# taz.de -- Ausstiegsszenario bei der CDU: Die grün lackierte Kanzlerin
       
       > Nach Fukushima vollzog Merkel eine Wende in der Energiepolitik. Manche in
       > der Union wollen ihrer Parteichefin nicht mehr folgen. Szenen einer
       > Entfremdung.
       
 (IMG) Bild: Ist Frau Merkel nicht schon längst in eine andere Partei eingetreten? Das glauben manche an der CDU-Basis.
       
       BERLIN taz | Die silberne Scheibe im Büro von Andreas Lämmel ist der Grund,
       warum der CDU-Abgeordnete die Energiewende der Bundeskanzlerin falsch
       findet. Auf ihr reihen sich hauchdünne Computerchips, sie stammt aus der
       Produktion von Infineon Technologies, Lämmel hat sie gerahmt und
       aufgehängt.
       
       "Die Elektronikindustrie in und um Dresden ist auf eine stabile
       Energieversorgung angewiesen, sie reagiert extrem empfindlich auf
       Schwankungen im Netz", sagt er vor der Silikonplatte. "Ein Stromausfall von
       einer Sekunde produziert Millionenverluste." Lämmel, Diplom-Ingenieur,
       Wahlkreis Dresden I, sorgfältig gestutzter Bart, hat viele Fragen an den
       Atomausstieg. Und an seine Partei.
       
       Als die Unionsfraktion Anfang der Woche die Kabinettsvorlage der Koalition
       zur Energiewende hinter geschlossenen Türen diskutierte, ließ der Vorstand
       abstimmen, ein erstes Stimmungsbild. Es ging um die Frage: Können wir das
       Paket so schnell in den Bundestag geben? Und vor allem: So, wie es ist?
       
       Lämmel stimmte mit "nein". So wie sieben weitere Unionsabgeordnete. Acht
       enthielten sich. Die Nachrichtenagenturen verpassten ihnen sofort den
       Stempel "Abweichler". Noch ist offen, ob sie am Ende wirklich das Paket
       ablehnen. Doch wenn man sich mit ihnen trifft, erfährt man viel über die
       Stimmungslage in der Union. Und darüber, wie sich die Partei mit der
       Energiewende quält.
       
       ## Der Fukushima-Schwenk
       
       Für Merkel ist es eine Kehrtwende, die fast surreal anmutet: Bekenntnisse
       zur Atomenergie ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre Karriere. Merkel
       lobte diese Energieform gern und oft, vor dem Atomforum, vor dem
       CDU-Wirtschaftsrat, in Interviews. 2009 befand sie vor dem Tag der
       Deutschen Industrie: Würde Deutschland aus der Atomenergie aussteigen, wäre
       dies "wirklich jammerschade". Diese Haltung gipfelte in der Verlängerung
       der Laufzeiten im vergangenen Herbst.
       
       Jetzt, nach Fukushima, soll alles anders sein. Merkel hat in nicht mal drei
       Monaten nicht nur die Laufzeitverlängerung revidiert. Sie hat sich und ihre
       Partei in Windeseile grün lackiert. Und schleift jahrzehntelange
       konservative Energie- und Wirtschaftspositionen gleich mit.
       
       Am Donnerstag begründet sie vor dem Parlament diesen Schwenk, ihre
       Regierungserklärung heißt "Der Weg zur Energie der Zukunft". Am Rednerpult
       spricht Merkel nüchtern, etwas tonlos, wie immer. Auch bei den pathetischen
       Sätzen. Die Kanzlerin rekapituliert die Schreckensmeldungen aus Japan, den
       radioaktiven Dampf, die Kernschmelzen. "Diese dramatischen Ereignisse waren
       ein Einschnitt für die Welt. Und auch ein Einschnitt für mich ganz
       persönlich."
       
       Sie habe vor Fukushima das Restrisiko akzeptiert und ein solches Szenario
       in einem Hochindustrieland nicht für möglich gehalten - nun habe sich ihre
       Einschätzung geändert. "Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe. Ohne Wenn
       und Aber", sagt sie. Merkels Erzählung lautet: Die Union hat gelernt.
       
       ## "Geschwindigkeit produziert Fehler"
       
       Lämmel sitzt in der fünften Reihe, vor sich hat er Aktenmappen sauber
       gestapelt. Er ist Diplom-Ingenieur, sitzt für die CDU im
       Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Technologie. Lämmel kennt sich mit
       Strom und Netzen aus. Für ihn sind viele Punkte im Energiewendepaket
       ungeklärt: Wie werden Ausfälle bei der Brennelemente-Steuer
       gegenfinanziert? Stehen bis 2013 genug Erdgaskraftwerke, um die Atomenergie
       zu ersetzen?
       
       "Der Kurswechsel in der Energiewende geht zu schnell, Geschwindigkeit
       produziert Fehler", sagt Lämmel. "Ob es Fukushima oder die Schuldenkrise
       Griechenlands ist, die Vielzahl politischer Probleme verunsichert und
       überfordert viele Menschen. Deswegen ist unsere Verantwortung so groß."
       
       Unsicherheit, das Wort fällt oft in den Gesprächen mit den Abgeordneten.
       Firmenchefs fragten ihn, ob sich Investitionen noch lohnten, sagt Lämmel.
       Als er über den guten Investitionsstandort Deutschland redet, rutscht ihm
       ein "war" in den Satz. Imperfekt. Solche Befürchtungen sind nur zum Teil
       rational. Die Wirtschaft brummt, obwohl acht alte Meiler bereits
       stillgelegt sind. Der unter Rot-Grün vereinbarte Ausstieg ließ die
       Wirtschaft kalt.
       
       Aber genau diese Irrationalität ist für die nüchterne Kanzlerin ein
       Problem. Wenn die Wirtschaft der Union nicht mehr vertraut, wem dann? Und
       was, wenn sogar CDUler das Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz ihrer
       Partei verlieren? Lämmel formuliert für sich ein Fazit: "Wenn
       Unsicherheiten im Paket bleiben, werde ich mir sehr genau überlegen, ob ich
       dafür die Verantwortung übernehmen kann."
       
       ## Im Eiltempo durchs Parlament
       
       Der CSU-Abgeordnete Max Straubinger hat in der Fraktionssitzung ebenfalls
       gegen das schnelle Einbringen des Gesetzes gestimmt. Auch er ist ein
       potenzieller Abweichler. Straubinger kommt aus Bayern, dem Land mit 60
       Prozent Atomstromanteil, er ist Sozial- und Gesundheitspolitiker, kein
       Energieexperte. Er sagt: "Die Grundlast muss gedeckt werden, das übernimmt
       bisher Atomstrom. Ich habe meine Zweifel, ob Strom aus Wind und Sonne so
       schnell Ersatz schaffen kann."
       
       Straubinger redet über Arbeitsplätze, über die nationale Stromversorgung,
       am längsten aber über den besorgten Brief, den er von der Gießerei Heunisch
       Guss, Bad Winsheim, bekommen hat. "Es sind viele Fragen offen. Für die
       führende Industrienation in Europa ist bei so einer elementaren Frage
       wichtig, intensiv alle Folgen zu diskutieren." Alle Gesetzestexte sind
       zusammen 700 Seiten stark, sie liegen seit Montag vor - illusorisch, das zu
       überschauen, wenn die erste Lesung am Donnerstag ist. Die Regierung jagt
       das Mammutprojekt im Eiltempo durchs Parlament.
       
       Wenn man Straubinger zuhört, kann man sich gut vorstellen, dass die
       Energiewende genau so in vielen Unions-Ortsvereinen diskutiert wird. Ohne
       die Kenntnis von Details, besorgt, vielleicht etwas ungläubig.
       
       Sehr wahrscheinlich muss sich die Kanzlerin keine Sorgen machen, dass ihr
       die Lämmels und Straubingers in die Quere kommen. Der Parlamentarische
       Geschäftsführer der Fraktion, Peter Altmaier, beschreibt die Psychologie
       seiner Fraktion mit einer kleinen Statistik. Als es im Herbst um die
       Laufzeitverlängerung ging, erzählt er, habe ein frühes Meinungsbild
       ergeben: Gut die Hälfte dafür, ein knappes Drittel dagegen, der Rest
       unbestimmt. Am Ende ging das Gesetz glatt durch.
       
       Altmaier sagt: "Ich gehe davon aus, dass es eine hohe Bereitschaft in der
       Fraktion gibt, Geschlossenheit zu zeigen und die Beschlüsse weitgehend
       einhellig mitzutragen." Er meint: Frühe Stimmungsbilder bedeuten nichts. In
       der Tat ist die Union die rationalste Partei, wenn es um die Macht geht.
       Dann, wenn es gefährlich wird, drückt sie Zweifel weg und schließt die
       Reihen. Besonders dann. Die wichtigen Wortführer des Wirtschaftsflügels,
       Michael Fuchs und Joachim Pfeiffer, beide Atomwende-Skeptiker, haben ihre
       Niederlage längst eingesehen.
       
       ## Die Logik des Machterhalts
       
       Fuchs sitzt in der ersten Reihe, direkt gegenüber vom Rednerpult. Reglos
       hört er der Kanzlerin zu. Er hält den schnellen Atomausstieg für verrückt.
       Doch später, als er dran ist, spricht er vorn über Pumpspeicherkraftwerke
       und den Netzausbau. Er betont seine Skepsis beim Zeitplan, er schießt gegen
       die Grünen, die Hysterie geschürt hätten. Aber das sind nur Spitzen, Fuchs
       ist eingeschwenkt.
       
       In ihrem Sieg über solche Widersacher und in der Leidensfähigkeit ihrer
       Partei liegt jedoch eine Gefahr für die Kanzlerin. Merkel entfremdet sich
       von der Union. Und umgekehrt. Ihre Logik des Machterhalts lässt CDUler wie
       Straubinger oder Lämmel ratlos zurück. Der sagt es so: "Ich kann der Basis
       im Wahlkreis den Kurswechsel nur schwer erklären. Das geht im Ortsverband
       nicht in fünf Minuten, das braucht Zeit, und es bleiben trotzdem noch
       Fragen offen." Lämmel muss seinen Leuten im Wahlkreis Merkels Kurs
       erklären. Dabei hat er selbst nur Fragen.
       
       9 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Atomausstieg der Regierung: Die Gretchenfrage der Grünen
       
       Wie halten es die Grünen mit dem schwarz-gelben Atomausstieg? Vor ihrem
       Sonderparteitag spitzt sich der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern
       zu.
       
 (DIR) Nach dem Atomausstieg: Wenn Energielobbyisten feiern
       
       Energieversorger schmeißen ihre Sommerfeste für Politiker, Bosse und
       Journalisten - wie jedes Jahr. Doch für wen lohnt sich die Energiewende am
       meisten?
       
 (DIR) Grüner Flirt mit der Union: Kretschmann lobt die Kanzlerin
       
       Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident sieht neue Chancen für
       Schwarz-Grün auf Bundesebene und warnt seine Partei vor der Ablehnung des
       Atomausstiegs. Andere Grüne bleiben da skeptischer.
       
 (DIR) Merkels Atompolitik in der Kritik: Abrechnung im Bundestag
       
       "Irrtumsbereinigungsgesetz", "Willkommen im 21. Jahrhundert" – in der
       Plenardebatte zum Atomausstieg im Jahr 2022 hagelte es Oppositions-Kritik
       für Kanzlerin Merkel.
       
 (DIR) Kommentar Schwarz-Gelb: Regierung am Abgrund
       
       Die Atomausstieg-Begründung mit Fukushima ist verlogen, wenn sie von einer
       Physikerin kommt. Die größte Gefahr jedoch droht Merkel jetzt von ihren
       eigenen Anhängern.
       
 (DIR) Grüne holen in Umfragen weiter auf: "CDU droht Kernschmelze"
       
       Auch wenn es nicht ihr eigener Erfolg ist: Die Grünen profitieren von der
       Debatte um die Energiewende. Der Union hingegen sagt Forsa-Chef Güllner
       eine Kernschmelze voraus.
       
 (DIR) Atomkonzerne und FDP gegen Energiewende: Lindner warnt vor Entschädigungen
       
       Atomkonzerne glauben, dass das Energiekonzept der Regierung juristisch
       nicht wasserdicht ist. Auch die FDP ist nun skeptisch. Christian Lindner
       schiebt flott der Union die Verantwortung zu.
       
 (DIR) Kritik von Umweltverbänden und Industrie: Bundesregierung legt Atomgesetze vor
       
       Die Bundesregierung hat nun die konkreten Gesetzentwürfe für eine
       Energiewende vorgelegt. Die SPD wird sich wohl einem Konsens anschließen,
       die Grünen überlegen noch.
       
 (DIR) CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen: Konfuse Opposition
       
       Die Bundesminister Norbert Röttgen (CDU) und Daniel Bahr (FDP) versagen als
       Oppositionsführer. Sie werden an Rhein und Ruhr als "Polittouristen"
       verhöhnt.