# taz.de -- 100 Jahre Gegenwart im HKW: Uns entgleitet die Zeit
       
       > Zum Auftakt des Projekts „100 Jahre Gegenwart“ entwirft das Berliner Haus
       > der Kulturen der Welt einen vielgestaltigen Möglichkeitsraum.
       
 (IMG) Bild: Zelte aus Tüchern: Reto Pulvers Installation „Dehydrierte Landschaft des Zustands“.
       
       Schneller, immer schneller! Menschen müssen einen Zeitplan befolgen,
       Fristen einhalten, immer mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen. Wir dürfen
       nichts verpassen! Daten kämpfen um unsere Aufmerksamkeit. Stress! Mit
       Listen und Plänen versuchen wir die Zeit zu kontrollieren, doch sie
       entgleitet uns. Visionen der Zukunft verschwinden am Horizont. Wir müssen
       pünktlich sein, versuchen Schritt zu halten. Um Zeit zu sparen, entwickeln
       wir Technologien, die jedoch das Gegenteil bewirken: Unser Leben
       beschleunigt sich.
       
       Dem Phänomen der Beschleunigung setzt das Haus der Kulturen der Welt (HKW)
       nun das auf vier Jahre angelegte Langzeitprojekt „100 Jahre Gegenwart“
       entgegen. Es beschäftigt sich mit den Gegenwarten der letzten hundert
       Jahre. Es gehe dabei nicht um eine Erinnerungskultur, betont Intendant
       Bernd Scherer bei der Eröffnung am Mittwoch, sondern um einen
       Möglichkeitsraum. Die Potenziale der Vergangenheit für unsere heutige Welt
       stehen im Vordergrund. Was können wir aus früheren Prozessen und
       Entscheidungen lernen?
       
       Zum Auftakt hat das HKW KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und
       ZeitbeobachterInnen eingeladen. Fünf Tage lang fanden Vorträge statt, gab
       es Installationen, Performances und Konzerte. Das komplexe Themengebiet
       präsentierten sie auf hohem künstlerischem und wissenschaftlichem Niveau,
       weshalb es nicht immer einfach war zu folgen. Manche RednerInnen ratterten
       ihre vor Fachbegriffen strotzenden Texte hinunter. Durch die Vielfalt des
       Angebots bekamen jedoch alle die Chance, einen Zugang zu finden.
       
       Den Willen zur Entschleunigung spürt man bereits im Foyer, das der
       Schweizer Künstler Reto Pulver in eine Landschaft aus Tücherzelten
       verwandelt hat. Die großräumige Installation „Dehydrierte Landschaft des
       Zustands“ lädt ein, zur Ruhe zu kommen. In einer Performance spielt ein
       Mann darin stundenlang Entspannungsmusik auf einem weißen Digitalflügel.
       Daneben befindet sich eine abstrakte Massageliege. Ein Brunnen plätschert.
       
       Noch psychedelischer war die Performance „Anti-forward“. In einer der
       Höhlen aus Batiktüchern sitzen und liegen die BesucherInnen auf dem
       Teppichboden. Es wird Tee herumgereicht. Reto Pulver entlockt seiner
       E-Gitarre besänftigende Klänge. Seine Künstlerkollegin Mia von Matt spricht
       mit betörender Stimme: „faint, far between long and death, turbulent
       stream“.
       
       ## Reale und imaginäre Traumata
       
       Neben dem Thema Zeit beschäftigte sich das HKW mit den Zusammenhängen
       technologischer, menschlicher und natürlicher Kräfte. Technosphäre nennt
       der Geowissenschaftler Peter K. Haff dieses Zusammenwirken. In seinem
       unterhaltsamen Vortrag erklärt er mit Strichmännchen-Zeichnungen, dass die
       Technologie eine gewisse Autonomie besäße. Er vergleicht den Menschen mit
       einem Molekül in einer Welle. Die Moleküle hätten die Welle kreiert, aber
       folgten ihrer Bewegung. Viele Menschen würden glauben, wir könnten
       Technologie kontrollieren. Autorität hätten wir jedoch nur lokal. Das
       System steuere sich selbst.
       
       Was beeinflusst wen, fragt man sich auch beim „komprovisierten“ Konzert am
       Donnerstag, bei dem Mensch und Maschine konkurrieren. Felix Del Tredici
       lässt seine Alt-Posaune heulen, flattern und wummern. Ein Computer reagiert
       mit ähnlichen Klängen und fordert ihn heraus. Der Komponist Navid Navab
       manipuliert wiederum den Computer. Daraus entsteht eine interaktive
       Mischung aus Wettkampf und Zusammenspiel, Komposition und Improvisation.
       
       Einen weiteren Schwerpunkt bildete das Thema Krieg. Die Anthropologin Lucy
       A. Suchman untersucht, was reale und imaginäre Traumata miteinander
       verbindet. In einem Video sieht man, wie US-Soldaten in einer Simulation
       trainieren, um sich auf den Einsatz im Irak vorzubereiten. Ihre Gesichter
       sind voller Angst, sie atmen schnell. Nach der Übung erzählt ein G.I., dass
       er einen Zivilisten getroffen hätte. Er lächelt verlegen. „I’m glad it only
       happened on the screen.“
       
       Hervorragend waren die drei Konzerte. Die Münchner Band F.S.K. fasziniert
       mit einem Rhythmus, der klingt, als würde eine Horde Soldaten im gleichen
       Tempo rennen. Am Ende zertrümmert der Schlagzeuger mit einem Beil das
       Klavier, auf dem er zuvor noch gespielt hat. In ihrem rockigen Konzeptalbum
       zeigt die Hamburger Band Trümmer die Gefahren von Ideologien auf. Sie
       erzählt die Geschichte des jungen Vincent, der – orientierungslos und auf
       Sinnsuche – in den Krieg im Nahen Osten zieht. „Kalifat errichtet!“, ruft
       der Sänger Paul Pötsch mit seiner ausdrucksstarken Stimme.
       
       ## Bedrohliche Geräusche
       
       Auf die Spitze treibt es das Solisten-Ensemble Zeitkratzer mit seiner
       „Vaterländischen Ouverture“. Sie kreieren eine bedrohliche Geräuschkulisse
       und Musikstücke, die vor 100 Jahren für den Krieg begeistern sollten. Der
       Schauspieler Maximilian Brauer singt voll Patriotismus zu den Stücken von
       Bach und Wagner. Beim letzten fordert er das Publikum auf, sich zu erheben
       und mitzusingen. Eine absurde Situation entsteht.
       
       HKW-Intendant Bernd Scherer erklärt, dass der Erste Weltkrieg der erste
       Konflikt gewesen sei, der mit Armbanduhren geführt wurde. Dies ermöglichte
       synchronisierte Kriegsführung. Es war der Beginn unserer heutigen
       Vorstellung von Zeit wie auch unseres kapitalistischen Denkens.
       
       6 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julika Bickel
       
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