# taz.de -- Kommentar Flüchtlingsdeal mit Türkei: Ein absolutes Armutszeugnis
       
       > Erdoğan soll Flüchtlinge abwehren. Im Gegenzug fordert er Geld und
       > Anerkennung. Die EU darf seine undemokratische Politik nicht belohnen.
       
 (IMG) Bild: Sicherer Herkunftsstaat Türkei: Immer wieder setzt die Polizei Tränengas gegen oppositionelle Demonstranten ein.
       
       Die Financial Times, nicht gerade bekannt für eine besonders
       menschenrechtsorientierte Haltung, schrieb am Donnerstag abfällig:
       Bundeskanzlerin Merkel wird den türkischen Präsidenten Erdoğanbei ihrem
       Besuch am Sonntag [1][mit Geschenken überschütten]. Diese Einschätzung wird
       wohl richtig sein. Merkel fühlt sich innenpolitisch so unter Druck, dass
       sie außenpolitisch keinerlei Hemmungen mehr hat, alle Vorbehalte, die sie
       bislang gegen die Türkei und vor allem gegen Erdoğan persönlich hatte, über
       Bord zu werfen.
       
       Wenn Merkel in den vergangenen Tagen gefragt wurde, was denn ihr Plan sei,
       um die Zuwanderung von Flüchtlingen in „geordnete Bahnen“ zu lenken, fiel
       ihr vor allem eines ein: Die Außengrenzen der EU müssen wieder dicht
       werden. Da die meisten Flüchtlinge die EU derzeit über die Türkei
       erreichen, wird in ihren Augen Präsident Erdoğan zum unvermeidlichen, ja
       wichtigsten Partner bei diesem Vorhaben.
       
       Anfang Oktober hat Erdoğan in Brüssel bereits klar gemacht, dass seine
       sogenannte Hilfe [2][nicht umsonst zu haben] ist. Außer dass nun etliche
       Milliarden für den Bau neuer Flüchtlingslager in der Türkei überwiesen
       werden sollen, drängt er auf die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen
       und den seit langem versprochenen Visaerleichterungen für Reisen türkischer
       Staatsbürger in die EU.
       
       Beim Brüsseler Gipfel am Donnerstag deutete sich an: Erdoğan wird bekommen,
       was er will. Lediglich die Höhe der Finanzhilfen ist noch strittig. Darüber
       hinaus erwartet der türkische Präsident von Merkel aber auch eine
       Unterstützung seiner Syrienpolitik, insbesondere die Einrichtung einer
       [3][Sicherheitszone entlang der türkisch-syrischen Grenze] nicht zuletzt um
       so die PKK und die syrischen Kurden wirkungsvoller bekämpfen zu können.
       
       ## Moralisch und realpolitisch fatal
       
       Außerdem verbittet sich Erdoğan zukünftige Mäkeleien über seinen
       undemokratischen Regierungsstil und die massive Unterdrückung jeglicher
       Opposition einschließlich der Gängelung der türkischen Medien.
       Unterstrichen werden soll dieses Bekenntnis dadurch, dass die EU die Türkei
       zu einem sicheren Herkunftsland erklärt und damit quasi als demokratischen
       Staat zertifiziert.
       
       Dies wäre freilich ein Hohn; seit dem Militärputsch 1980 war das Land für
       Kurden, aber auch für säkulare Oppositionelle nicht mehr [4][so unsicher
       wie jetzt]. Auch die Unterstützung der Kriegspolitik gegen die Kurden wäre
       nicht nur moralisch, sondern auch realpolitisch ein absolutes
       Armutszeugnis. Ganz abgesehen davon, dass diese Kriegspolitik nach Jahren
       der Entspannung wieder unendliches Leid über das Land bringt, birgt sie
       auch das Risiko, die Türkei vollends in den Strudel des syrischen
       Bürgerkriegs hineinzuziehen und damit erst recht neue Flüchtlingswellen
       auszulösen.
       
       So sehr eine Wiederannäherung der Türkei an die EU zu begrüßen ist, so sehr
       schadet sie langfristig beiden Seiten, wenn sie zu Erdoğans Bedingungen
       betrieben wird. Man darf Erdoğans undemokratische und repressive Politik
       nicht belohnen, schon gar nicht, um dann gemeinsam mit ihm eine
       unmenschliche Flüchtlingspolitik an der türkisch-griechischen Grenze
       durchzusetzen. Merkel will keinen Stacheldraht innerhalb Europas – das ist
       gut und richtig, verliert aber seinen humanen Anspruch, wenn man
       stattdessen den Stacheldraht an Europas Außengrenze hochzieht.
       
       Weil Merkel ausschließlich aus innenpolitischen Erwägungen handelt, mischt
       sie sich auch noch in den türkischen Wahlkampf ein. Für die gesamte
       Opposition ist es wie ein Schlag ins Gesicht, dass die deutsche Kanzlerin
       nicht einmal mehr die Wahl am 1. November abwartet, um dann mit einer
       neuen, legitimen Regierung zu verhandeln, sondern ohne jede demokratische
       Rücksicht den Despoten Erdoğan international und damit auch in den Augen
       der türkischen Wähler aufwertet, indem sie so tut, als spielten die Wahlen
       für Erdoğans Macht oder Ohnmacht gar keine Rolle.
       
       16 Oct 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.ft.com/intl/cms/s/0/ba4ce796-7348-11e5-bdb1-e6e4767162cc.html#axzz3oj02FIDw
 (DIR) [2] /Gespraeche-der-EU-mit-Erdogan/!5235291/
 (DIR) [3] /Erdo%C4%9Fan-und-die-Fluechtlinge/!5238695/
 (DIR) [4] /Nach-den-Anschlaegen-in-Ankara/!5240941/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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