# taz.de -- Dokumentarfilm über Lampedusa: Warten auf die geeignete Metapher
       
       > Gianfranco Rosi war für seinen Berlinale-Abräumer zwar zur richtigen Zeit
       > am richtigen Ort. Die drängenden Fragen beantwortet er trotzdem nicht.
       
 (IMG) Bild: Samuele Pucillo in „Seefeuer“
       
       Zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein – so lautet eine moderne
       Glücksformel, wie sie besonders in der Unterhaltungsindustrie angewendet
       wird. Die Formulierung ringt dem passiven Warten auf den unverhofften Segen
       ein Quäntchen Eigeninitiative ab: Man muss schon auch was dafür tun.
       
       Dem italienischen Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi gelang mit seinem Film
       „Fuocoammare“ das Kunststück, gleich in doppelter Hinsicht zur richtigen
       Zeit am richtigen Ort zu sein. Zum einen fand er mit der kleinen
       Mittelmeerinsel Lampedusa ein besonders bildhaftes Beispiel für das
       „Flüchtlingsdrama“, das sich an den Grenzen Europas abspielt. Und mit
       seiner geduldigen Beobachtung des Aufeinanderprallens von beschaulichem
       europäischem Alltag und tragischer afrikanischer Seenot traf er dann im
       Februar diesen Jahres exakt den Nerv der Zeit, als sein „Seefeuer“ im
       Wettbewerb der Berlinale präsentiert wurde.
       
       Vom Moment seiner Premiere an galt „Seefeuer“ als Hauptfavorit auf den
       Goldenen Bären, und die Jury erfüllte schließlich brav die allgemeinen
       Erwartungen. Selten war die Berlinale mit ihrem zwiespältigen Ruf, stets
       die in politischer Hinsicht zeitgeistigen Filme den künstlerisch
       avancierteren vorzuziehen, ausgesöhnter: „Seefeuer“ schien beides zu
       erfüllen, das Bedürfnis nach Aktualität und das nach einer filmischen Form,
       die den Zuschauer fordert.
       
       Für Dokumentarfilmer scheint Lampedusa der Ort der Stunde zu sein: Die
       winzige Insel vor der Küste Nordafrikas gehört zu Italien. Ihre Kleinheit
       und ihre Exterritorialität aber machen sie zum „Idealfall“ der Debatte,
       denn ohne dass man das schmutzige Wort „Schwemme“ benutzt, lässt sich das
       Bild allein durch Zahlen aufrufen. Rosi stellt zum Auftakt seines Films die
       Lage folgendermaßen vor: „Die Insel Lampedusa hat eine Fläche von 20
       Quadratkilometern. Sie liegt 70 Meilen vor der Küste Afrikas und 120 Meilen
       vor der Küste Siziliens. In den letzten 20 Jahren sind circa 400.000
       Migranten auf Lampedusa gelandet. Beim Versuch, den Kanal von Sizilien in
       Richtung Europa zu überqueren, starben schätzungsweise 15.000 Menschen.“
       
       Es dauert allerdings eine Viertelstunde, bevor man in „Seefeuer“ einen
       Flüchtling zu Gesicht bekommt. Denn Rosi, der tatsächlich selbst die Kamera
       führt, widmet anfangs seine Aufmerksamkeit ganz einem „Eingeborenen“ der
       Insel, dem elfjährigen Samuele Pucillo. Der tut das, was Jungs in seinem
       Alter und seiner Umgebung so machen: Er späht die Olivenbäume nach einem
       geeigneten Ast für eine Schleuder aus, bricht ihn ab und schnitzt ihn
       zurecht.
       
       ## Gesichter in Kakteen schnitzen
       
       Später sieht man ihn Gesichter in Kakteen schnitzen, die er dann gemeinsam
       mit einem Freund beschießt. Samuele ist Rosis Hauptprotagonist, obwohl man
       nicht wirklich weiß, warum. Nicht dass irgendwas besonders interessant an
       ihm wäre. Sein Vater ist Fischer, ihm selbst wird schon mal schlecht auf
       hoher See. In der Schule gilt er nicht unbedingt als der Hellste. Bei einem
       Arztbesuch später im Film offenbart er sich als originelle Persönlichkeit
       mit einem gewissen Hang zur Theatralik.
       
       Samuele füllt gewissermaßen die unscharfe Mitte des Films aus. Um ihn herum
       gruppieren sich ein paar Erwachsene, die in ihrer ausgewählten Begrenztheit
       auf ihre Weise die Kleinheit der Insel repräsentieren – schließlich weist
       Wikipedia die Einwohnerzahl Lampedusas mit gerade einmal 4.500 aus.
       
       Da gibt es die Großmutter des Jungen, die stets beim Verrichten von
       Küchenarbeiten gezeigt wird; es gibt den Vater auf seinem Boot; es gibt den
       Radiomoderator, der italienische Schlager spielt, deren Süßlichkeit einen
       harten Kontrast zum ständig verhangenen Himmel bildet; und es gibt einen
       Arzt, der fast ausschließlich in seinem dunklen Kabinett gefilmt wird, bei
       der Ultraschalluntersuchung einer mit Zwillingen schwangeren Frau etwa oder
       später am Computermonitor vor dem Bild einer hoffnungslos mit Flüchtenden
       überladenen Barke. Ihm kommt es zu, irgendwann jenen Satz zu sagen, den der
       Film als sein diskretes Etikett veranschlagt: „Jeder, der sich als Mensch
       betrachtet, muss diesen Menschen helfen.“
       
       Obwohl Rosi wie gesagt die ersten Flüchtlingsgesichter erst nach einer
       Viertelstunde ins Visier nimmt, hat er ihre Präsenz von Beginn an
       eingeführt: Über Nachtaufnahmen des Meers und sich drehender Funkanlagen
       hörte man da den Notruf eines Boots und seine Beantwortung aus Lampedusa:
       „How many people? Your position?“ – „Please!“ – „My friend, hello?“ Kurz
       darauf sieht man „Tante Maria“ in ihrer Küche beim Radiohören, wo eine
       Stimme von einem gesunkenen Boot mit über 250 Leuten und bereits 35
       gefundenen Leichen spricht. „Die armen Seelen“, seufzt Maria auf.
       
       ## Italiener als Individuen
       
       Es ist ein Kontrast, der aufstößt, auch wenn man als Zuschauer zunächst gar
       nicht entscheiden will, ob die Irritation eine produktive ist oder nicht:
       Den beschaulichen Italienern, die immer als Individuen gezeigt werden in
       ihren banalen und verständlichen Alltagsverstrickungen, setzt Rosi die
       Flüchtenden stets als Gruppe entgegen.
       
       Selbst da, wo er sie – endlich – auch mal selbst ihr Schicksal erzählen
       lässt. Das nämlich erfolgt in der Form eines gesungenen Gebets, bei dem ein
       Lead-Sänger in Wir-Form vom Bombenterror in Nigeria und den schrecklichen
       Gefängnissen Libyens erzählt, und von einem bestätigenden Hintergrundchor
       begleitet wird.
       
       Geradezu verliebt zu sein scheint Rosis Kamera in die eigenartige Schönheit
       von Szenen, die sich ergeben, wenn eine ganze Gruppe von Menschen zumal mit
       dunkler Hautfarbe sich in Wärmefolien kleidet: Die bunte, an Glühwürmchen
       erinnernde Reflexion im Dunkeln begleitet vom metallischen Rascheln in der
       Nacht erzeugt eine ästhetische Unwirklichkeit, die von der gezeigten Not
       völlig ablenkt.
       
       Nach und nach stellt sich heraus, dass Rosi bei aller geduldig-langsamen
       Beobachtung doch eine Dramaturgie mit Spannungsaufbau verfolgt: im Hin und
       Her zwischen Samuele und seinen Schießübungen, dem Arzt, der Oma und dem
       Radiomoderator werden die Bilder drastischer: Man sieht tödlich Erschöpfte,
       die von einem Boot gezogen werden, und schließlich auch Leiber, die in
       einem Schiffsrumpf nach der Rettung zurückbleiben. Und dann in langen
       Einstellungen die Gesichter von Frauen, fassungslos, versteinert vor Trauer
       und Belastung die einen, still weinend die anderen.
       
       Trotz dieser hochemotionalen Schlusssequenz ist „Seefeuer“ kein Film, vor
       dessen Wirkung man sich fürchten müsste. Zum einen liegt das an Samuele
       Pucillo, dessen jungenhafte Putzigkeit der Zuspitzung auf politische
       Grundsatzfragen im Wege steht. Zum anderen ist es aber auch Rosis Methode,
       die hier ihre Begrenztheit offenbart. Wer lange genug filmt, der wird auf
       eine geeignete Metapher stoßen, frei nach diesem Motto diagnostiziert der
       Arzt irgendwann bei Samuele ein „träges Auge“, das zum Sehen gezwungen
       werden muss, in dem man das „gute Auge“ auf Zeit verbindet. Doch ist das
       wirklich die Metapher zur Stunde? Dass Europa das Hingucken üben muss?
       
       ## Bloße Betrachtung als Selbstgefälligkeit
       
       Denn gerade in den viel gelobten Tugenden der „geduldigen Beobachtung“, der
       „Langsamkeit“ und „Zurückhaltung“ bildet „Seefeuer“ auch ein gutes Beispiel
       dafür, wie bloße Betrachtung in Selbstgefälligkeit umschlagen kann.
       
       Den drängenden Fragen im Hintergrund kommt Rosi mit seinem Film nicht
       unbedingt näher: Dass es mitnichten die Gefahren der See sind, die den
       Flüchtlingen zum Verhängnis werden, sondern eine Grenzschutzpolitik, die
       sehenden Auges diese Opfer in Kauf nimmt. Und dass über den Umgang mit
       Flüchtlingen nämlich nicht auf Lampedusa und schon gar nicht durch
       Lampedusaner entschieden wird, sondern an abstrakten Orten wie den
       Regierungen Europas, an denen sich leider keine Kamera aufstellen lässt.
       
       Was nicht bedeutet, dass man die Folgen nicht beschreiben, betrachten,
       diskutieren kann. Aber Samuele Pucillo kann dazu nur wenig beitragen.
       
       27 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
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