# taz.de -- Debatte Bedrohung und Terror: Krieg der Angstmacher
       
       > Nicht Orte der Macht fielen dem Terror in Paris zum Opfer, sondern Orte
       > des Spiels. Die Attacken bedrohen die Vielfalt der Lebensformen.
       
 (IMG) Bild: Der Pariser Osten steht für soziale Durchlässigkeit, die in der französischen Metropole wie auch in allen anderen europäischen Großstädten zunehmend bedroht ist
       
       Schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres wurde Paris Schauplatz eines
       mörderischen Terroranschlags. Doch wem oder was galt hier überhaupt der
       Angriff? Die Vergleiche mit dem 11. September hinken: es ist gerade keine
       symbolträchtige Machtzentrale, die hier ins Fadenkreuz genommen wurde,
       weder World Trade Center noch Pentagon.
       
       In Paris wurde am Freitagabend nicht der Präsidentenpalast als
       Anschlagsziel auserkoren, und genauso wenig das Finanzzentrum La Défense,
       der Eiffelturm oder strategische Verkehrsknotenpunkte. Im Visier war der
       Pariser Osten, dieser besonders offene, lebensfreudige und durchmischte
       Teil der Stadt, in dem experimentelle und riskantere Lebensformen ihren
       Platz hatten und in dem Hautfarbe, Herkunft oder Bildungsstand zur
       Nebensache wurden.
       
       Warum gerade dieses Paris angegriffen wurde, dafür ließen sich zwei
       Erklärungen angeben, und die erste, pragmatische, hört man gegenwärtig oft:
       An allen strategisch gefährdeten Orten herrschten spätestens seit den
       Januar-Anschlägen Sicherheitsvorkehrungen, die terroristische Aktionen
       grundsätzlich erschwert hätten. Übrig blieben all jene Teile der Republik,
       die auch durch erhöhte Sicherheitsmaßnahmen niemals zu schützen sein
       werden; es ist das berühmte Restrisiko an den Rändern.
       
       Doch was wäre, wenn der Angriff auf den Pariser Osten keine
       Verlegenheitslösung darstellte, sondern die Attentäter hiermit auf das Herz
       dessen zielten, was Demokratie ausmacht und was fanatische Ideologien wie
       diejenige des IS noch nachhaltiger bedroht als Kampfjets und Bomben?
       
       Tatsächlich gibt es im Osten noch ein wenig mehr von dieser sozialen
       Durchlässigkeit, die in der französischen Kapitale wie auch in allen
       anderen europäischen Großstädten zunehmend bedroht ist, hier mischten sich
       an Wochenenden in den unzähligen Bars Studenten, Lebenskünstlerinnen und
       digitale Bohemiens mit ausgehhungrigen Jugendlichen aus der nahen Banlieue.
       Vielleicht saßen einige der Attentäter vor ein paar Jahren noch selbst auf
       einigen dieser Terrassen, vielleicht waren sie selbst bei Live-Gigs im
       Konzertsaal Bataclan gewesen, in denen man am Eingang bekanntermaßen nicht
       nach Aussehen oder Kleidung aussiebte. Attentäter und Opfer – das ist hier
       das Verstörende – gehörten ein und derselben Generation an.
       
       ## Gegenwartsverdrossenheit
       
       Nicht dass im Pariser Osten die Welt noch heil gewesen wäre:
       Jugendarbeitslosigkeit, steigende Mieten und allgemeine Prekarisierung
       hinterlassen unverkennbare Spuren und würden gut in das Bild einer
       Gesellschaft passen, die gern zur Selbstgeißelung neigt. Genau davon ist
       jedoch an Feierabenden wie an jenem Freitag wenig zu spüren, so als gelte
       es, jener zum guten Ton gehörenden Gegenwartsverdrossenheit zu trotzen und
       für ein paar Stunden schlicht das zwanglose Zusammensein zu zelebrieren.
       
       Genau dieses Frankreich war es, das ins Fadenkreuz der Dschihadisten
       geriet. Nicht Orte der Macht fielen dem Terror zum Opfer, sondern Orte des
       Spiels: Orte, an denen Musik gespielt wurde, Restaurants wie das Petit
       Cambodge, die mit kulinarischem Cross-over experimentierten, Bühnen, auf
       denen mit Identitäten und Masken gespielt wurde (am Samstagabend wäre im
       Bataclan wieder eine Queer-Party ausgetragen worden).
       
       An solchen Orten finden Begegnungen statt, man reibt sich, kommt sich näher
       oder löst sich auch wieder voneinander, nicht immer nur harmonisch, doch
       vor allem wird die Pluralität möglicher Lebensentwürfe erfahren. Es ist
       diese Vielgesichtigkeit der Existenzen, welche die Ideologen des
       erzwungenen Einheitsdenkens nachgerade verunsichert und welche diese im
       Gegenzug mit Terrorherrschaft und inszenierter Barbarei zu beunruhigen
       versuchen.
       
       Wenn diese Analyse stimmt, und die Ideologie des „Islamischen Staates“
       letztlich weniger die Schwächen der spielerischen Demokratie ausnutzt, als
       sie ihre eigentliche Stärke im Kern treffen will, dann müssen die ersten
       politischen Reaktionen letztlich ins Leere laufen. Die martialische
       Rhetorik, mit der der französische Präsident nun auf die „Kriegserklärung“
       antwortet, erinnert verdächtig an die Wortwahl von George W. Bush im Irak,
       und die Intensivierung der Luftangriffe in Syrien kann nur das
       Opfernarrativ bekräftigen, aus dem der IS-Militärapparat einen Teil seiner
       Legitimität bezieht. Denn die chirurgischen Präzisionsschläge
       ferngesteuerter Drohnen müssen unweigerlich den Selbstmordattentäter als
       Komplementärfeind erzeugen. Das Leben selbst ist die Währung, mit der hier
       bezahlt wird, und keine noch so verfeinerte Kriegstechnologie wird der
       symbolischen Überlegenheit eines solchen Aufopferungsakts jemals beikommen
       können.
       
       ## Diversität verteidigen
       
       Es dürfte indes tendenziell schwieriger werden, sich gegen die
       lebensverneinenden Kräfte in naher Zukunft zu wehren, denn dort, wo
       Menschen zusammenkommen, ob politisch oder zum Spiel, werden sie zu
       potenziellen Zielscheiben. Dass Präsident Hollande ausgerechnet zu einer
       Maßnahme greift, die im 20. Jahrhundert vornehmlich totalitären Regimen
       diente, nämlich zur Verhängung des Ausnahmezustands, muss Grund zur
       Besorgnis sein. Wenn die Versammlungsfreiheit in den kommenden Monaten
       tatsächlich eingeschränkt werden sollte, ob nun rechtlich oder schlicht aus
       Selbstschutz der Bürger (immer mehr Pariser meiden nun öffentliche Orte) –
       die Attentäter hätten ein Stück weit schon gewonnen.
       
       Genau hierin wird in Zukunft die Herausforderung liegen, für Frankreich und
       für andere Gesellschaften, die sich als demokratisch begreifen. Nicht von
       außen kommt die Bedrohung, es geht nicht um barbarische Horden, die an den
       Toren Europas lagern.
       
       Der eigentliche Kampf wird sich ganz woanders abspielen, im Innern, ob die
       Angstmacher siegen werden oder ob Europa bereit sein wird, jene Diversität
       weiter zu verteidigen, die es stark und verwundbar zugleich sein lassen.
       Die Anschläge von Paris waren eine Kriegserklärung an die Vielfalt der
       Lebensformen. Was von dieser Vielfalt und von ihren Spielräumen übrig
       bleiben wird, daran wird sich der Sinn der europäischen Demokratie in den
       nächsten Jahren messen lassen müssen.
       
       20 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Emmanuel Alloa
       
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