# taz.de -- Archäologie in Niedersachsen: Was dort begraben liegt
       
       > Die Republik Freies Wendland existierte 1980 für 33 Tage. Ein Forscher
       > will das Anti-Atom-Protestcamp bei Gorleben jetzt rekonstruieren.
       
 (IMG) Bild: Neben der Polizei rückte auch der Bundesgrenzschutz an: Räumung des Anti-AKW-Dorfes im Juni 1980
       
       Als Tausende Atomkraftgegner am 3. Mai 1980 die Tiefbohrstelle 1.004 im
       Wald hinter Gorleben besetzten und dort ein Hüttendorf errichteten, war
       Attila Dézsi noch nicht geboren. Jetzt aber will der junge Hamburger
       Archäologe die Republik Freies Wendland erforschen. Der 28-Jährige will
       rekonstruieren, wie das Dorf der Anti-AKW-Bewegung aufgebaut war und wie
       deren Alltag dort aussah. Die Universität Hamburg hat ihm dafür ein
       zweijähriges Promotionsstipendium bewilligt.
       
       Die Republik Freies Wendland bestand 33 Tage. 1977 hatte der damalige
       niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) Gorleben als
       Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ benannt.
       
       Ab 1979 ließ die Physikalisch-Technische Bundesanstalt Löcher bohren, um
       den Salzstock auf seine Eignung als Atommülllager zu untersuchen. Nach
       etlichen Demonstrationen und Protestaktionen riefen die Atomkraftgegner für
       den 3. Mai zu einer Besetzung der Bohrstelle auf.
       
       Mit dem bis dahin größten Polizeieinsatz in der Bundesrepublik Deutschland
       wurde das Hüttendorf am 4. Juni 1980 geräumt. „Das Dorf ist zwar
       Geschichte“, sagt der junge Archäologe heute, „in der Erinnerung der
       Antiatombewegung ist es aber noch lebendig.“ Bislang gibt es nur
       Zeitzeugenberichte, die die Existenz der Republik Freies Wendland
       dokumentieren. Wissenschaftliche Studien aber gibt es nicht.
       
       ## Buddeln im Jetzt
       
       Dézsi hat in Hamburg und Wien historische Archäologie studiert. 2011 nahm
       er an einer Ausgrabung im ehemaligen Konzentrationslager im
       Österreichischen Mauthausen teil – und entdeckte eine Neuausrichtung seines
       Faches, die im deutschsprachigen Raum bislang nur in Wien angeboten wird:
       „Zeitgeschichtliche Archäologie“. Anders als andere Archäologen buddeln die
       Forscher hier keine Jahrtausende alten Steine und Knochen aus, sondern
       rekonstruieren Orte der jüngeren Geschichte. Bislang befasst sich das junge
       Fach vor allem mit dem Zweiten Weltkrieg und der NS-Diktatur. Untersucht
       wurden etwa Überreste der Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager,
       Schlachtfelder, Bunker, Schützengräben und Orte von Erschießungen.
       
       Die Erfahrungen, die Dézsi als Grabungshelfer in den landwirtschaftlich
       genutzten Feldern um die Gedenkstätte Mauthausen machte, haben ihn
       beeindruckt. „Wir haben immer wieder Objekte gefunden, Kinderschuhe zum
       Beispiel“, sagt er. „Ich weiß nicht, ob es an den sinnlichen Eindrücken
       liegt, die man so gewinnt, oder daran, dass es sich um Alltagsgegenstände
       handelt, die einem vertraut sind, aber solche Funde lösen oft viel mehr
       aus, als es schriftliche Dokumente oder Bilder und Fotografien vermögen.“
       Diesen „Effekt“, wie er sagt, will er sich nun auch bei seinem Projekt im
       Wendland zunutze machen.
       
       In Großbritannien wird Zeitgenössische Archäologie schon seit Längerem
       betrieben. Ein Professor gräbt dort gemeinsam mit Obdachlosen deren
       Lagerstätten aus. Andere Projekte untersuchen Protestcamps aus der
       Friedens- und Umweltbewegung. Diese Forschungsarbeiten sind Dézsis
       Vorbilder.
       
       Dézsi hat bereits begonnen, Text-, Bild- und Tonquellen über die Republik
       Freies Wendland zu sichten und auszuwerten. Zeitungen und Rundfunk
       berichteten damals ausführlich über das Dorf, rund einhundert
       Journalistinnen und Journalisten verfolgten die Räumung vor Ort.
       Bürgerinitiativen und Umweltgruppen sammelten Augenzeugenberichte. Auch die
       taz dokumentierte im Juni 1980 mit einer 52 Seiten umfassenden Broschüre
       die Entstehung, den Verlauf und das Ende der Freien Republik. [1][Das
       Gorleben-Archiv,] das die Geschichte des Antiatomwiderstandes im Wendland
       dokumentiert, unterstützt Dézsi bei der Recherche.
       
       ## Fast unüberschaubares Gewirr von Hütten
       
       In der ersten Projektphase will Dézsi selbst Menschen befragen, die
       zeitweise oder die ganze Zeit in dem Hüttendorf lebten. An Wochentagen
       hielten sich dort ständig 300 bis 500 Besetzer auf, an den Wochenenden
       waren es erheblich mehr, während der Pfingstfeiertage kamen rund 5.000
       Leute. Es gab Kulturprogramme, etwa ein Jugend-Sinfonie-Orchester, bei dem
       der Dirigent auf einem umgestülpten Waschbottich stand, sowie Theater,
       Filme und Dias, Komiker, Clowns und Pantomimen. Der im vergangenen Jahr
       verstorbene Liedermacher Walter Mossmann trat auf. Auch der Bundeskongress
       der Jusos mit dem damaligen Bundesvorsitzenden Gerhard Schröder besuchte
       das Camp.
       
       „Wie ich an die Zeitzeugen heran komme, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht
       so genau“, sagt Dézsi und lacht verlegen. Wenn das Gorleben-Archiv nicht
       weiterhelfen kann, will er einen Aufruf starten. Die Interviewpartner
       sollen vom Alltagsleben der Besetzer erzählen und aus ihrer Erinnerung
       Skizzen des Camps zeichnen. Durch diese Informationen erhofft sich der
       Doktorand Rückschlüsse über den Aufbau und die Ausmaße des Dorfes auf der
       Bohrstelle 1.004. „Es gab zwar am Eingang einen Plan, auf dem die Bewohner
       eintragen konnten, wo sie bauen wollen, aber der war natürlich nicht sehr
       genau.“
       
       Wo etwa befand sich der grün-gelbe Schlagbaum, der die „Grenze“ zur
       Republik Freies Wendland markierte? Und wo das Holzhäuschen mit der
       Aufschrift „Einreise“, in dem sich Neuankömmlinge einen „Wenden-Pass“
       ausstellen lassen konnten, der neben Name, Geburtsdatum und Augenfarbe die
       vorgedruckten Angaben „Lebenseinstellung: positiv“ und „Denkfähigkeit: gut“
       enthielt.
       
       In das schon damals fast unüberschaubare Gewirr von Hütten will Dézsi im
       Nachhinein Struktur bringen. Nahezu alle Baustile waren vertreten: schicke
       Rundhäuser mit Dachterrassen, Häuser aus Holz, Stroh und Glasflaschen,
       Indianerzelte, Erdlöcher. Viele Häuser waren bunt beflaggt oder
       beschildert. Der Name „Fritz-Teufel-Haus“, benannt nach einem Westberliner
       Kommunarden, veranlasste den damaligen Lüneburger Regierungspräsidenten zu
       der Anschuldigung, die Republik Freies Wendland sei ein Refugium für
       Terroristen und Gewalttäter. Auch die beiden Türme und die Schiffschaukel –
       errichtet, um eine Räumung zu erschweren – gaben Medien Anlass zur
       Stimmungsmache. „Dort oben haben sie Wachs für die Bullen“, zitierte etwa
       die Bild einen erfundenen Dorfbewohner. Etwas abseits – im Wald, doch wo
       genau? – stand eine Batterie von Latrinen: Löcher mit darüber gelegten
       Holzbrettern die primitiveren, Holzgestelle mit Sitzbalken und Dach die
       komfortableren.
       
       ## Community-Archäologie
       
       Wenn die ungefähre Lage der Gebäude bestimmt ist, sollen im Sommer 2017 die
       Grabungen beginnen. „Allerdings will ich da natürlich nicht ganz alleine
       graben“, sagt Dézsi. Er will zusätzliche Forschungsgelder einholen, um
       Grabungshelfer engagieren zu können, in der Tradition der sogenannten
       Community-Archäologie. „Für gewöhnlich geschieht archäologische Forschung
       ohne Kontakt zur Außenwelt“, sagt er. „Aber ich habe bei anderen Projekten
       erlebt, dass es immer Freiwillige gibt, die ehrenamtlich mitarbeiten
       wollen, weil solche Grabungen faszinierend sind.“ So wolle er, sagt Dézsi,
       auch die Rolle der Archäologie erweitern.
       
       „Ich hoffe, Überreste etwa von Hütten, Gebrauchs- und
       Ausrüstungsgegenständen, Küchenutensilien und Fahnen zu finden“, sagt er.
       Zwar dürften Brandholz und abgebrochene Äste, zum Verfugen benutztes Moos,
       Erde und Zweige sowie das von Bauern anhängerweise gelieferte Stroh längst
       verrottet sein. Doch mit gespendetem Geld wurden auch Werkzeug, Teerpappe
       und Nägel gekauft. Dazu kamen alte Fenster, Draht und mitgebrachte Gummi-
       und Plastikplanen – das „Haus der Akrobaten“ bestand fast ausschließlich
       aus ausgedienten Glasfenstern- und –türen, das „Frauenhaus“ aus
       Glasflaschen.
       
       Das Freundschaftshaus wurde als einziges Gebäude nach Plan errichtet und
       mit vorher zurecht gesägten Brettern und Balken gebaut. Es hatte einen
       Durchmesser von fast dreißig Metern und bot Platz für rund 400 Menschen.
       Hamburger Architekturstudenten hatten Statik und Dachkonstruktion so
       berechnet, dass sich gleichzeitig mehr als hundert Leute auf dem Dach
       aufhalten konnten.
       
       Die Auswertung und Einordnung der Funde will der junge Wissenschaftler
       nicht alleine vornehmen: Anwohner und Zeitzeugen aus der Antiatombewegung
       sollen in den Forschungsprozess einbezogen werden, um Zwischenergebnisse
       und das weitere Vorgehen zu diskutieren und eigene Vorstellungen
       einzubringen. „Zum einen will ich die Funde konservieren, zugänglich machen
       und in bereits bestehende Dokumente einbetten“, sagt er. „Aber es geht auch
       darum, dass es womöglich noch mal zu einer Diskussion kommt.“ Die Frage
       nach einem Atommüllendlager ist bis heute nicht gelöst. Die Politik hat den
       Salzstock im Wendland bislang nicht ausgeschlossen. In Gorleben, sagt
       Deśzi, „ist die Geschichte noch nicht zu Ende“.
       
       16 Oct 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://gorleben-archiv.de/wordpress/
       
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 (DIR) Reimar Paul
       
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