# taz.de -- „Victoria“-Regisseur über seinen Film: „Die Bestie Film ist gezähmt“
       
       > Sebastian Schipper drehte den Nachtfilm des Jahres. Er kommt zum Gespräch
       > an den Drehorten – und muss einmal schreien.
       
 (IMG) Bild: Nicht gezähmt: „Victoria“-Hauptdarsteller Laia Costa und Frederick Lau mit Regisseur Sebastian Schipper bei der Verleihung des deutschen Filmpreises „Lola“ (v.l.n.r.)
       
       Es ist Abend, das Quartier rund um die südliche Friedrichstraße in Berlin
       liegt verlassen im Dunkeln. Hier wurde „Victoria“ gedreht, der am meisten
       bejubelte deutsche Film des Jahres. Sebastian Schipper, Regisseur und
       Drehbuchautor, steht am Eingang des Nachtclubs, in dem der Film beginnt.
       Eine unscheinbare Treppe, die nach unten in die Dunkelheit führt. Schipper,
       angegrauter Bart, erfüllt mit seinem hochgewachsenen Körper und seiner
       tiefen, vollen Stimme die Dunkelheit. Die Gesichtszüge sind weich, die
       Haltung auffallend zurückhaltend. Schippers Hände stecken in den
       Manteltaschen, es ist eine der ersten kalten Nächte im November. Sein Blick
       wirkt gelangweilt. Er wüsste ohnehin, was man fragen wird, sagt er. Das,
       was alle fragen. Schon jetzt ist klar: Das wird kein leichtes Interview. 
       
       taz.am wochenende: Wollen Sie ein Bier? 
       
       Sebastian Schipper: Nein, danke.
       
       Ich habe auch Tee mitgebracht. 
       
       Nee.
       
       In dem Club, vor dem wir uns treffen, lernt die Hauptfigur des Films, die
       junge Spanierin Victoria, die Jungs namens Sonne, Boxer, Blinker und Fuß
       kennen. Später überfallen sie gemeinsam eine Bank. Schon Schippers erster
       Film, „Absolute Giganten“, spielte in nur einer Nacht. 
       
       Warum machen Sie Filme über die Nacht? 
       
       Tagsüber sind wir oft wie ein Produkt, müssen funktionieren, produzieren.
       Nachts haben wir andere Möglichkeiten: Wir können einfach nicht ins Bett
       gehen. Wir können sagen: Ich komm noch kurz mit. Oder: Eins trinke ich
       noch. Nachts sind wir freier. Auch wenn wir am nächsten Tag dafür
       vielleicht bezahlen müssen.
       
       Victoria und die Jungs nehmen zusammen Drogen, bevor sie die Bank
       überfallen. Auch in Ihren anderen Filmen geht es um Rausch. Gehört er zur
       Nacht dazu? 
       
       Ich weiß nicht. Ich trinke gerne Whiskey und kiffe auch manchmal, selten.
       Aber andere Drogen widerstreben mir. Oft habe ich den Eindruck, Drogen
       wollen die Nacht auch zu einer Art Produkt machen. Mit Drogen musst du
       nicht die Zeit verschwenden, die es an einem Abend braucht, um in Stimmung
       zu kommen. Du gehst tanzen, wirfst dir was rein und holst sofort ganz viel
       raus: „Yeah, geil, wir haben richtig heftig gefeiert!“ Und am Montagmorgen
       geht es dann wieder ins Büro.
       
       Ist doch eigentlich praktisch. 
       
       Ja, aber ich interessiere mich für die Langeweile, für die Zeit, in der die
       Nacht erst langsam beginnt. Manche finden, dass „Victoria“ in der ersten
       halben Stunde langweilig ist. Manche wollten sogar, dass ich den Film am
       Anfang kürze. Aber das ging zum Glück nicht.
       
       Sie langweilen sich gern? 
       
       Ich langweile mich viel zu selten. Wir müssen ja kaum noch warten. Aber aus
       Langeweile entsteht oft was Gutes. Diese Langeweile unter Jugendlichen, die
       rumhängen und dann irgendeinen Scheiß machen, das fehlt vielleicht heute.
       Daraus sind schon große Sachen entstanden, sogar ganze Musikrichtungen.
       
       Haben Sie nachts die besseren Ideen? 
       
       Nein, ich arbeite am besten vormittags. Aber als wir für den Film geprobt
       haben, hat mich Frederick Lau nachts um zwei angerufen: Ich verstehe das
       nicht! Ich verstehe nicht, warum überfallen sie die Bank? Dann haben wir
       telefoniert, ewig lang, was das für die Figuren bedeutet, was wir verändern
       müssen.
       
       Nach dem Banküberfall kommen Victoria und ihre Jungs in den Club zurück.
       Sie tanzen, ziehen sich auf der Tanzfläche aus, sie überschütten sich mit
       Getränken und küssen sich. Bis sie aus dem Club geworfen werden. Dann
       tragen sie Laia Costa, die Victoria im Film, die Treppe hoch, Sonne,
       gespielt von Frederick Lau, küsst sie kopfüber. In Wirklichkeit ist hier
       kein Club am Ende der Treppe. Hier sind Lagerräume. 
       
       War es schwer, in dem Film eine wirklich gute Party darzustellen? 
       
       Ja. Diese Ekstase, das Wilde, dass das Element des Feierns ausmacht, das
       lässt sich schlecht proben.
       
       Im Film sind Sie hier am Clubeingang selbst für einen Moment zu sehen. 
       
       Ich laufe im Hintergrund durchs Bild, ich wollte mir Kaugummis aus dem Auto
       holen. Immer, wenn ich den Film jetzt sehe, tut mir Laia leid. Die muss ja
       gedacht haben, was passiert jetzt?
       
       Wir gehen weiter, die spärlich beleuchtete Straße hinunter, rechts neben
       uns liegt eine der letzten Brachen in Berlins Mitte. Im Film fährt Sonne
       hier auf dem Fahrrad, mit Victoria auf dem Gepäckträger. Sie hält sich an
       ihm fest, die anderen Jungs rennen neben dem Fahrrad her. 
       
       Sie haben den Film in einer Nacht gedreht, am Stück. Wie funktioniert das? 
       
       Schipper bleibt stehen, krümmt sich nach vorne, zurück, wirft die Hände in
       die Luft und schreit: „AAAAAAH!“ Dann hält er sich an der Laterne fest. 
       
       Ehrlich gesagt, ich kann diese Frage nicht mehr hören. Ich habe sie
       wahrscheinlich schon zweihundertmal beantwortet. Ich komme mir manchmal vor
       wie ein Staubsaugervertreter, wie einer, der ein Produkt verkaufen soll.
       Aber ich habe „Victoria“ gemacht, weil ich einen Film machen wollte, der
       ausbricht, der mit den Regeln des Filmemachens bricht.
       
       Aber warum haben Sie dann das Interview zugesagt? Um den Film zu
       vermarkten?
       
       Die Zuschauerzahlen von „Victoria“ hat ein Film wie „Er ist wieder da“ an
       einem einzigen Wochenende. Ich glaube nur, wir müssen eine andere Sprache
       finden, sonst wird das nichts.
       
       Wie können wir denn anders über Ihren Film reden? 
       
       Ich weiß nicht, ich rede ja eigentlich gern über Filme, die mich
       interessieren. Aber ich glaube, es ist falsch, alles immer rational
       erklären zu wollen. Ich wollte ja gerade einen Film machen, der auf andere
       Art funktioniert. Ich wollte eben kein Produkt herstellen.
       
       Filme sind doch eigentlich immer ein Produkt. 
       
       Aber es kommt doch darauf an, was am Anfang steht. Mir kommt es oft so vor,
       als sei die Bestie Film heute gezähmt. Alle denken nur darüber nach, wie
       man einen perfekten, einen erfolgreichen Film machen kann. Aber perfekt ist
       langweilig. Der schlechte Teil von langweilig, der tote.
       
       Sie drehen auch Werbung, zum Beispiel mit Mario Barth für Media Markt. 
       
       Damit erkaufe ich mir die Freiheit, andere Filme zu machen. Und ich finde
       Werbung ehrlicher als einen Film, der so tut, als wäre er künstlerisch, der
       sich dann aber nur als Produkt verkaufen soll.
       
       Haben Sie deshalb den Film in einem Take gedreht – damit er kein Produkt
       ist? 
       
       Wenn du einen normalen Film machst, filmst du jeden Tag ein, zwei Minuten,
       drehst jede Szene manchmal hundertmal, bis sie perfekt ist. Aber „Victoria“
       sollte eben nicht perfekt sein. Das geht auch gar nicht, wenn man einen
       Film in einem Take dreht.
       
       Eigentlich waren es drei Nächte und drei Takes, in denen „Victoria“ gedreht
       wurde. Um 4.30 Uhr begannen jeweils die Dreharbeiten, der Film dauerte bis
       zum Sonnenaufgang, zwei Stunden, 20 Minuten. Die erste Aufnahme war
       Schipper zu perfekt, die zweite zu chaotisch, die dritte genau richtig. 
       
       Was war beim dritten Take schließlich anders? 
       
       Beim dritten Take habe ich gesagt: Ihr müsst aufhören zu spielen. Ihr kennt
       euch schon zu gut. Ihr müsst zurück zu dem Moment, in dem ihr euch
       kennengelernt habt. Ihr müsst zurück in die Emotionen, die Laberei, das
       Verlieben, die Langeweile. Die Panik, die Todesangst.
       
       Der Film dauert gut zwei Stunden, doch es kommt einem vor, als hätten
       Victoria und die Jungs mehr als eine Nacht zusammen verbracht. 
       
       Wir können Zeit nicht verstehen. Wir können gucken, wir können riechen, wir
       können schmecken, wir können anfassen. Aber für die Zeit haben wir kein
       Organ.
       
       „Ich will mir Kaugummis kaufen“, sagt Schipper plötzlich und geht in
       Richtung eines Spätis, dem einzigen leuchtenden Ort inmitten der dunklen
       Straße. Im Film klauen Sonne und Victoria hier ein paar Flaschen Bier, weil
       der Verkäufer auf dem Stuhl schlief. Heute steht ein breitschultriger Mann
       mit großen Pranken und gebrochener Nase hinter dem Tresen, Kamer Senel, ihm
       gehört der Laden.
       
       Senel stellte nicht nur den Späti für den Film zur Verfügung, er spielte
       darin auch eine kleine Rolle, den Türsteher im Nachtclub. Er erkennt
       Schipper sofort. 
       
       Senel: Ey, Alter, was geht? 
       
       Schipper: Hey, Kamer, Hast du eins auf die Nase gekriegt? 
       
       Senel: Ach, das ist nix. Lang nicht gesehen! Hier kommen jetzt immer die
       Leute her, um Selfies mit mir in dem Kiosk zu machen. Ist gut für den
       Umsatz. Und, alles klar bei dir? Amerika, hab ich gehört? Machst jetzt
       richtig Business, wa? 
       
       Schipper: Ja, früher oder später werde ich da mal drehen. 
       
       Senel: Und für den Oscar seid ihr nicht nominiert, wegen zu viel Englisch,
       hab ich gelesen. 
       
       Schipper: Aber für den europäischen Filmpreis. Total gaga. 
       
       Senel: Glückwunsch! Du wolltest mir immer mal Karten vorbeibringen, aber
       ist nicht so schlimm. 
       
       Schipper: Du hast doch nie Zeit! Aber ich bring dir ’ne DVD vorbei, ist das
       ein Wort? 
       
       Schipper zahlt die Kaugummis und verabschiedet sich mit Handschlag. 
       
       Warum gibt es im Film eine Szene im Späti? 
       
       Die war nicht so geplant, im ersten Take kommt die noch nicht vor. Aber wir
       fanden, dass Victoria und die Jungs schon gleich am Beginn des Films etwas
       zusammen erleben sollten. Ich glaube, die Idee kam von Freddy.
       
       Wir gehen über die Straße. Auch im Film stehen sie hier im gelben Licht der
       Laterne. Die Jungs versuchen, Victoria zu beeindrucken, mit Tricks, mit
       Sprüchen. Sie ärgern sich, prügeln sich mit ein paar Kerlen, die
       vorbeikommen. „Hier spacken sie auf der Straße rum“, sagt Schipper. Der
       Fotograf will ein Foto machen. 
       
       David Oliveira: Können wir hier ein Foto machen? Kannst du dich hier
       hinstellen? Danke. Kannst du mir ein Gefühl zeigen, dass du mit deinem Film
       verbindest? 
       
       Nein, das mache ich nicht. Das ist auch das Gegenteil von dem, was
       „Victoria“ sein soll, Gefühle künstlich herzustellen, um damit etwas zu
       bebildern.
       
       Die beiden diskutieren noch ein wenig herum, Schipper erklärt, er habe
       nicht mit der Schauspielerei aufgehört, um sich nun wieder dazu nötigen zu
       lassen. Außerdem würden am Ende alle ohnehin immer das Bild mit ihm auf dem
       Dach haben wollen, das wir noch besteigen werden. 
       
       Schipper begann als Schauspieler, seine bekannteste Rolle hatte er in Tom
       Tykwers „Drei“, ein Film über eine Dreiecksbeziehung. Zuletzt spielte er im
       „Tatort“ an der Seite von Wotan Wilke Möhring. Er stieg aus. Der „Tatort“
       sei für ihn indiskutabel, hatte er einmal gesagt, man hätte ihn dort wie
       einen Querulanten behandelt. Schon vor Jahren erzählte er in Interviews,
       dass ihm das Spielen körperliche Schmerzen bereitet. 
       
       Heute kann man das Gefühl bekommen, Interviews bereiteten ihm dieselben
       Schmerzen. Der Erfolg von „Victoria“ scheint ihn genau dorthin
       zurückzuführen, woraus er fliehen wollte. In den Zwang, sich verkaufen zu
       müssen, in den Kommerz. 
       
       „Es war ein Segen, einen Film mit so wenig Geld zu machen“, sagt Schipper.
       Als die Schauspieler bei den Dreharbeiten durch das nächtliche Berlin
       fuhren, lag Schipper im Kofferraum. 
       
       Wir laufen weiter, endlich aufs Dach. Schipper geht zügig voraus, er will
       das Interview schnell hinter sich bringen. Er betritt den Hinterhof.
       Ringsherum ragen Plattenbauten in den dunklen Himmel. Von hier aus klettern
       Victoria und die Jungs aufs Dach. Später im Film findet hier eine
       Schießerei statt. 
       
       Schipper klopft an der Tür der Hausmeisterin. „Wie immer zu spät“, keift
       sie beim Öffnen. Dann sieht sie Schipper und strahlt. „Ah, Herr Schipper,
       da freu ich mich aber. Das is ja schön, dass Sie mal wieder vorbeikommen.“ 
       
       Haben Sie den Film gesehen? 
       
       Hausmeisterin: Ne, ich hab den noch nicht gesehen, aber alle hier im Block
       schwärmen davon.
       
       Die Hausmeisterin gibt Schipper den Schlüssel fürs Dach, wir fahren mit dem
       Aufzug hoch. Im Film ist das eine der wenigen Szenen, in denen man nur
       Musik hört, kein Gespräch. Oben zeigen die vier Jungs Victoria ihr Dach.
       Sie haben sich Plastikstühle besorgt, sie trinken, sie reden, sie rauchen. 
       
       Eine Luke im siebten Stock führt hinauf. Schipper macht sich ganz lang, um
       hinzukommen. Er zieht die Leiter herunter, klettert voran. Oben, im Himmel
       über Berlin, entspannt sich seine Miene etwas. Er deutet auf die Tür, sagt:
       „Da kamen sie raus, die Spinner. Hier ist Fuß über das Geländer
       geklettert.“ 
       
       Ihre Filme handeln immer von jungen Menschen. 
       
       Schipper: Ich denke oft, die Werkseinstellung von Menschen ist, dass sie
       solidarisch sind. Junge Menschen haben das. Irgendwann wird ihnen
       beigebracht, dass sie sich um sich selbst kümmern müssen, dass sie
       erwachsen sein sollen, vernünftig.
       
       Was hat Filmemachen mit Solidarität zu tun? 
       
       Viel! Ich glaube, dass wir nur gute Dinge erschaffen können, wenn wir
       zusammenarbeiten. Diese Einzelkämpfernummer, daran glaube ich nicht. Auf
       jeden Fall nicht auf Dauer.
       
       Hier oben hat man ein tolles Berlin-Panorama. In Ihrem Film verzichten Sie
       auf die üblichen Bilder: Mauer, Fernsehturm, Spree – und trotzdem gilt er
       als der neue Berlin-Film. 
       
       Ich wollte keinen Berlin-Film drehen. Aber ich finde dieses Viertel hier
       gut. Wer ist reich in Europa? Deutschland. Berlin ist die Hauptstadt, und
       die Friedrichstraße ist mittlerweile die teuerste Einkaufsstraße der Stadt.
       Hier haben die großen Marken ihre Flagshipstores. Da drüben, wo es hell
       ist. Aber hier, an diesem Ende der Friedrichstraße, ist es dunkel und
       ärmer. Das ist der Ghettoteil.
       
       Ausgerechnet hier treffen sich die kleinkriminellen Jungs und die in
       Spanien gescheiterte Victoria. 
       
       Eben! Berlin ist heute eine Art Zufluchtsort für viele junge Leute dieser
       Welt, hier können sie noch halbwegs in Würde leben. Die Welt sagt den
       jungen Menschen doch heute: Eigentlich brauchen wir euch gar nicht. Auf
       jeden Fall die meisten nicht. Sie sind die erste Generation, bei der klar
       ist, dass sie es einmal nicht besser haben werden als ihre Eltern.
       
       So einen Film wie „Victoria“ kann man nur einmal machen. Macht Sie das
       traurig? 
       
       Nein. Ich nehme viel mit für meine nächsten Filme.
       
       Was? 
       
       Dass es gut ist, auch mal die Kontrolle abzugeben. Ich glaube nicht mehr an
       den Regisseur als den großen Dompteur.
       
       Woran arbeiten Sie denn? 
       
       Das verrate ich nicht.
       
       Wir klettern wieder herunter vom Dach, gehen zurück zum Club, der
       eigentlich eine Lagerhalle ist. Vor seinem Auto, einem alten Jeep, bleibt
       Schipper stehen. „Also dann, bis bald. Na ja. Vielleicht, mal gucken.“ 
       
       Er zuckt mit den Schultern, steigt in sein Auto und fährt weg.
       
       24 Dec 2015
       
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