# taz.de -- Historikerin über Migrationsmuseum: „Ängste zu Fragen wandeln“
       
       > Es muss einen Ort geben, an dem jenseits von angstmachenden Zahlen über
       > Zuwanderung diskutiert werden kann. Das sagt die Historikerin Simone
       > Eick.
       
 (IMG) Bild: Die Auswanderer, Gemälde von Théophile Schuler (Mitte 19. Jahrhundert) ​
       
       taz: Frau Eick, ist die Idee, ein Museum über Auswanderung zu machen, durch
       die aktuellen Entwicklungen überholt? 
       
       Simone Eick: Nicht, wenn man ein Museum als einen Ort begreift, an dem man
       nicht nur etwas über die Vergangenheit erfahren, sondern auch etwas für die
       Gegenwart lernen kann.
       
       Kann man bei Ihnen denn etwas für die jetzige Situation lernen? 
       
       Ja, eine ganze Menge. Man kann vor allem die aktuellen Migrationsbewegungen
       mit anderen, historischen vergleichen.
       
       Mit welchen? 
       
       Unsere Dauerausstellung spannt den Bogen von der Einwanderung der
       französischen Glaubensflüchtlinge, der Hugenotten, nach Preußen bis zu den
       Flüchtlingen des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien: Dazwischen haben
       wir sehr unterschiedliche Wanderbewegungen, da ist die Gruppe der 1848er,
       die mit ihren Vorstellungen von Freiheit in die USA aufgebrochen ist, und
       wir widmen uns der Flucht vor den Nazis.
       
       Flucht ist ein Dauerthema? 
       
       Das erste Forschungsprojekt zum Thema Flüchtlinge hatten wir im Jahr 2009:
       Damals hatten wir uns mit Afghanistan beschäftigt – und haben die damaligen
       Bewegungen mit der Ankunft der Boatpeople aus Vietnam in den 1970er Jahren
       verglichen: Was wir hier im Haus versuchen, ist, die jeweilige Bewegung zu
       relativieren. Wenn man das zu einer Aussage zusammenfassen will, dann ist
       das diese: Flucht gehört zum Menschsein dazu. Solange es Kriege gibt und
       gewaltsame Auseinandersetzungen, gibt es Flucht.
       
       Aber es gibt auch Unterschiede? 
       
       Selbstverständlich, schon in den Ursachen. Krieg ist nicht der einzige
       Fluchtgrund, sondern auch die ethnische oder die religiöse Verfolgung, die
       politische Verfolgung, der wir in den 1848er Jahren begegnen. Man schaut
       sich immer die Ursachen an, die in der Zeitgeschichte wurzeln …
       
       … es gibt doch auch natürliche Fluchtgründe! 
       
       Das ist richtig. Hunger spielt eine sehr wichtige Rolle, und neuerdings
       sprechen wir auch von Klimaflüchtlingen. Unsere Aufgabe ist es, diese
       Zusammenhänge kenntlich und nachvollziehbar zu machen. Deswegen machen wir
       seit einem Dreivierteljahr eine Oral-History-Reihe mit syrischen
       Bürgerkriegsflüchtlingen. Gleichzeitig interessiert uns aber auch die
       Sichtweise der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dafür haben wir jetzt fast
       600 Besucherinnen und Besucher befragt. Wir wollen herausfinden: Wo und wie
       entstehen Ängste, welche Wissenslücken sind dafür verantwortlich.
       
       Welche Erklärung haben Sie gefunden? 
       
       Erstens: Die Statistiken machen vielen Menschen Angst. Die Statistiken sind
       so komplex, die Zahlen, mit denen in ihnen umgegangen wird, so abstrakt,
       und gleichzeitig sind die Begrifflichkeiten, die sich in diesen
       Zahlenwerken spiegeln sollen: Duldung, Abschiebung, Aufenthaltsstatus,
       Ankünfte – damit können viele Menschen schlecht umgehen. Ich gebe Ihnen mal
       ein Beispiel: Wir haben unsere Besucherinnen und Besucher gefragt: Wissen
       Sie, wie vielen Asylanträgen in diesem Jahr, 2014, stattgegeben wurde, wie
       viele BewerberInnen aufgenommen wurden?
       
       Wie haben die Leute abgeschnitten? 
       
       Über 56 Prozent unserer BesucherInnen haben deutlich mehr angegeben, als
       tatsächlich aufgenommen wurden, über ein Viertel der Teilnehmenden hatte
       sogar die Vorstellung, es seien zwischen 300.000 und eine Million Menschen
       gewesen. Angesichts solcher Zahlenverwirrungen bekommt das Thema Angst eine
       andere Qualität.
       
       Was heißt das für das Museum? 
       
       Wir müssen solche Informationen transparent machen. Wir müssen die Ängste,
       die daraus entstehen, so umwandeln, dass die Leute eher anfangen, Fragen zu
       stellen. Gerade wenn man tagesaktuelle Ereignisse hat, muss es ja einen Ort
       geben, an dem, jenseits von Zeitungen und statistischen Instituten, darüber
       reflektiert werden kann.
       
       Und deshalb wurde der Fokus des Museums, der vor zehn Jahren bei der
       Gründung fast exklusiv auf der Auswanderung nach Amerika lag, geändert? 
       
       Als wir hier angefangen haben, hatten wir allein das Thema deutsche
       Auswanderungsgeschichte, das stimmt. Für uns als GestalterInnen und
       WissenschaftlerInnen war die Vorstellung, dass die aktuellen Bezüge so ohne
       Weiteres transferiert werden, also dass die BesucherInnen merken: Okay, das
       haben die Deutschen im 19. Jahrhundert so erlebt, und sehr viele Menschen
       erleben das in der Gegenwart. Aber das hat überhaupt nicht funktioniert.
       
       Hat sich die Gesellschaft gewandelt? 
       
       Als ich in den 1990er Jahren mit Migrationsforschung anfing, war das eine
       sehr kleine Nische in den Gesellschaftswissenschaften. In den 2000er Jahren
       hat die Gesellschaft begonnen, sich zu öffnen, wir führen Debatten von der
       Diskussion über das Kopftuch, über die Beschneidung bis hin zum Schächten
       und zum Kruzifix … Und das ist gut, denn der Fokus hat sich verschoben: Es
       geht bei diesen Debatten darum, wie wir zusammenleben – und nicht um die
       Frage: Wie viele wollen wir denn hier haben.
       
       Hilft es dabei, über Fluchtgründe nachzudenken – oder ermöglicht das nur
       neue Formen der Diskriminierung? 
       
       Ich denke, etwas über die Intention und die Motive der Menschen zu
       erfahren, die Situation in der sie sich befinden, und aus der sie kommen,
       ist hilfreich.
       
       Die Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtling“ wirkt aber stark stigmatisierend … 
       
       Das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ mag ich persönlich überhaupt nicht: Hunger
       ist eindeutig ein Fluchtgrund. Aber Hunger bewirkt derzeit vor allem eine
       innerafrikanische Migration. Die Menschen, die Hunger leiden und deswegen
       ihre Heimat verlassen, die schaffen es meistens nicht bis hier: Davon sehen
       wir hier in Deutschland allenfalls schreckliche Bilder. Diejenigen, die als
       Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden, sind meist Menschen, die stärker
       planen, wo oft die Familien zusammensitzen und entscheiden: Du gehst nach
       Europa, versuchst dort dein Glück zu machen und schickst uns Geld.
       
       Das ist keine Flucht? 
       
       Ich finde das Wort nicht passend: Das sind Menschen, die sehr genau
       überlegen, was will ich mit meinem Leben anfangen. Wo kann ich arbeiten –
       und damit etwas zum Wohle meiner Familie beitragen. Das ist etwas anderes,
       als wenn ich vor einer akuten Gefahr fliehe.
       
       Auch, weil die Reise selbst eine andere Form hat? 
       
       Wir haben hier Interviews geführt mit Flüchtlingen: mit Senioren, die über
       ihre Flucht im Zweiten Weltkrieg erzählen; mit ehemaligen Boatpeople und
       mit Syrern. Ihnen allen ist gemein, dass die Geschichten voller Adrenalin
       sind. Diese Angstgefühle verstummen nicht. Das ist der riesige Unterschied
       zur Arbeitsmigration, und man muss mit diesen Menschen auch unterschiedlich
       umgehen.
       
       3 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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