirkungen auf Unbeteiligte zu vermeiden, zu überdenken
       und neu zu strukturieren. Nur so lässt sich das Skandalon der extremen
       Armut dauerhaft aus der Welt schaffen.
       
       22 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Valentin Beck
       
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