# taz.de -- Debatte Wikileaks: Schrumpfende Öffentlichkeit
       
       > Die jüngsten Veröffentlichungen von Wikileaks gefährden nicht die
       > Diplomatie, sondern den Journalismus. Für ihn ist Vertraulichkeit
       > unverzichtbar.
       
       Viel Unsinn wird derzeit über den jüngsten Coup von Wikileaks mit den
       gesammelten diplomatischen Depeschen der USA geschrieben. Da ist zum
       Beispiel die Behauptung, Wikileaks habe über 250.000 geheime Dokumente ins
       Internet gestellt. Tatsächlich sind bislang ganze 611 publiziert worden.
       Den Rest hat Wikileaks ausgewählten Medien zur Verfügung gestellt. In
       diesem Tempo dürfte es ungefähr drei Jahre dauern, bis alle "cables"
       öffentlich zugänglich sind, wenn Wikileaks nicht schon vorher per
       Cyberkrieg ausgelöscht wird.
       
       Was für Enthüllungen? 
       
       Auch die Mutmaßung, die Diplomatie und der Journalismus würden
       unwiderruflich verändert, wird durch das bisher veröffentlichte Material
       nicht gedeckt. Es fördert weder Überraschungen zutage noch gibt es dazu
       Anlass, die Geschichtsbücher umzuschreiben. Der gigantische
       Wikileaks-Vorrat enthält kein einziges "Top Secret"-Dokument. Es verwundert
       ja auch nicht, dass ein Datensatz, den ein 23-jähriger US-Soldat in einer
       staubigen Militärbasis im Irak unbemerkt herunterladen kann, nichts
       wirklich Weltbewegendes enthält.
       
       Die professionelle Diplomatie hat schon ganz andere Krisen überstanden. Es
       handelt sich schließlich um einen der ältesten Berufe der Erde. Die Kunst
       der Diplomatie, nämlich in einer fremden Gesellschaft wichtige Akteure zu
       identifizieren, zu verstehen, auf sie einzuwirken und Empfehlungen für den
       Umgang mit ihnen zu formulieren, gehört zu den Urtugenden des menschlichen
       Zusammenlebens. Diplomatische Immunität in dem Sinne, dass der unbewaffnete
       Emissär einer feindlichen Gruppe empfangen und angehört statt verjagt oder
       getötet wird, ist älter sogar als der Staat.
       
       Die größte Bedrohung für den Beruf des Diplomaten ist nicht Wikileaks
       gewesen; es war die Erfindung des Telefons. Durch sie ging erstmals die
       zeitliche Distanz zwischen Erkenntnis und Benachrichtigung verloren; sie
       war über Jahrhunderte die Grundlage der Macht des Diplomaten in der Fremde.
       Wenn ein Minister sein Gegenüber auf der anderen Seite der Erde anrufen
       kann, statt einen Brief per Schiff loszuschicken, drei Monate auf eine
       Antwort zu warten und sich zwischenzeitlich auf das Geschick des Emissärs
       zu verlassen, schrumpft der Diplomat zum Berichterstatter.
       
       Wenn die Wikileaks-Depeschen irgendetwas unterstreichen, dann ist es das
       Ausmaß des Bedeutungsverlustes des Diplomaten in der Zeit der globalen
       Instant-Kommunikation. Daraus ergibt sich allerdings auch ein
       Bedeutungsverlust für den Journalismus, und hierin steckt die eigentliche
       Gefahr, die von der Arbeit von Wikileaks ausgeht, unabhängig von der
       Qualität der derzeitigen Enthüllungswelle.
       
       Warum berichten Journalisten überhaupt aus fernen Ländern? Weil der
       Medienkonsument sich anders nicht aktuell zu informieren vermag. Heute
       steht zu allem schon etwas im Internet, ohne Qualitätsstandards, und die
       sorgfältige Darstellung komplexer Vorgänge hat einen schweren Stand.
       Journalismus, der dies leisten will, ist ebenso wie Diplomatie auf
       Immunität angewiesen, also auf die Unversehrtheit des Berichterstatters;
       und diese steht und fällt ebenso wie in der Diplomatie mit dem
       Quellenschutz, also der Gewissheit von Gesprächspartnern, dass ihre
       Identität notfalls vertraulich bleibt und die Herausgabe davon nicht
       erzwungen werden darf. Nicht umsonst ist dies ein rechtlich geschütztes und
       hart verteidigtes Gut. Es ist allerdings kaum möglich, den Quellenschutz im
       Journalismus zu verteidigen und ihn gleichzeitig in der Diplomatie zu
       brechen.
       
       Journalisten und Diplomaten haben nämliches vieles gemein. Idealerweise
       sind sie neutrale Mittler zwischen den Welten, und sie haben dieses
       Handwerk mühselig gelernt. Sie kultivieren und respektieren ihre
       Informanten, denn auf sich allein gestellt sind sie nichts. Der Unterschied
       zwischen ihnen ist, dass Journalismus Öffentlichkeit braucht, während
       Diplomatie auch - und zuweilen: vor allem - als geheime Aktivität
       funktioniert. Deswegen überlebt der Diplomat auch unter widrigen
       Bedingungen, vor denen der Journalist die Waffen strecken muss. Wo
       Quellenschutz und Immunität nicht mehr möglich sind, wandern Journalisten
       ins Gefängnis; Diplomaten werden höchstens abgezogen und durch
       Geheimdienstler ersetzt.
       
       Recht auf Vertrauensbruch? 
       
       Wenn vertrauliche Protokolle eines Konsuls an seinen Chef im Internet
       stehen, warum nicht die Mailwechsel und Telefonate von Reportern? Wenn
       Wikileaks Bankdaten veröffentlicht, wie jetzt angeblich geplant, warum
       nicht gleich persönliche Kontoangaben oder Personalakten? Wo ist die
       Grenze? Mit welcher Logik kann ein Journalist die Wikileaks-Materialien
       nutzen, aber gegenüber Polizei und Justiz zukünftig die Preisgabe seiner
       eigenen Quellen verweigern?
       
       Die ungefilterte Veröffentlichung der "U.S. Embassy Cables" öffnet der
       geheimdienstlichen Überwachung der Medien und der Einschränkung der
       Pressefreiheit Tür und Tor. Denn nun gilt das Recht auf Vertrauensbruch für
       alle, und im ungleichen Kampf zwischen Staat und Journalisten sitzen
       Staaten am längeren Hebel. Die jüngsten Cyberattacken auf Wikileaks und die
       Überlegungen der US-Regierung, den Zugriff auf staatlichen Schriftverkehr
       einzuschränken, sind dafür erste Vorzeichen.
       
       Vielleicht halten die Wikileaks-Macher, die überdies für sich selbst
       absolute Intransparenz beanspruchen, ja tatsächlich die Funktion des
       neutralen Mittlers zwischen den Welten für überholt. Vielleicht setzen sie
       darauf, dass heutzutage mündige Bürger einfach ungefilterte Informationen
       konsumieren. In Teilen der Online-Welt ist diese Haltung durchaus
       verbreitet. Aber in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Konflikte und
       kultureller Missverständnisse begünstigt sie den Zerfall des zivilisierten
       Dialogs, verdrängt vom ungefilterten Zusammenprall der Rechthabereien.
       
       Wer hingegen die Position des neutralen Beobachters als Fundament
       kritischer Öffentlichkeit und aufgeklärter Auseinandersetzung erkennt,
       sollte jetzt die Notbremse ziehen. Gute Medien sind Fenster, die einen
       Einblick in interessante Zusammenhänge gewähren. Sie sind keine
       Schaubühnen, die Narren der Lächerlichkeit preisgeben.
       
       3 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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