# taz.de -- 100 Tage Merkel & Westerwelle: Gelb war die Hoffnung
       
       > Der große Wahlgewinner hieß FDP. Doch nach 100 Tagen Regieren sind viele
       > Anhänger enttäuscht. Sie stört das Beharren auf Steuersenkung oder die
       > Vernachlässigung der Bürgerrechte.
       
 (IMG) Bild: Fängt der Herbst der FDP schon im ersten Regierungswinter an?
       
       "Freiheit" war der Grund, weshalb Martin Woestmeyer, heute 39, in die FDP
       eintrat. Und "Freiheit" ist der Grund, warum er jetzt wieder ausgetreten
       ist.
       
       18 Jahre alt war Woestmeyer, als auf dem Platz des Himmlischen Friedens die
       Panzer rollten. Freiheit, dachte er damals, ist das Einzige, das zählt -
       und wurde Mitglied der Partei, die das Wort "frei" im Namen trägt. Später
       saß er drei Jahre lang für die FDP in der Hamburgischen Bürgerschaft,
       engagierte sich in der Schulpolitik und kämpfte für die Rechte der
       Homosexuellen.
       
       Doch nur wenige Monate nach dem Triumph der FDP bei der Bundestagswahl trat
       Woestmeyer aus der FDP aus - und in die Piratenpartei ein. "Viele meinen,
       Macht macht sexy. Ich sehe das anders", sagt er. "Die FDP ist an der Macht
       unsexy geworden."
       
       Woestmeyer sitzt in einem Café an der Binnenalster, gegenüber ist das
       Thalia Theater, dessen Kundenzentrum er leitet. Er bestellt einen
       Karamell-Macchiato und erzählt, warum er nach 20 Jahren die FDP verlassen
       hat. Es sind mehrere Dinge, die zusammenkamen. Zum Beispiel, dass
       ausgerechnet Dirk Niebel Entwicklungsminister wurde, obwohl der als
       FDP-Generalsekretär immer gepoltert hatte, das Ministerium solle
       abgeschafft werden. Und dann dieses ständige Steuersenkungsmantra, seit der
       Wahl schien es nur noch um dieses eine Thema zu gehen. "Ziemlich bieder"
       findet Woestmeyer das. Das Thema, das ihm am Herzen liegt, rutschte
       hingegen auf der Prioritätenliste nach hinten: die Bürgerrechte.
       
       Woestmeyer hatte gehofft, dass mit der FDP an der Regierung Schluss sein
       würde mit der ständigen Verschärfung der Sicherheitsgesetze. Doch bei der
       ersten Gelegenheit gaben die Liberalen gegenüber der Union nach. Und so hat
       die Misere der ersten hundert Tage Schwarz-Gelb für Woestmeyer einen Namen:
       Swift. So wird das Abkommen genannt, das US-Fahndern Einblicke in
       europäische Bankdaten sichert, die schwarz-gelbe Regierung hatte es nicht
       verhindern wollen. Woestmeyer hatte genug. Per Twitter-Nachricht
       zwitscherte er es im Dezember in die Welt hinaus: "Ahoi! Ich bin der
       Piratenpartei beigetreten!"
       
       Er ist nicht der einzige Liberale, der mit den ersten hundert Tagen
       Schwarz-Gelb unzufrieden ist. Bei der Bundestagswahl erreichte die FDP mit
       14,6 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Inzwischen, so sagt es
       das Umfrageinstitut Forsa, würde die Partei ein gutes Drittel Stimmen
       weniger bekommen.
       
       Hinter dem hohen Wahlergebnis für die FDP steckten offenbar völlig
       unterschiedliche Erwartungen. Nun ärgern sich die einen über den Eindruck
       des Klientelismus, den die FDP mit der Senkung der Mehrwertsteuer für
       Hotelübernachtungen erweckt hat; und die anderen schimpfen über die
       tollpatschigen Auftritte von Wirtschaftsminister Rainer Brüderle. Den einen
       stinkt das Beharren auf Steuersenkungen trotz der Rekordneuschulden; den
       anderen aber können sie gar nicht schnell und weit genug gehen.
       
       Hilzingen. Eine 8.500-Einwohner-Gemeinde in Baden-Württemberg, an der
       Grenze zur Schweiz. Der Südwesten war schon immer eine Hochburg der
       Liberalen. Aber nirgendwo in ganz Baden-Württemberg haben so viele die FDP
       gewählt wie in Hilzingen: 31 Prozent.
       
       Hilzingen ist die Heimat von Birgit Homburger, der FDP-Fraktionschefin im
       Bundestag. "Gemeinde mit Tradition und Fortschritt" nennt sich der Ort.
       Gerade einmal 167 Arbeitslose gibt es hier, im Gewerbegebiet reiht sich
       eine mittelständische Firma an die andere: Heldele Elektrotechnik, die
       Oberbadische Filzfabrik, Renfert Dentaltechnik.
       
       Andreas Puchstein, 41, ist der Vorsitzende des Gewerbevereins Hilzingen. Er
       vertritt 80 Unternehmer. "L.E.I.S.T.U.N.G." steht auf der Internetseite des
       Vereins. Puchstein selbst betreibt ein Landschaftsbauunternehmen, zwischen
       zwei Terminen hat er sich etwas Zeit genommen, er kommt in grüner
       Landschaftsgärtnermontur. Was er von der Arbeit der neuen Regierung hält?
       "Da müsste endlich mal einer auf den Tisch hauen." Wer als Unternehmer in
       Deutschland etwas auf die Beine stellen wolle, werde nur "geknechtet und
       geknebelt". Durch zu hohe Steuern und Abgaben und eine überbordende
       Bürokratie, so sieht es Puchstein. Kein Wunder, dass sich da manche in die
       Schweiz oder nach Österreich verabschiede. "Irgendwann hat der Staat den
       Bürgern das ganze Geld weggenommen."
       
       Puchstein trat der FDP im Jahr 2004 bei. Es war die Hoch-Zeit eines
       neoliberalen schwarz-gelben Projekts, als Friedrich Merz für die Union die
       Bierdeckel-Steuererklärung forderte und die FDP gleich die vollständige
       Abschaffung des bisherigen Steuerrechts. Es war die Zeit, in der der Staat
       gar nicht schlank genug sein konnte. 2005 wollte der Wähler Schwarz-Gelb
       nicht, für viele kam das überraschend. Beobachter nennen die jetzige
       Regierung deshalb auch eine verspätete Koalition. Doch seit der Staat in
       der Finanzkrise die Banken retten musste, hat sich der Zeitgeist völlig
       verändert.
       
       Wenn man sich mit Puchstein unterhält, wird schnell klar, dass er sich
       dennoch dieses alte schwarz-gelbe Projekt herbeigesehnt hatte - Krise hin
       oder her. Bierdeckelsteuer? Findet er immer noch gut. Subventionen hält er
       für Marktverzerrungen. Und ginge es nach ihm, würden Sozialleistungen
       genauso drastisch gekürzt wie die Stellen in der Verwaltung. "Ich bin
       radikal", sagt Puchstein.
       
       Es waren aber nicht allein die Puchsteins der Republik, die der FDP ihren
       Wahlerfolg bescherten. Sondern auch Teile eines großstädtischen
       "Kreativbürgertums", das die Medien bei der Wahl ausfindig gemacht hatten.
       In Berlin-Mitte etwa, in Galerien und den Restaurants "Borchardt" und
       "Grill Royal", aber auch im bürgerlichen Teil Kreuzbergs, am Landwehrkanal,
       wo renovierte Altbauten stehen und Musiklabels, Grafiker und Werber ihre
       Büros unterhalten.
       
       Dort hat auch Marcus Börner, 24, seine Firma, eine Internetplattform zum
       Handel mit gebrauchten Videospielen und DVDs, die er zusammen mit seinen
       WG-Kumpels hochgezogen hat. Inzwischen haben sie mehr als 50 Mitarbeiter.
       Börner trägt abgewetzte Jeans, Turnschuhe, Hemd und Füntagebart. Er fährt
       ein klappriges Damenrad und ist gegen Atomkraft. In seiner Firma gibt es
       jeden Mittwoch Obst für alle, und wer nachts den Computer anlässt, muss
       Strafe zahlen wegen Energieverschwendung. Man würde vermuten, dass einer
       wie er die Grünen wählt. Doch auch er hat die FDP gewählt, und wenn man mit
       ihm redet, ist das doch recht plausibel: Er spricht dann über nervende
       Ämter, unnötigen Papierkram, fehlende Effizienz und Anreize, die es
       braucht, damit jeder etwas leistet und den Wohlstand aller mehrt. "Ich mag
       den liberalen Grundgedanken, dass der Mensch sein Schicksal selber in der
       Hand hat."
       
       Wie fällt nun Börners Fazit nach hundert Tagen Schwarz-Gelb aus? Daumen
       hoch oder runter? "Zur Seite", sagt er. "Oder eher sogar nach unten." Der
       Grund dafür ist aber ein ganz anderer als der des Gewerbevereinschefs aus
       dem Südwesten. "Steuern sind nicht per se schlecht", sagt er. Solange sie
       dafür verwendet werden, dass etwa Schulen und Universitäten besser werden,
       zahlt er sie gerne.
       
       Deshalb ärgert es ihn auch so, dass die FDP nun ständig "Steuern runter"
       fordert - und das, obwohl der Staat in diesem Jahr die Rekordsumme von 86
       Milliarden Euro an neuen Schulden aufnehmen wird. "Man müsste den Leuten
       ehrlich sagen: Wir können uns keine Steuersenkungen leisten", findet
       Börner. Dass die FDP das nicht einsieht, enttäuscht den jungen Anhänger
       maßlos.
       
       Es scheint, als wäre nur eine Kernklientel begeistert von der Rolle der FDP
       in der Regierung: Hoteliers, Vermieter, Apotheker und Ärzte.
       
       Und so ist auch Fritz von Weizsäcker, 49, zufrieden mit dem Anfang der
       Koalition. Mehr als "ein paar kleine Stolperer" will er nicht erkennen. Der
       Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker trat am 12.
       September auf einem Fundraising-Dinner in der "Solarworld"-Firmenzentrale
       im Bonner Stadtteil Bad Godesberg der FDP bei. Ein Zwei-Sterne-Koch
       kredenzte Wildschwein für die 280 Gäste, unter ihnen auch Parteichef Guido
       Westerwelle.
       
       Jetzt sitzt Fritz von Weizsäcker in seinem Büro in der Schlosspark-Klinik
       in Berlin-Charlottenburg. Er ist dort Chefarzt, unter seinem weißen Kittel
       trägt er ein blaues Hemd mit Manschettenknöpfen und Krawatte, dazu braune
       Budapester Schuhe. "Man kann nach hundert Tagen keine Wunder erwarten",
       sagt er. Und so richtig losregiert werde ohnehin erst nach der Wahl in
       Nordrhein-Westfalen im Mai. Dann erwartet er aber auch, dass die
       Gesundheitsreform angepackt wird, und zwar richtig. Das heißt für ihn: mehr
       Eigenverantwortung, weniger Umverteilung. "Ich bin nach wie vor froh, dass
       die Menschen sich so eindeutig für Schwarz-Gelb entschieden haben", sagt
       er.
       
       Die Sache ist nur die: Die Menschen sehen das nicht mehr so. Glaubt man den
       Umfragen, würden derzeit nur 45 Prozent für die Union und die FDP stimmen -
       3 Punkte weniger als für die SPD, die Grünen und die Linke.
       
       1 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf Schmidt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte FDP und Liberalismus: Mehr Freiheit wagen!
       
       Guido Westerwelle und der FDP fehlt ein klarer Begriff von Freiheit. Denn
       eine wahrhaft freiheitliche Politik müsste für mehr Chancengleichheit
       sorgen.
       
 (DIR) Portrait Andreas Pinkwart: Chaotischer Chaosforscher
       
       2002 verdrängte er Möllemannn, der sich mit antisemitischen Parolen
       unmöglich gemacht hatte. Jetzt wirbelt er gegen Westerwelle – die FDP
       könnte das weiter ins Chaos stürzen.
       
 (DIR) 100 Tage Opposition: Gegner im Wartestand
       
       Schwarz-Gelb macht ihnen leicht. Doch SPD, Grüne und Linke finden keinen
       Kurs – erst recht keinen gemeinsamen. Die SPD hadert bei Hartz-IV und
       Afghanistan.
       
 (DIR) Bankdaten-Abkommen: SWIFT in der Schwebe
       
       Zum 1. Februar ist es provisorisch in Kraft getreten, doch so richtig will
       es kaum jemand haben: Das SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten an
       die USA.
       
 (DIR) 100 Tage Merkel & Westerwelle: Kundus und Kassen
       
       Was aus den Plänen zu Steuersenkung und Gesundheitsreform wurde und wie die
       Regierung zu einer neuen Afghanistanstrategie kam. Die Bilanz eines
       holprigen Aufbruchs ins Ungefähre.
       
 (DIR) Kommentar 100 Tage Schwarz-Gelb: Traumpaar im Blindflug
       
       Eine Großpanne jagt die nächste. Und: Wer sich nur um die Vorteile einiger
       weniger kümmert, kann keine vernünftige Wirtschaftspolitik für ein so
       komplexes Land wie Deutschland entwickeln.
       
 (DIR) Historiker Paul Nolte über Schwarz-Gelb: "Keine neoliberale Neuerfindung"
       
       Paul Nolte fordert von Schwarz-Gelb höhere Steuern und kritisiert den
       FDP-Stufentarif als "leistungsfeindlich". Von Kanzlerin Merkel wünscht er
       sich, dass sie eine politische Zielvorstellung formuliert.