# taz.de -- Ungeklärte Morde an Migranten: Die Stille nach den Schüssen
       
       > In Neukölln wurden zwei junge Migranten erschossen. Die Familien klagen
       > die Ermittler an, rassistischen Motiven unzureichend nachzugehen.
       
 (IMG) Bild: Die Eltern und die Toten: Das Ehepaar Holland zeigt bei der Pressekonferenz Fotos von Burak Bektas und Luke Holland
       
       Berlin taz | Melek Bektas ringt mit den Worten, atmet schwer, ist den
       Tränen nah. Auch nach vier Jahren noch, natürlich. „Der Mörder meines
       Sohnes läuft immer noch frei herum“, sagt Bektas. „Wir haben noch zwei
       weitere Kinder, wir haben Angst um sie. Seit vier Jahren können wir nicht
       ruhig schlafen.“
       
       Bektas gibt am Montag mit ihren Anwälten eine Pressekonferenz, ihre erste.
       Die 43-jährige Altenpflegerin, in den 80er Jahren mit ihrem Mann aus der
       Türkei nach Berlin gekommen, legt ihren schwarzen Mantel nicht ab, knetet
       ihre Hände auf dem Schoß. Sie sitzt im Haus der Bundespressekonferenz,
       mitten im Berliner Regierungsviertel. Der Ort ist bewusst gewählt. Denn
       Bektas’ Worte sind nicht mehr nur Verzweiflung. Sie sind auch eine Anklage
       – gegen den deutschen Staat.
       
       Warum nur findet dieser Staat nicht den Mörder ihres Sohnes? Weil er nicht
       genug nach rechts ermittelt? Trotz der NSU-Katastrophe?
       
       ## ***
       
       Berlin-Neukölln, 5. April 2012. Burak Bektas, ein offener, sportlicher
       22-Jähriger, will nach seinem Feierabend bei der KfZ-Händlerausbildung,
       nach dem Abendbrot zu Hause, nochmal nach draußen, sich mit Freunden
       treffen. Die Bektas wohnen in einem Reihenhaus im Süden Neukölln, wie es
       viele hier gibt. Es ist eine beschauliche Gegend, nicht so rau und
       multikulti wie im bekannten Norden.
       
       Mit vier Freunden steht Burak an einer Straßenecke: Seltunc, Ömer, Jamal,
       Alex. Sie plaudern, lachen. Dann tritt ein älterer Mann in dunkler Jacke an
       sie heran, zieht unvermittelt eine Pistole, feuert in die Runde – und
       verschwindet wortlos. Jamal und Alex werden schwer verletzt. Burak auch, er
       stirbt 45 Minuten später im Krankenhaus. Vom Täter fehlt bis heute jede
       Spur.
       
       ## ***
       
       Neben Melek Bektas sitzen am Montag Philip und Rita Holland, ein Ehepaar
       aus Manchester, beide Rentner, eigens eingeflogen für den Pressetermin. Sie
       halten ihre Hände, wischen sich Tränen aus den Augen. Auch ihr Sohn Luke
       wurde in Neukölln ermordet, auch hier ist das Motiv bis heute rätselhaft.
       
       Rita Holland hält ein Foto in die Kameras. Es zeigt die Eltern, stolz
       lächelnd, nach der Abschlussfeier ihres Sohnes an der Oxford-Universität.
       Luke trägt schwarzen Anzug, hat den Arm um seine Mutter gelegt. „Unser Sohn
       war so talentiert, so beliebt“, sagt Rita Holland, sie zittert. „Er hätte
       der Welt noch so viel geben können.“
       
       ## ***
       
       Berlin-Neukölln, 20. September 2015. Luke Holland, 31 Jahre, vor einem Jahr
       nach Berlin gekommen, um sich hier als Anwalt selbständig zu machen,
       besucht in den Nachtstunden eine kleine Bar, das „Del Rex“. Das Publikum
       ist international, an den Wänden hängt Kunst. Kurz nachdem Holland das
       Lokal verlässt, findet ihn ein weiterer Besucher blutend auf dem Gehweg. Er
       sieht noch den Täter mit einer Schrotflinte weggehen, ruhigen Schrittes.
       Luke Holland ist mit einem Bauchausschuss verletzt. Er stirbt auf dem Weg
       ins Krankenhaus.
       
       Noch am folgenden Abend wird Rolf Z. verhaftet, ein kauziger Typ, 62 Jahre
       alt. Er wohnt nur 50 Meter weiter. Laut dem „Del Rex“-Betreiber war Rolf Z.
       mehrmals in seiner Kneipe, auch am Tatabend. Da habe er sich beschwert,
       dass dort niemand deutsch spreche. Rolf Z. schweigt bis heute.
       
       ## ***
       
       Wortlos hatte auch der „Nationalsozialistische Untergrund“ getötet. Zehn
       Menschen erschossen die Rechtsterroristen, neun von ihnen waren Migranten.
       „Taten statt Worte“ erkoren sie zu ihrem Leitspruch, nie hinterließen sie
       ein Bekennerschreiben. Fast 14 Jahre lebten die Mörder unerkannt in
       Sachsen. Die Opfer aber wussten die Morde zu lesen: Nach jeder Tat
       verstärkte sich die Angst in der migrantischen Community. Die Neonazis
       entschlüsselten die Morde ebenfalls. „Döner-Killer“ nannte die Band ein
       Lied, mit dem sie die Taten verherrlichte – noch bevor der NSU
       bekanntwurde.
       
       ## ***
       
       Mehmet Daimagüler ergreift das Mikrofon auf dem Podium in Berlin. Er ist
       der Anwalt der Familie Bektas. Und er vertritt auch beim laufenden
       NSU-Prozess in München die Familien zweier Opfer. „Das Tatmuster im Fall
       Burak Bektas erinnert doch frappierend an den NSU“, sagt Daimagüler. Der
       Migrationshintergrund der Getöteten, die scheinbar willkürliche
       Opferauswahl, das wortlose Morden.
       
       Aber wieder, klagt Daimagüler, werde ein rechtsextremes Motiv nur
       oberflächlich geprüft. In den Akten fänden sich keine Erkenntnisse des
       Verfassungsschutzes, Neonazis seien als Tatverdächtige kaum überprüft
       worden, außerhalb Berlins gar nicht. „Was genau wurde hier aus dem NSU
       gelernt?“, fragt Daimagüler. „Wird wirklich in alle Richtungen ermittelt?
       Das Gefühl haben wir leider nicht.“
       
       Dabei wohnen im Süden Neuköllns auch bekannte Neonazis, gab es hier rechte
       Übergriffe, wurde ein linker Jugendclub mehrmals angezündet. Seit dem Tod
       von Burak Bektas demonstriert eine Initiative jeden Monat, um an den Mord
       zu erinnern – und die Ermittler zu mahnen, ein rassistisches Motiv
       mitzuprüfen. „Unser Eindruck leider ist“, sagt Ulrich Schmidt, einer der
       Organisationen, „dass die Familie Bektas nicht die gleiche Zuwendung
       bekommt wie biodeutsche Familien“.
       
       ## ***
       
       Als sich der NSU 2011 enttarnte, war der Schock groß. Angela Merkel
       versprach, das Land werde „alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates
       Stehende tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann“. Ein
       Untersuchungsausschuss im Bundestag erarbeitete 47 Konsequenzen. Bei
       migrantischen Gewaltopfern müsse künftig immer ein rassistisches Motiv
       geprüft werden, heißt es dort. „Eingefahrene Denkmuster“ in den
       Ermittlungen müssten verlassen werden. Polizisten dürften ihren Blick nicht
       „örtlich verengen“, sondern müssten auch bundesweit agierende, rechte
       Netzwerke einbeziehen.
       
       ## ***
       
       92 Prozent der Tötungsdelikte in Berlin werden aufgeklärt. Der Fall Burak
       Bektas ist einer der wenigen, der seit 2012 ungelöst bleibt. „Wir haben die
       Empfindung, dass die Polizei nicht mehr ordnungsgemäß ermittelt“, sagt
       Melek Bektas am Montag.
       
       Auch Rita Holland glaubt an ein politisches Motiv für den Mord an ihrem
       Sohn. „Er wurde erschossen, weil er englisch sprach.“ Und auch sie klagt
       über die Ermittler. Fast nichts würden sie über den Festgenommenen Rolf Z.
       erfahren. Die Ermittler hätten nicht einmal gewusst, dass ihr Sohn Anwalt
       war.
       
       Und noch ein Verdacht plagt die Familien: Hängen die beiden Taten zusammen?
       Dafür sprechen die Tatausführung, die Hinweise auf einen älteren Täter, der
       Tatort Neukölln. Tatsächlich hatte ein Hinweisgeber Rolf Z. auch im Fall
       Burak Bektas als möglichen Täter benannt: Dieser habe Waffen zu Hause und
       mal gesagt, er gehe gerne ballern – in der Nähe des Ortes, an dem Burak
       Bektas erschossen wurde. Zudem soll in der Wohnung von Rolf Z. ein Bild von
       Adolf Hitler gehangen haben.
       
       Ist er der Mörder von Burak Bektas? Und, fragt Philip Holland, hätte man
       ihn früher überprüft, hätte das vielleicht den Mord an seinem Sohn
       verhindert?
       
       ## ***
       
       Martin Steltner, Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, nennt die Kritik
       an den Ermittlungen im Fall Burak Bektas „grob unfair“. „Wir tun bis heute
       alles Mögliche, um den Mord doch noch aufzuklären.“ 15.000 Euro habe man
       ausgelobt für Hinweise auf den Täter. Aber es gebe so wenig Ansatzpunkte.
       Der Mörder handelte wortlos, die Täterbeschreibung sei mehr als vage. Auch
       ein politisches Motiv habe man geprüft, versichert Steltner. „Es gibt keine
       Anhaltspunkte dafür.“ Genauso wenig habe eine Überprüfung von Rolf Z.
       ergeben. „Wir gehen allem nach“, sagt Steltner.
       
       ## ***
       
       Melek Bektas hat den Glauben an die Berliner Staatsanwaltschaft verloren.
       „Wir wollen, dass bundesweit nach dem Mörder ermittelt wird.“ Ihr Anwalt
       Daimagüler fordert, dass die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe den Fall an
       sich zieht, die oberste Ermittlungsbehörde des Landes. Das kann sie bei
       Fällen mit „besonderer Bedeutung“ für die Sicherheit der Bundesrepublik
       tun.
       
       Daimagüler sieht genau diesen Fall gegeben. „Der Mord an Burak Bektas hat
       längst diese Bedeutung, weil nicht auszuschließen ist, dass es eine
       rechtsextreme Tat war, vielleicht gar eine NSU-Nachahmertat. Und weil er
       erneut die türkischstämmige Community verunsichert, die die Ermittlungen
       genau verfolgt.“
       
       Für Melek Bektas ist der Vorstoß eine der letzten Hoffnungen, dass
       vielleicht doch noch der Mörder ihres Sohnes gefunden wird. Die
       Bundesanwaltschaft aber schweigt am Montag. Eine Anfrage, ob sie den Fall
       der Familie übernimmt, beantwortet sie nicht.
       
       12 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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