# taz.de -- Fotograf über Baile Funk in Brasilien: „Es herrscht eine kulturelle Apartheid“
       
       > Der Staat hat der rebellischen Favela-Kultur den Kampf angesagt – dennoch
       > existiert sie fort. Vincent Rosenblatt über Tanz, Polizei und Rassismus.
       
 (IMG) Bild: Rio. Rose.
       
       taz am.wochenende: Herr Rosenblatt, im Zuge der Vorbereitungen auf die
       Olympischen Spiele wurden in Rio de Janeiro im großen Stil Favelas
       „befriedet“. Die Militärpolizei hat sich zum Teil gewaltsam Zugang zu den
       Favelas verschafft und Kontrollposten installiert. Wie wirkt sich dies auf
       die lokalen Straßenpartys, die Bailes, aus? 
       
       Vincent Rosenblatt: Früher gab es in quasi jeder Favela Bailes. Heute sind
       diese zur Ausnahme geworden. In den vierzig „befriedeten“ Favelas haben die
       jeweiligen lokalen Kommandanten der Militärpolizei das Sagen. Sie
       entscheiden auch, ob ein Baile stattfindet oder nicht. Davor machte dies
       die lokale Polizei. Es gab eine Reihe administrativer Auflagen, die für
       eine Erlaubnis notwendig und teilweise unmöglich zu erfüllen waren. Ob ein
       Baile stattfand oder nicht, hing in der Regel davon ab, wie viel man der
       Polizei dafür bezahlen konnte. Damit hat die Polizei lange viel Geld
       verdient. In den „befriedeten“ Favelas ist es nun noch schwieriger
       geworden, Bailes stattfinden zu lassen.
       
       Wie ist die Situation in den Favelas, die nicht „befriedet“ wurden? 
       
       Bailes finden dort nur noch ab und zu statt. Und sie werden dann häufig
       durch den berühmten Caveirão, einen Räumpanzer der Elitepolizei, beendet.
       Ich habe das selbst schon gesehen, musste mich vor den Schüssen der Polizei
       verstecken. Aber ich habe das Glück, solche Situationen als eine Art
       „Tourist“ erlebt zu haben. Wer dort wohnt, lebt dies jeden Tag, seit der
       Kindheit. Die großen Soundsystems, die den Reichtum des Funk ausmachen,
       werden zerstört. Welcher Soundsystem-Besitzer wird es riskieren, sein
       Equipment hinzustellen, wenn es systematisch von der Militärpolizei
       zerstört wird?
       
       Sie fotografieren seit über zehn Jahren Bailes in den Favelas von Rio de
       Janeiro, zeigen ihre Bilder innerhalb und außerhalb Brasiliens, unter
       anderem im Pariser Maison Européenne de la Photographie. Ist dies
       Exotismus, Ausbeutung? 
       
       Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es Ausbeutung ist. Ich versuche,
       verantwortlich damit umzugehen. Der Funk benutzt mich auch, und ich bin ihm
       auf meine Art und Weise nütze.
       
       Inwiefern? 
       
       Ich projiziere Bilder an öffentlichen Orten in den Favelas, um meine Arbeit
       denjenigen zu zeigen, die ich aufgenommen habe. Wenn du Funk von heute mit
       dem von vor zehn Jahren vergleichst, ist es ein Friedhof, eine große
       Stille. Zumindest in Rio, wo er geboren wurde, wird diese reiche Kultur des
       Überlebens zerstört, weil so viele Bailes verboten wurden. Wenn ich Fotos
       außerhalb zeige, gibt es Begleittexte, die den Kontext beschreiben. Dies
       ist mein kleiner Beitrag zum Kampf für Zivilrechte. Und es ist auch eine
       Form, Druck aufzubauen: Guckt mal, ihr glaubt, dass Brasilien ein Land ohne
       Rassismus ist. Aber es gibt diese Jugend, die tanzt und ihr Leben riskieren
       muss, um die Bailes fortzuführen.
       
       Sie fotografieren sie unter den Bedingungen der Repression? 
       
       Ich werde von den lokalen Künstlern zum Fotografieren eingeladen. Die
       Deejays und die MCs wollen Fotos von sich und ihren Bailes. Ich stelle
       ihnen meine Fotos zur Verfügung, die sie in ihren sozialen Netzwerken
       verwenden können. Meine Bilder sind tausendfach gepostet worden. Derzeit
       sind wir in einer sehr starken Phase der Prohibition und der Repression.
       Die Deejays und Soundsystem-Besitzer benutzen häufig auch meine Bilder, um
       bei den Autoritäten dafür zu kämpfen, dass Bailes wieder erlaubt werden. In
       vielen Favelas war es so, dass niemand die Erlaubnis von den
       Drogenhandelnden erhielt, zu fotografieren. Ich war der Einzige, der manche
       der berühmtesten Bailes fotografieren durfte, wie zum Beispiel den in
       Chatuba da Penha oder in Arvore Seca.
       
       Nicht mal die Leute, die dort lebten, dürfen auf ihren eigenen Bailes
       fotografieren? 
       
       Seit Beginn der 2000er war Filmen und Fotografieren in den Favelas sehr
       negativ mit Denunziationen von Polizeispitzeln assoziiert, den sogenannten
       X9. Fotografie macht Favela-Bewohnende auch verdächtig, sowohl bei
       Drogenhändlern als auch bei der Polizei. Ein Leben ist hier oft nicht viel
       wert. Ich habe sechs Jahre lang Fotografie in der Favela Santa Marta
       unterrichtet. Die größte Schwierigkeit war es, dass die Jugendlichen sich
       darin behaupten, Fotografen in ihrer Favela zu sein. Vor denjenigen, die
       sie seit ihrer Kindheit kennen und in den Drogenhandel eingestiegen waren,
       sicher sagen zu können: „Ich bin hier aufgewachsen und fotografiere nicht,
       um zu betrügen oder zu denunzieren! Sondern, um den Alltag meiner Favela
       zeigen zu können.“
       
       Es gab einen Schüler, der eine Massenhinrichtung durch die Polizei
       fotografierte, sich aber dafür entschied, die Filme zu vernichten. Aus
       Angst um seine Familie vor möglicher Vergeltung. Baile Funk zu
       fotografieren, ist sehr schwierig. Außerhalb des Funk-Universums haben sich
       in den vergangenen fünf Jahren aber lokale Jugendmedien entwickelt, die zu
       Menschenrechtsfragen arbeiten. Einige Favelas schaffen es, aus dieser
       medialen Unterrepräsentation herauszukommen.
       
       Warum werden Bailes überhaupt verboten? 
       
       Es herrscht in Brasilien eine Art kulturelle Apartheid. Die arme, zumeist
       schwarze Bevölkerung aus den Favelas soll ihre eigene Musik nicht hören.
       Ihre eigenen Partys nicht feiern. Bailes haben tatsächlich eine hohe
       symbolische Bedeutung in der Favela. Sie sind einige der wenigen inklusiven
       Momente, wo viele Menschen sich treffen und austauschen können. Baile Funk
       ist eine Mischung aus Agora, dem öffentlichen Platz des alten
       Griechenlands, und antikem Theater, wo alle Fragen der Gemeinschaft über
       Tanz und Musik ausgehandelt werden: Geschlecht, soziale Zugehörigkeit,
       Ethnizität, Krieg, Liebe, Sex, Betrug. Diese Ausdrucksfreiheit zu
       verbieten, ist erschreckend.
       
       Ist Apartheid dafür der richtige Begriff? 
       
       Ich nenne es Apartheid. Es gibt einen sehr starken Kontrast zwischen den
       Favelas, die in ihrem kulturellen Ausdruck erstickt werden, und den
       wohlhabenden Vierteln, wo man Funk hören kann, wie man will. In den Discos
       von Ipanema, wo der Eintritt gern mal ein Drittel eines normalen
       Mindestlohns kostet, spielen sie Funk aus den Favelas. Weiße, Wohlhabendere
       aus der Südzone Rios können sich am Sound erfreuen. Diejenigen, die diese
       Musik kreiert haben, dürfen sie zu Hause nicht öffentlich hören. Die
       Jugendlichen der Oberschicht dürfen in ihren Clubs dazu tanzen. Das ist
       absurd!
       
       Dennoch geht es auch in den Favelas weiter. Wohin bewegt sich Funk? 
       
       Funk hat nicht aufgehört, sich zu entwickeln. Vor ein paar Jahren kam ein
       neuer Tanz auf, der Passinho. Er findet auch außerhalb von Bailes statt.
       Doch für die MCs ist es schwieriger geworden, es gibt viel weniger Bühnen.
       Die Lieder haben früher zuerst die Favelas erobert und dann das Land. Die
       MCs erzählten Geschichten ihrer jeweiligen Favela in den Songs. Der Staat,
       der die Unsicherheit der Bailes forciert, schadet auch jedem einzelnen
       Produktionsschritt in der Wertschöpfungskette Funk.
       
       Heute passiert vieles virtueller, über YouTube, Soundcloud, Facebook. Funk
       überlebt in einzelnen Bailes, floh ins Internet. In São Paulo ist er trotz
       vieler Repressionen und Morde an MCs zu einer Industrie geworden. Der Funk
       aus Rio hat die lokale Musik anderer Bundesländer befruchtet, bis hin nach
       Amazonien. Es ist wie eine Diaspora. Die ursprünglichen „Tempel“ des Funk
       wurden abgeschossen, aber er hat sich ausgebreitet. Künstler aus Rio singen
       in Manaus, Porto Alegre oder Curitiba und haben viele Lokale inspiriert.
       
       Wie wird es weitergehen? 
       
       Es eine schwierige Zeit für Funk. All die Favela-Zwangsumsiedlungen,
       Zerstörung und Gentrifizierung unter dem Vorwand von
       Fußballweltmeisterschaft und Olympischen Spielen. Es scheint mir aber nur
       ein Aspekt einer größeren Tendenz zu sein: des kranken Traums der Führer,
       Rio de Janeiro zu einer Stadt wie London, New York oder Paris zu machen.
       Und dafür, die nichtweiße Bevölkerung zu verstecken, unsichtbar wie im
       Fernsehen zu machen. Funk ist ein kleiner Ausschnitt aus dem ungleichen
       Kampf zwischen den antagonistischen Kräften Brasiliens.
       
       24 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Caren Miesenberger
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Repression
 (DIR) Theater
 (DIR) Brasilien
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
 (DIR) Reiseland Brasilien
 (DIR) HipHop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Theater in Brasilien: Der Papagei, der im Kochtopf landet
       
       Das Theater in Brasilien ist politisch wach. Zwei Regisseure arbeiten mit
       Wolfram Lotz’ Drama „Die lächerliche Finsternis“.
       
 (DIR) Die brasilianische Tropicálismo-Bewegung: Jazz, Bossa Nova, Psychedelic-Rock
       
       Vor 50 Jahren begann in Brasilien die künstlerische Bewegung Tropicália.
       Jetzt erscheint ein Album von damals wieder, ein neues wird veröffentlicht.
       
 (DIR) Porträt Fotograf afrikanischer Megacitys: Sein Weg ist der rote Faden
       
       Aus seinem Hobby wurde sein Beruf, daraus seine Berufung: Ein Gespräch mit
       Akinbode Akinbiyi, der am 28. August die Goethe-Medaille erhält.
       
 (DIR) Vor den Olympischen Spielen in Rio: Sicherheitskräfte bedrohen Sicherheit
       
       Gefahr geht angeblich von Drogenbanden und Islamisten aus. Sondergesetze
       schränken das Demonstrationsrecht ein und Gewalt gegen Arme nimmt zu.
       
 (DIR) Olympische Sommerspiele in Brasilien: Der kreative Mikrokosmos von Rio
       
       Im Zeichen von Olympia geht es in der Stadt nicht gerade gemütlich zu. Aber
       im Künstlerviertel Santa Teresa zeigt sie sich von ihrer romantischen
       Seite.
       
 (DIR) Brasilianischer Rapper Emicida: Erlösung statt Rache
       
       Emicida, bedeutendste Stimme des brasilianischen Rap, liefert mit dem Album
       „About Kids, Hips, Nightmares and Homework …“ einen Akt der Befreiung.