# taz.de -- Kriminologe über Polizeiarbeit: „Das Problem wird immer größer“
       
       > Der Kriminologe André Schulz über die Silvesternacht in Köln,
       > Polizeieinsätze, Europas Grenzen und die Folgen des Antiterrorkriegs.
       
 (IMG) Bild: „Eher den Umständen geschuldet“: Polizei vor dem Kölner Hauptbahnhof.
       
       taz am wochenende: Herr Schulz, die amtlichen Berichte über die
       Silvesternacht in Köln liegen jetzt vor, das Fazit lautet: Die Polizei hat
       an Silvester in Köln versagt. Wie kam es Ihrer Meinung nach dazu? 
       
       André Schulz: Genau das muss jetzt in Ruhe aufgearbeitet werden. Es kann
       sein, dass die Lage im Vorfeld nicht korrekt beurteilt wurde, dafür gibt es
       aber noch keine Hinweise. Im Nachhinein muss jetzt analysiert werden, ob
       die Entwicklung hätte verhindert werden können. Dass eine Situation mal aus
       dem Ruder läuft, kann immer passieren, aber dann muss man richtig
       reagieren. Offenbar hat die Polizeiführung den Eindruck gehabt, durch die
       Räumung des Bahnhofsvorplatzes um Mitternacht sei das Problem gelöst,
       darum hat sie keine Verstärkung angefordert.
       
       Als am Sonntag in Köln die Hooligans gegen Salafisten am Kölner
       Hauptbahnhof demonstrierten, waren mehr als 2.000 Polizisten im Einsatz –
       in der Silvesternacht nur 143. Ist das verhältnismäßig? 
       
       In dieser Silvesternacht waren in Köln beinahe doppelt so viele Beamte im
       Einsatz wie im Jahr davor – trotzdem waren es zu wenig. Demonstrationen und
       Fußballspiele, wie wir sie jedes Wochenende haben, sind vorhersehbarer, und
       darum klappt es ja meistens ganz gut, die Hooligans und Ultras in Schach zu
       halten. An Silvester war die Lage viel schwieriger einzuschätzen. Es ist ja
       bemerkenswert, dass alle bisherigen Tatverdächtigen nicht aus Köln stammen,
       sondern erst zu Silvester angereist sind. Da bot sich eine besondere
       Tatgelegenheit, die es so nur ein- bis zweimal im Jahr gibt.
       
       Inzwischen liegen über 500 Anzeigen vor, aber in der Nacht selbst gab es
       keine einzige Festnahme. Warum? 
       
       Teilweise war das nicht möglich, weil die Polizei mit anderen Problemen zu
       kämpfen hatte, teilweise wurden wohl andere Schwerpunkte gesetzt.
       Rechtliche Hindernisse gab es dafür nicht. Aber die Taten müssen als solche
       auch erstmals erkannt werden, und die Täter müssen greifbar sein. Auch das
       war in dieser Situation nicht immer der Fall.
       
       Es gibt Opfer, die sagen, die Beamten hätten nur mit den Achseln gezuckt,
       wenn sie von sexuellen Übergriffen berichtet hätten. Wurde diese Straftat
       von der Polizei bislang nur als Bagatelldelikt gewertet? 
       
       Ich denke, das war eher den Umständen geschuldet. Natürlich hat eine
       sexuelle Belästigung eine andere Qualität als eine Vergewaltigung und
       erfordert eine andere Reaktion. Aber grundsätzlich gilt: Wir brauchen
       konkrete Hinweise auf eine Täterschaft, um weitere Maßnahmen durchführen zu
       können und zum Beispiel: die Identität feststellen zu dürfen. Das war in
       dem Gewühl so nicht möglich.
       
       Ist das eine neue Masche – sexuelle Belästigung in Tateinheit mit
       Diebstahl? Eine Variante des berüchtigten „Antanztricks“, bei dem das Opfer
       körperlich angegangen wird, um es auszurauben? 
       
       Wir kannten Diebstahl in Tateinheit mit sexueller Gewalt auch schon vorher
       – aber nicht in dieser Größenordnung. Das ist vielleicht in Nordafrika
       verbreitet, aber in Köln war das bislang nicht bekannt. Es handelt sich um
       eine Form der importierten Kriminalität, die aber nicht allein auf eine
       bestimmte Nationalität oder Herkunft zurückzuführen ist.
       
       Gewisse Diebesbanden machen Köln schon seit geraumer Zeit unsicher. Ist
       unser Rechtsstaat gegen sie machtlos, ist die Justiz zu schwach? 
       
       Das müssen die weiteren Ermittlungen zeigen. Aber viele dieser Kriminellen
       sind schon seit längerer Zeit polizeibekannt und teilweise auch in ihrem
       Herkunftsland straffällig geworden. Hier bringen sie nun die ehrlichen
       Flüchtlinge in Verruf.
       
       Führende Politiker fordern jetzt schnellere Ausweisungen. Würden die etwas
       ändern? Die Frage ist, wohin? 
       
       Aber auch Einsperren kann immer nur die Ultima Ratio sein. Neunzig Prozent
       der Leute kommen ja aus der Haft nicht als bessere Menschen raus. Das
       Problem beginnt und endet für mich mit der Außenpolitik. Es beginnt mit dem
       Antiterrorkrieg und der Zerstörung staatlicher Strukturen im Irak und in
       Syrien, wo selbst die Amerikaner heute sagen, sie hätten zur Entstehung des
       IS beigetragen. Wir haben die Folgen zu tragen. Die Verschärfung des
       Aufenthaltsgesetzes bringt da wenig. Denn in welche Länder will man die
       Straftäter denn zurückführen, wenn wir die Identität nicht zweifelsfrei
       feststellen können oder wenn dort Krieg herrscht?
       
       Politiker aller Parteien fordern, die Täter aus der Silvesternacht hart zu
       bestrafen. Kann die Videoüberwachung helfen, sie zu überführen? 
       
       Von den Vorfällen gibt es nur wenige Videoaufnahmen, und die Qualität ist
       überwiegend sehr schlecht. In Köln im und vor dem Bahnhof gibt es nur wenig
       Videoüberwachung, und die Kameras sind in der Regel nicht eingeschaltet.
       Das ist eine politische Entscheidung, denn eine Überwachung des
       öffentlichen Raums ist von vielen nicht erwünscht.
       
       Der Kölner Polizeipräsident hat früh von „Nordafrikanern“ gesprochen. War
       es richtig, die Herkunft der Täter zu nennen? Oder hätte der Hinweis
       gereicht, dass es sich dabei um polizeibekannte Diebesbanden gehandelt
       haben könnte? 
       
       Jede Polizeibehörde entscheidet, oftmals in Absprache mit der
       Staatsanwaltschaft, selbst, welche Informationen sie herausgibt und welche
       nicht. Unter kriminologischen Gesichtspunkten spielen Herkunft und Religion
       keine Rolle. Aber von der Polizei wird in solchen Fällen größtmögliche
       Transparenz erwartet. Und wir dürfen negative Begleiterscheinungen
       bestimmter Entwicklungen nicht verschweigen, nur weil uns die
       gesellschaftlichen Folgen der Debatte nicht gefallen. Die Frage ist, wie
       verantwortungsvoll Medien mit solchen Informationen umgehen. Über neunzig
       Prozent der Kriminalität wird gar nicht berichtet. Und wenn die Täter
       Deutsche sind, wird die Herkunft generell nicht erwähnt. Dagegen ist
       bekannt, dass Migranten im Bereich der Straßenkriminalität
       überrepräsentiert sind. Da muss man sich fragen, was es bringt, zu
       erwähnen, dass es sich bei einem Ladendieb um einen Polen handelt.
       
       Viele führen die sexuellen Übergriffe von Köln auf das Frauenbild der
       nordafrikanischen Täter zurück. Zu Recht? 
       
       Ja, aber das hat auch mit der Schicht und dem Bildungsstand zu tun. Ein
       marokkanischer Lehrer oder Arzt würde so etwas vermutlich nicht tun.
       Deswegen ist es falsch zu sagen, die Marokkaner sind alle so.
       
       Zeigen die Vorfälle in Köln, dass unsere Sicherheitsbehörden der
       grenzübergreifenden Kleinkriminalität hinterher hinken? 
       
       Ja, das ist so, und das Problem wird immer größer. Ich bin ein überzeugter
       Europäer. Aber schon bei der Erweiterung der europäischen Freizügigkeit
       hätte man sich fragen müssen, welche Kompensationsmaßnahmen es gibt, um für
       die Sicherheit zu sorgen. Stattdessen wurden Stellen abgebaut und in vielen
       Bereichen die rechtlichen Anforderungen für polizeiliche Maßnahmen erhöht.
       Wir müssen jetzt mehr Quellen auswerten, Stichwort Big Data, haben dafür
       aber weniger Personal. Das beißt sich. Zugleich gibt es diese
       Kleinstaaterei innerhalb Deutschlands und in Europa. Versuchen Sie mal, ein
       Rechtshilfeersuchen nach Frankreich oder Großbritannien zu stellen! Das
       können Sie gleich in den Müll werfen, von außereuropäischen Ländern ganz zu
       schweigen. Alle verteidigen eifersüchtig ihre nationale Polizei, statt
       Europol zu stärken. Das bleibt hinter den heutigen Erfordernissen zurück.
       
       15 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
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