# taz.de -- Interview mit Medienexperte Bernd Gäbler: "Quellen müssen befragt werden"
       
       > Wikileaks ist ein neuer Player und eine Herausforderung für den
       > Journalismus, meint Medienexperte Bernd Gäbler. Für ihn ist das Neue an
       > Wikileaks die schiere Menge an unsortiertem Material.
       
 (IMG) Bild: Für die Sichtung und Einordnung von Informationen müssen Journalisten ran.
       
       taz: Herr Gäbler, verändert Wikileaks den Journalismus? 
       
       Bernd Gäbler: Selbstverständlich. Wir wissen nur noch nicht genau, wie. Wir
       stehen am Fuße eines großen Umbruchs - unterschätzt wird meines Erachtens
       dabei schon die schiere Quantität an Daten und Material: Wer soll das alles
       sichten, wer trifft die Auswahl?
       
       Ist Wikileaks eine Konkurrenz für die klassischen Medien, ein neuer
       unbekannter Player am Nachrichtenmarkt? 
       
       Wikileaks ist eine Quellensammelagentur - und damit eine Art Vermittler
       zwischen der Ursprungsquelle und dem Journalismus. Damit ist Wikileaks
       natürlich auch ein neuer Player, eine Herausforderung für den Journalismus.
       Der wird aber weiter und mehr denn je gebraucht: Man trifft die Wahrheit
       selten in nacktem Zustand. Quellen sprechen nun einmal nicht von alleine,
       sie müssen befragt werden. Nur so kann aus Text dann Kontext werden.
       
       Die klassischen Medien sind auch auf der Jagd nach geheimen Informationen -
       jetzt treibt viele die Angst um, Wikileaks sei die neue Übermacht, die
       definieren kann, was bekannt wird und was nicht. 
       
       Das ist arg übertrieben. Dabei sehe ich den Medienbetrieb gar nicht
       besonders idealistisch: Der Demagoge und der Denunziant waren schon immer
       Nachbarn des Journalisten. Richtig ist, dass sich jetzt viel verschiebt:
       zum Beispiel das klassische Begriffspaar öffentlich und privat. Beides wird
       sich ändern - ebenso was inszeniert, was "echt" ist. Aber wenn potenziell
       alles an die Öffentlichkeit kommt, wird das Geheime, das Vertraute, das
       Intime noch viel mehr wert.
       
       Ist die aktuelle Debatte über das Verhältnis von Wikileaks und klassischem
       Journalismus also bloße Spiegelfechterei? 
       
       Mitnichten, nur der Akzent müsste woanders gesetzt werden: Vielleicht
       brauchen wir sogar eine völlig neue Definition von Pressefreiheit. Bisher
       gilt: Pressefreiheit ist dann verletzt, wenn es eine Beschränkung des
       Angebots gibt. Vielleicht müssen wir jetzt sagen: Die Pressefreiheit ist
       dann in Gefahr, wenn zwar das Angebot da ist, aber die Selektionsinstanzen
       - wie eben Wikileaks oder das italienische Privatfernsehen - komplett
       durchformatiert sind. Das sieht man derzeit ja an der Kontroverse, ob
       Wikileaks anderes Material zugunsten der USA-kritischen Dokumente
       zurückhält. Aber selbst wenn Wikileaks alle Dokumente, über die die
       Organisation verfügt, ins Netz stellen würde, könnte das globale
       Asymmetrien nicht aufheben: Wikileaks hat nun mal nicht die Geheimpapiere
       aus der Kommunistischen Partei Chinas, obwohl die auch interessant wären.
       
       Wer hat dann aber die Deutungshoheit - Instanzen wie Wikileaks oder der
       klassische Journalismus? 
       
       Der Journalismus muss sich im Wettbewerb behaupten. Die bisherige
       Arbeitsteilung - die Einordnung und Bewertung übernimmt der Journalismus -
       hat zwar nicht völlig ausgedient, aber journalistisches Basiswissen ist
       nicht nur Spezialqualifikation, sondern wird Teil der Allgemeinbildung.
       Jeder muss lernen, auszuwählen und sich treffend auszudrücken. Das wird zu
       einer bürgerlichen Notwendigkeit.
       
       Ist das nicht übertrieben? Ohne die Berichterstattung in den klassischen
       Medien wäre Wikileaks doch aufgeschmissen - weshalb es ja die regelmäßige
       Kooperation mit Spiegel, Guardian oder New York Times gibt. 
       
       Natürlich. Man darf bei Wikileaks nicht der Illusion unterliegen, hätten
       wir nur alle Materialien, wäre auch die Wahrheit schon klar. Selbst wenn
       wir beispielsweise zu Stuttgart 21 alle Informationen, Dokumente,
       Absprachen kennen würden, würde sich daraus ja nicht die eine Wahrheit
       ergeben. Nach wie vor müssen Menschen Entscheidungen nach ihren Prioritäten
       treffen. Da wird oft fehlgeschlossen. Natürlich ist es großartig, wenn
       bestimmte Sachen, die geheim sind, ans Licht kommen. Aber es beantwortet
       nicht alle Fragen.
       
       In der Netzgemeinde heißt es nun, die klassischen Medien seien nur
       neidisch, wenn sie sich selbst mehr anstrengen würden, an entsprechende
       Dokumente zu kommen, bräuchte man Wikileaks ja gar nicht. 
       
       Das ist Unsinn: beide sollen enthüllen. Aber das tatsächlich Neue an
       Wikileaks ist die schiere Menge an unsortiertem Material. Da braucht es
       immer Instanzen der Auswertung und Bearbeitung: Die journalistische Aufgabe
       ist es, diese Fülle diskursfähig zu machen, einzuordnen und auf den Punkt
       zu bringen.
       
       In den klassischen Medien reichen die Vorwürfe vom "Landesverrat" wegen der
       Veröffentlichung von US-Diplomatenpost bis zum "digitalen Leninismus", den
       die aktuelle Zeit kritisiert und dahinter politisches Kalkül wittert. 
       
       Das ist beides viel zu weit gegriffen. Wikileaks ist eine asymmetrische
       Materialsammlung - dahinter kann man sicherlich auch bestimmte Intentionen
       vermuten. Aber das ist noch lange kein Leninismus.
       
       Trotzdem stoßen hier zwei sehr unterschiedliche Ideale aufeinander: Die
       Hacker-Ethik, der Datenfreiheit über alles geht - und die klassischen
       journalistischen Spielregeln, bei denen Relevanz und Vertraulichkeit eine
       entscheidende Rolle spielen. 
       
       Die journalistischen Kriterien brauchen wir: Was ist wichtig, was unwichtig
       - wenn man diese Koordinaten verliert, geht auch etwas für die menschliche
       Diskurs- und Orientierungsfähigkeit verloren. Das ist aber auch nicht das
       wirklich Neue. Wikileaks ist vielmehr Ausdruck grundlegender
       Verschiebungen. Google Street View macht Häuserfassaden öffentlich. Und ist
       gleichzeitig eine der größten geschäftlichen Privatinitiativen. Die
       Individualisierung der Medien hebt alte Trennungen auf: Auf den Einzelnen
       zugeschnittene Propaganda und Partizipation schließen sich nicht aus.
       Salopp gesagt: Vielleicht ist die Gefahr nicht, dass Julien Assange der
       neue Lenin wird, sondern dass der "DSDS"-Politiker Karl-Theodor zu
       Guttenberg eine Art digitaler Berlusconi werden könnte.
       
       3 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffen Grimberg
       
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