# taz.de -- Vorratsdaten-Urteil: Telefonieren ist Privatsache
       
       > Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen das Grundgesetz,
       > entschieden die Verfassungsrichter. Doch die Freude der Kläger über das
       > Urteil ist "nicht ungetrübt".
       
 (IMG) Bild: Hat kein "bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins" verdient.
       
       KARLSRUHE taz | Auf den ersten Blick wirkt das Urteil radikal. Die 2008
       eingeführte Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig und nichtig,
       entschied am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. "Unverzüglich" müssen
       die gespeicherten Daten gelöscht werden, also sofort. Die
       Vorratsspeicherung verstößt aber nicht generell gegen das Grundgesetz. Wenn
       sie rechtsstaatlicher ausgestaltet wird, kann sie vom Bundestag bald wieder
       eingeführt werden. "In Karlsruhe ist die Freude nie ungetrübt", sagte
       Constanze Kurz vom Chaos Computer Club.
       
       Die Richter ließen keinen Zweifel, dass die anlasslose Speicherung aller
       Telefon-, Mail- und Internet-Verbindungsdaten einen "schweren Eingriff" ins
       Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit darstellt. Mit Hilfe der
       Standortdaten des Handys können Bewegungsprofile erstellt werden. Die
       Telefon- und Mailkontakte enthüllen persönliche Netzwerke. Anrufe bei
       Beratungsstellen offenbaren Schwächen aller Art. Die Speicherung sei
       geeignet, "ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetwerdens"
       auszulösen, sagte Hans-Jürgen Papier, der scheidende Präsident des
       Bundesverfassungsgerichts.
       
       Doch die Kläger - Politiker von FDP und Grünen sowie Bürgerrechtler vom AK
       Vorrat - freuten sich nur kurz über diese Bestätigung ihrer Kritik. Denn
       Papier fügte hinzu, dass die Vorratsdatenspeicherung "nicht von vornherein
       verboten" sei. Schließlich hätten Telefon und Internet auch ein
       "spezifisches Gefahrenpotenzial". Sie erleichtern die unbeobachtete
       Kommunikation und ermöglichen "verstreuten" Kriminellen die effektive
       Zusammenarbeit.
       
       Allerdings nutzten die Verfassungsrichter ihr Urteil, um Grenzen
       aufzuzeigen. Eine Verlängerung der sechsmonatigen Speicherdauer sei kaum
       möglich. Die Daten müssten auch weiterhin dezentral bei den Firmen
       gespeichert werden und nicht zentral beim Staat. Der Spielraum für neue
       anlasslose Speicherungen sei nun geringer, so die Richter. Eine totale
       Erfassung und Registrierung der Bürger sei mit dem Grundgesetz nicht zu
       machen, sonst wäre die "verfassungsrechtliche Identität" Deutschlands
       bedroht. Ein klarer Wink an die EU, wo gerade die 13-jährige Speicherung
       von Fluggastdaten geplant wird. Ein klares "bis hierhin und nicht weiter"
       enthält das Urteil aber nicht.
       
       Für die Neuregelung der Speicherung von Telekom-Daten machen die Richter
       des Ersten Senats konkrete Vorgaben. Erstens müsse der Bund den Datenschutz
       bei Telefon- und Internetfirmen strenger regeln, damit Daten nicht
       missbraucht werden können. Den Firmen müsse auch mit wirkungsvollen
       Sanktionen gedroht werden.
       
       Zweitens sollen die anlasslos gespeicherten Daten nur zum Schutz
       "überragend wichtiger Rechtsgüter" eingesetzt werden, etwa zur Verfolgung
       "schwerer Straftaten". Welche Straftaten das konkret sind, muss der
       Bundestag noch festlegen. Karlsruhe betonte hier den Beurteilungsraum des
       Gesetzgebers. Aus Mediensicht ist interessant, ob auch die "Verletzung von
       Dienstgeheimnissen" in diesem Katalog aufgelistet wird. Wenn ja, wäre der
       Informantenschutz der Presse gefährdet.
       
       Bei der Abwehr zukünftiger Bedrohungen verlangt das Gericht eine "konkrete
       Gefahr" für die Staatssicherheit oder Leib, Leben und Freiheit einer
       Person. Dies führt dazu, dass Geheimdienste wie der Verfassungsschutz
       grundsätzlich nicht auf die Vorratsdaten zugreifen können, da sich ihre
       Aufklärung in der Regel im Vorfeld konkreter Gefahren bewegt. Der lange
       geäußerte Wunsch des Bundesamts für Verfassungsschutz, das auch Zugriff
       haben wollte, dürfte damit obsolet sein.
       
       Drittens forderten die Richter ein grundsätzliches Übermittlungsverbot von
       Daten, die den Kontakt zu anonymen Beratungsstellen dokumentieren. Gemeint
       sind etwa die Aids- und Drogenberatung, aber auch die kirchliche
       Telefonseelsorge. Die Richter verlangen aber nicht, alle Ärzte, Pfarrer und
       Journalisten in das Übermittlungsverbot einzubeziehen.
       
       Deutlich weniger streng sind die Verfassungsrichter, wenn es um die
       Identifizierung von IP-Adressen geht. Relevant ist dies etwa, wenn jemand
       wissen will, wer sich in einer illegalen Musiktauschbörse mp3-Dateien
       besorgte. Laut Gesetz kann die Staatsanwaltschaft vom Provider verlangen,
       dass er mit Hilfe der zwangsgespeicherten Daten offenlegt, welchem Kunden
       die IP-Adresse im fraglichen Zeitraum zugewiesen war. Gegen diesen
       Mechanismus, der die Anonymität des Internets bei Bedarf aufhebt, hatte das
       Gericht kaum Einwände. So kann dies nicht nur bei schweren Straftaten,
       sondern bei jedem Delikt genutzt werden. Nur bei kleineren
       Ordnungswidrigkeiten soll die Identifizierung nicht möglich sein. Auch ein
       Richtervorbehalt wird hier nicht verlangt. Begründung: Mit einer so
       punktuellen Abfrage könne kein Persönlichkeitsprofil erstellt werden.
       
       Keinen Erfolg hatte auch die Beschwerde über die hohen Investitionskosten
       bei Internet- und Telefonfirmen. Karlsruhe lehnte es ab, dem Staat die
       Kosten für neue Speicherkapazität und Software aufzuerlegen. Wenn die
       Firmen aus der Privatisierung der Telekommunikation Gewinne ziehen, müssten
       sie auch für die Überwachungskosten aufkommen, so die Richter.
       
       Eine Vorlage des Falles zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) lehnten die
       Richter als überflüssig ab. Wenn das deutsche Gesetz nicht gegen das
       Grundgesetz verstoße, sei es "nicht entscheidungserheblich", ob die
       EU-Richtlinie mit europäischen Grundrechten vereinbar ist. Der AK Vorrat
       und die Grünen hatten eine Vorlage zum EuGH gefordert.
       
       Das vom linksliberalen Johannes Masing vorbereitete Urteil fiel im Kern mit
       sechs zu zwei Richterstimmen. Die beiden Konservativen Richter Wilhelm
       Schluckebier und Michael Eichberger hielten das Gesetz für
       verfassungskonform. Vier Richter wollten das beanstandete Gesetz wenigstens
       übergangsweise weiter anwenden. Da vier Richter aber keine Mehrheit sind,
       trat die übliche Folge ein: Das verfassungswidrige Gesetz ist "nichtig".
       
       3 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Rath
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Koalitionsstreit über Vorratsdaten: Eine Frage der Verunsicherung
       
       Innenminister de Maizière nimmt einen neuen Anlauf zur
       Vorratsdatenspeicherung. Sie könne Morde und Bombenattente verhindern,
       behauptet das Bundeskriminalamt.
       
 (DIR) Kommentar Vorratsdaten-Urteil: Guter Tag für Bürgerrechte
       
       Das Vorratsdaten-Urteil hat Licht und Schatten: gut, dass Geheimdienste
       keinen Zugriff auf die Vorratsdaten erhalten. Doch das Urteil könnte Basis
       für eine umstrittene Kriminalpolitik werden.
       
 (DIR) Vorratsdatenspeicherung wird schwieriger: Richter löschen den Speicher
       
       Das Verfassungsgericht erklärt das Gesetz zur Speicherung der Telefon- und
       Internetdaten für verfassungswidrig. Alle gespeicherten Daten sind zu
       löschen. Trotzdem bleibt Vorratsspeicherung möglich.
       
 (DIR) Reaktionen auf Vorratsspeicher-Urteil: Piraten und Datenschützer zufrieden
       
       Datenschützer verlangen, nun auch Datenweitergaben wie beim Swift-Abkommen
       zu prüfen. Piraten sprechen von "schallender Ohrfeige" für Gesetzgebung.
       Provider fürchten hohe Kosten.
       
 (DIR) Kommentar Vorratsdatenspeicherung: Kurs auf Straßburg
       
       Die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung wurde im ersten Moment
       bejubelt – doch nach genauer Lektüre relativiert sich die Freude. Nun geht
       es auf europäischer Ebene weiter.
       
 (DIR) Schwarz-gelber Konflikt nach Karlsruher Urteil: Keine Eile! Oder doch?
       
       Während Innenminister de Maizière jetzt rasch ein neues Gesetz zur
       Vorratsspeicherung verlangt, warnt Leutheusser-Schnarrenberger vor
       Schnellschüssen. Der Krach ist programmiert.