# taz.de -- Olympische Sommerspiele in Brasilien: Der kreative Mikrokosmos von Rio
       
       > Im Zeichen von Olympia geht es in der Stadt nicht gerade gemütlich zu.
       > Aber im Künstlerviertel Santa Teresa zeigt sie sich von ihrer
       > romantischen Seite.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt eines 300 Meter großen Graffiti in Rio: Es soll die Nationen präsentieren, die an den Sommerspielen teilnehmen
       
       Sind es hundert, zweihundert oder dreihundert Stufen? Bei der schwülen
       Hitze kostet es einige Überwindung, die Treppe von Lapa nach Santa Teresa
       hinaufzusteigen. Aber wo sonst darf man ganz unbekümmert auf einem
       Kunstwerk herumtrampeln? Unzählige Mosaiksteine schmücken die Escadaria
       Selarón. Nach ihrem Schöpfer, dem chilenischen Bildhauer Jorge Selarón
       benannt, setzt sie sich aus andalusischen Fliesen, Kacheln mit
       Holländer-Mühlen, recycelter Bruchkeramik zusammen. So wurde aus einem
       Stück Straße eine farbenfrohe Hommage an das brasilianische Volk. Fans aus
       aller Welt stifteten dafür regelmäßig weitere Beiträge – bis Selarón im
       Januar 2013 tot auf seinem Kunstwerk aufgefunden wurde. Die Umstände seines
       Todes sind nicht geklärt. Immerhin hat ihn sein Werk unsterblich gemacht.
       
       Und es gibt keine bessere Einstimmung auf Santa Teresa, jenes Stadtviertel,
       das sich wie eine Insel der Seligen im Zentrum der Millionenstadt versteckt
       und von einem ebenso farbenfreudigen Stilmix gekennzeichnet ist wie die
       Treppe. Anderswo ist Rio ungemütlich und laut. Wo sich die
       Millionenmetropole für die Olympischen Spiele rüstet und alte Docks in den
       Porto Maravilha, den Wunderhafen, verwandelt, ziehen sich Baustellen durch
       die Stadtlandschaft. Zu denen gesellt sich wiederum die Blechlawine der
       Autos und Busse, die regelmäßig im Dauerstau stecken bleiben.
       
       In Santa Teresa sieht man stattdessen viele Anwohner in Flip-Flops über die
       Straßen schlendern. Neben Kleinbussen zockelt der Bonde, die wohl älteste
       Straßenbahn der Welt, den Berg hoch. An dem grellgelben Waggon hält sich so
       mancher Trittbrettfahrer fest, um an der Rua Almirante Alexandrino wieder
       abzuspringen und in einem der Lokale dort vorbeizuschauen.
       
       ## Wo einst Stefan Zweig träumte
       
       Oi, tudo bom? Hallo, wie geht’s, heißt es überall. Man kennt und grüßt
       sich. Wie auf dem Dorf. Dabei ist die Bebauung alles andere als
       ländlich-rustikal. Geradezu filigran wirken die verspielten, kleinen
       Villen, die sich mit ihren rosa oder himmelbauen Fassaden den Hügel
       hinaufziehen. Über die Gartenzäune neigen sich Mangobäume, hinter
       schmiedeeisernen Toren lugt die eine oder andere Palme hervor. Gewiss, wer
       genau hinsieht, merkt, dass hier und da der Putz von den Häuserwänden
       bröckelt und im Kopfsteinpflaster so tiefe Löcher klaffen, dass die Autos
       auch ungewollt Tempo 30 fahren. Nein, schick ist es hier nicht. Wer Geld
       hat, wohnt anderswo.
       
       Doch verströmt Santa Teresa jene liebenswerte Verträumtheit, von der einst
       Stefan Zweig schwärmte. „In den kleinen, engen Straßen von Rio
       herumzustreichen heißt zurückwandern in der Zeit. Man ist in einer
       kolonialen Welt, wo alles noch nahe, noch handlich, noch offen war, wo man
       noch gemächlich ging, nicht viel mehr suchend als den Schatten, der das
       Schlendern angenehmer machte.“ Auch heute lädt Santa Teresa zur Zeitreise
       ein.
       
       ## Spektakulärer Blick auf Rio
       
       1750 von Nonnen gegründet, steht am Fuß des Hügels das der heiligen Teresa
       von Avila geweihte Kloster. Die Ruhe, die die barfüßigen Karmeliterinnen
       suchten, die frische Luft oberhalb des Zentrums und den Blick auf die
       Guanabara-Bucht lernten im 19. Jahrhundert auch wohlhabende Bürger zu
       schätzen. Vor allem die, die fernab des Centro auch ihren ästhetischen
       Launen freien Lauf lassen wollten. Hier ein bisschen Art déco, dort ein
       Hauch von Neoklassizismus – jeder baute, wie es ihm gefiel. In den
       eigenwilligen Gebäuden hielten viele illustre Namen Einzug: der
       Kunstsammler Raymundo Ottoni de Castro Maya und der Positivist Benjamin
       Constant zum Beispiel, deren Residenzen heute Museen sind.
       
       Oder Laurinda Santos Lobo, die „Feldmarschallin der Eleganz“, die zu ihren
       legendären Abendgesellschaften auch Isadora Duncan und der Komponist
       Villa-Lobos empfing. Heute ist von ihrer Villa nur der Parque das Ruinas
       geblieben. Wie ein Luftschloss erhebt sich die Ruine, ein nach allen
       Seiten hin offenes, aber sorgsam restauriertes Haus, in dem
       Kunstinstallationen bei freiem Eintritt veranstaltet werden. Auf der
       Terrasse lockt das Café das Ruinas mit einem der spektakulärsten Ausblicke
       auf Rio.
       
       Mehr als ein halbes Jahrhundert hatten hier die glanzvollen Zeiten gewährt.
       Dann ging es mit Santa Teresa bergab, und zwar im wortwörtlichen Sinn:
       Unwetter ließen einige Häuser den Hang herabrutschen. Daraufhin flüchteten
       viele in die neuen Stadtviertel der Südzone. Ihre Häuser auf dem Hügel
       verfielen. Als ringsum Favelas in die Höhe wuchsen, machte der
       brasilianische Mittelstand einen Bogen um das Viertel. Nicht jedoch die
       Künstler. Angelockt vom billigen Wohnraum ließen sich unzählige Maler,
       Bildhauer und Kunsthandwerker nieder. Längst ist Santa Teresa ein kreativer
       Mikrokosmos mit mehreren Dutzend Ateliers und Galerien, die ihre Türen auch
       für Besucher öffnen. Mit etwas Glück auch die von Carlos Vergara in der Rua
       Progresso 70, einem der renommiertesten brasilianischen Maler, Bildhauer
       und Fotokünstler, dessen Arbeiten auch schon in Deutschland zu sehen waren.
       Er reist nach Kappadokien und anderswohin, um sich Anregungen für seine
       avantgardistischen Bilderzyklen zu holen. Aber seine Tage verbringt der
       74-Jährige zurückgezogen in Santa Teresa.
       
       „Hier finde ich die Ruhe und Inspiration, die ich zum Arbeiten brauche“,
       meint er. Als ehemaliger Verantwortlicher für Denkmalschutz ist er
       heilfroh, dass das Viertel heute einigermaßen intakt ist.
       
       ## Kein Geheimtipp, dafür Nostalgie
       
       Sein Sohn João hat sich indessen als Mitbegründer der ersten
       Bed&-Breakfast-Agentur Rios dazu beigetragen, dass man in vielen Häusern
       auch unterkommen kann. Wer will, kann seitdem in der beschaulichen Casa de
       Ana Maria wohnen. Der Salon mit kostbarem Porzellan, Spiegeln und alten
       Möbeln gleicht fast einem Museum, das Frühstück untermalt der plappernde
       Papagei im verwunschenen Garten. Inzwischen sind die Unterkünfte luxuriöser
       geworden.
       
       Höchste Ansprüche erfüllt die Nobelherberge Santa Teresa in einer
       ehemaligen Kaffeefarm, das hinter Mauern im Kolonialstil mit brandaktuellen
       Design überrascht. Die Fußböden sind aus gewachstem Zement, die Möbel aus
       einheimischen Hölzern, Bambus oder Kokos, die Wände schmücken Skulpturen
       aus Kronkorken.
       
       Gewiss, nachdem auch Madonna nach Santa Teresa kam und öffentlich vom
       Restaurant Aprazível schwärmte, hat das Viertel aufgehört, ein Geheimtipp
       zu sein.
       
       Wie überall in Rio sind auch hier die Grundstückspreise in die Höhe
       geschnellt. Doch die dörflich-friedliche Atmosphäre ist dem kreativen
       Mikrokosmos nicht abhandengekommen. In ihm, scheint es, hält die dynamische
       Millionenstadt mitten im Modernisierungswahn noch einmal inne und schaut
       zurück in ihre liebenswerte alte Seele.
       
       16 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Wiebrecht
       
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