# taz.de -- Queere Freiheit in Berlin: Knutschen nur in der Innenstadt
       
       > Berlin ist die queere Hauptstadt Europas? Überall kann man Sex haben? Das
       > ist nur die eine Wahrheit. Jenseits des S-Bahn-Rings schlägt einem
       > Homophobie entgegen.
       
 (IMG) Bild: Schon in Lichtenberg oft nicht mehr gern gesehen: Knutschende Frauen
       
       Von wegen früher war alles besser. Ich kam 1992 fürs Studium nach Berlin.
       Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Jahre in der Stadt, daran, dass
       ich in den meisten schwulen Kneipen und Bars klingeln musste, bevor ich
       reinkam. Durch eine kleine Videokamera wurde damals abgecheckt, wer da
       Einlass begehrte. Die Schaufenster waren blickdicht abgeklebt. Ahnungslose
       Passanten übersahen solche Lokale. Eingeweihte wussten, was da abgeht.
       Inzwischen sind Vorsichtsmaßnahmen wie diese überflüssig geworden.
       
       Berlin ist heute die queere Hauptstadt Europas. Früher war das mal
       Amsterdam, weil da alles möglich war – liberale Gesetze und BürgerInnen
       inklusive sexueller Freizügigkeiten samt Pornoproduktion.
       
       Nach dem Fall der Mauer ging auch in Berlin alles. Es herrschte
       Aufbruchstimmung. Es gab keine Sperrstunde, stattdessen Freiräume für
       kreative Ideen, illegale Besetzungen juckten weder Ordnungsämter noch
       Polizei, es gab Drogen und Partys ohne Ende. So kam die Stadt zu ihrem
       weltweiten Ruf als homosexuelles Eldorado.
       
       Das hat natürlich auch mit dem KitKatClub und dem Berghain, mit den vielen
       Sexclubs und Kneipen mit angeschlossenem Darkroom, den vielen Parks mit
       Cruisingecken zu tun. Kurz damit, dass mann in Berlin quasi an jeder Ecke
       immer und ganz easy Sex haben kann. Anything goes. Und Pornos aus Berlin
       sind ein Markenartikel in aller Welt. Die Streifen sind eher rauer Natur;
       und es wird meist ohne Gummi gevögelt.
       
       Berlin mit seinen vielen queeren Institutionen, von der Aidshilfe über
       Sportvereine bis hin zu schwulen Klempnern, lesbischen Steuerberaterinnen
       und queeren Altenheimen, bietet eine irre breite Palette an
       Auswahlmöglichkeiten für verschiedenste Lebensentwürfe jenseits des
       Heteronormativen. Die Infrastruktur mit ihren Schutzräumen bietet
       Lebensqualität, Liberalität und Anonymität. Und das wissen Lesben, Schwule,
       Trans- und Intersexuelle zu schätzen. Ein bequemes und fast sorgenfreies
       Leben also – für das auch ich total dankbar bin.
       
       Und dabei ist Berlin gar nicht mal einzigartig – zumindest in Deutschland.
       Während es in zentralistischen Staaten wie Frankreich mit Paris nur die
       eine queere Metropole gibt, hat die föderal gewachsene Bundesrepublik mit
       Hamburg, Stuttgart, Frankfurt/Main, München und natürlich Köln gleich
       mehrere großstädtische Hotspots zu bieten, die eine ähnliche, wenn auch
       viel kleinere queere Infrastruktur aufweisen als die Hauptstadt.
       
       Das ist die eine Wahrheit, die andere ist: Die meisten Großstadtschwulen
       und Großstadtlesben wohnen in den Innenstadtbezirken Berlins. Will heißen:
       Die Innenstadt ist überhaupt nicht mit den Außenbezirken, dem Berliner
       Umland oder mit dem Rest Deutschlands gleichzusetzen. Wir leben da wie in
       einer Blase – und wissen das auch.
       
       Laufe ich zum Beispiel mit meinem Mann nur ein paar Hundert Meter weiter
       von meinem Friedrichshainer Zuhause in Richtung Lichtenberg, gibt es öfter
       abschätzige Blicke. Meist versuche ich dann, genauso zurückzugucken. Wenn
       darüber hinaus noch jemand als Zeichen der Verachtung hinter uns ausspuckt
       – ich könnte durchdrehen –, habe ich mir angewöhnt, ebenfalls auszuspucken.
       
       Oder: Wer als schwules oder lesbisches Paar mal eine Radtour, vielleicht
       ins Brandenburgische, unternommen hat und Händchen haltend oder knutschend
       durch Bernau oder Beskow lief, hat es erlebt: hat neben einigen
       wohlwollenden und vielen gleichgültigen noch viel mehr empörte Blicke und
       wahrscheinlich den ein oder anderen diskriminierenden Spruch kassiert.
       
       Beleidigungen von Lesben, Transsexuellen und Schwulen sowie Übergriffe gibt
       es überall. Eine Blase ist halt ein fragiles Gebilde.
       
       Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin.
       Darin außerdem ein Essay und ein Interview zum Theme queere Community und
       CSD. Am Kiosk und in Ihrem Briefkasten.
       
       23 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hergeth
       
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