# taz.de -- Vor dem Grünen-Sonderparteitag: Die grüne Kernfrage
       
       > Der grüne Kreisverband Lüchow-Dannenberg und die Anti-Atom-Bewegung
       > wollen keinen Konsens. Ein Besuch im Wendland, dem Kernland des
       > Widerstands.
       
 (IMG) Bild: Da war die Welt noch in Ordnung: Demonstration gegen Atomkraft zum Auftakt der Castor-Proteste 2010.
       
       LÜCHOW taz | Wären die Grünen eine Rockband, dann wäre so jemand wie
       Martina Lammers wohl "ihr größter Fan". Im Flur ihres Einfamilienhauses in
       Lüchow prangt eines der ersten Wahlplakate der Partei: "Demokratie braucht
       Luft zum Atmen."
       
       Im Bad hängt neben den Handtüchern, an einem grünen Band, eine grüne
       Trillerpfeife: Man weiß ja nie. Sieben, acht Mal klingelt Lammers Telefon
       an diesem Dienstagnachmittag. Immer geht es um die gemeinsame Fahrt nach
       Berlin, zum Sonderparteitag am Samstag. Bis dahin müht sich die
       Kreisvorsitzende im kleinen Lüchow-Dannenberg, genug Stimmen für ein Wunder
       hinzubekommen.
       
       Martina Lammers, 44 Jahre, eine kräftige Frau, halblange schwarze Haare,
       trägt wieder ihren grauen Hosenanzug. Eine Allzweck-Frisur und
       Allzweck-Kleidung, die zu fast jedem Anlass passen: zu ihrer Arbeit als
       Lehrerin an einer Grundschule in einem nahe gelegenen Dorf; zum Werkeln in
       ihrem Haus im 10.000-Einwohner-Städtchen Lüchow, wo noch drei ihrer vier
       Kinder leben. Der Jüngste, 14 Jahre alt, kommt in die Küche und geht
       schnell wieder. Auf der Rückseite seines grünen Hemds steht der Schriftzug
       der Bäuerlichen Notgemeinschaft Lüchow-Dannenberg. Engagement gegen die
       Atommülllagerung im nahen Gorleben, gegen das Zwischen- wie das geplante
       Endlager, ist bei den Lammers Familiensache.
       
       ## Die Grünen sind nun mal keine Rockband
       
       Deshalb nehmen Menschen wie Martina Lammers es persönlich, wenn ihre
       Parteiführung im 250 Kilometer entfernten Berlin Ja zu Angela Merkels
       Atomausstieg sagen will. Denn die Grünen sind nun mal keine Rockband.
       Lammers mag zwar einer ihrer größten Fans sein, aber sie ist auch seit 13
       Jahren Grünen-Vorsitzende in Lüchow-Dannenberg. Im am dünnsten besiedelten
       Landkreis der alten Bundesrepublik findet regelmäßig, wenn im Herbst die
       Castor-Transporte kommen, seit mehr als drei Jahrzehnten die
       Anti-Atom-Bewegung zusammen.
       
       Ein Familientreffen von BUND, Campact, Attac, Nabu, Bürgerinitiative
       Lüchow-Dannenberg, Bäuerlicher Notgemeinschaft, Gorlebener Gebet – und all
       den anderen, die die Wut auf den Atommüll eint. Lammers hat sich deshalb
       ganz genau angeschaut, wozu die Grünen auf ihrem Parteitag Ja sagen sollen.
       Und deshalb wird sie mit Nein stimmen.
       
       ## Die Sorge um Gorleben
       
       "Es wäre unehrlich, zuzustimmen", sagt Lammers in ihrer Küche. Die Sonne
       scheint herein. Ihre Strahlen haben es doch noch durch die Wolkendecken
       geschafft. Lammers zählt die Ungereimtheiten des Leitantrags des
       Bundesvorstands auf, den die Partei abnicken soll: Erst kritisierten die
       Grünen die mangelnde Sicherheit der AKWs – und sollen ihr jahrelanges
       Weiterlaufen nun gutheißen? Gorleben werde nicht explizit herausgenommen
       aus der Suche nach einem Endlagerstandort – dabei sei seine Nichteignung
       nachgewiesen. Die Grünen hier fürchten, die erkundete Endlagerstätte werde
       doch noch in Betrieb gehen, einfach weil sie allein existiert. Und warum
       wollen die Grünen einem Ausstieg bis 2022 zustimmen? Sie selbst haben erst
       vor kurzem für das Ausstiegsdatum 2017 votiert.
       
       "Ich brauche den Konsens nicht unbedingt", sagt Lammers über die
       Umarmungstaktik der Bundesregierung. "Die Rolle der Grünen ist es,
       Schwachpunkte aufzuzeigen und zu mahnen."
       
       Spielen die Grünen jetzt good cop, bad cop? Gibt die Parteiführung also die
       Kompromissbereite, die entschuldigend auf die störrische Anti-AKW-Bewegung
       verweist, um aus der Regierung weitere Zugeständnisse herauszukitzeln? Ach
       was, sagt Lammers. "Aber wenn", ergänzt sie, "dann spiele ich gern das Bad
       Girl."
       
       Auf die nur rund 50 Grünen hier im Landkreis käme es nicht an, wäre dies
       hier nicht das Wendland. Ein flacher Landstrich, der für soziale Bewegungen
       und Grüne eine fast mythische Bedeutung gewonnen hat. Fraktionschefin
       Renate Künast hat hier ein Feriendomizil, Parteichefin Claudia Roth und
       Parteigeschäftsführerin Steffi Lemke machen bei Sitzblockaden mit. Das
       Wendland verleiht Glaubwürdigkeit. Wer es sich als Grüner mit denen hier
       verscherzt, hat ein Problem.
       
       ## Erstunterzeichnerin und Rednerin für die Globalalternative
       
       Lammers Telefon klingelt wieder. "Ja, morgen um 17 Uhr ist die Demo gegen
       die Abschiebung", sagt sie in ihr Handy. "Und du weißt, dass ich jetzt als
       Erste unter dem Globalalternativantrag stehe?" Sie ist sichtlich stolz. Vor
       wenigen Stunden hat Lammers erfahren: Noch vor dem populären Schlachtross
       Hans-Christian Ströbele ist sie jetzt die Nummer eins unter den
       Unterzeichnern des Antrages, der den Zustimmungskurs zu Fall bringen soll.
       Deshalb wird sie auch die Rede halten beim Parteitag in Berlin.
       "Mittlerweile glaube ich", sagt Lammers, "dass es eine Mehrheit gegen ein
       Ja gibt." Es könnte am Samstag wieder einen historischen Aufstand der
       Parteibasis geben, und die Wendländer wären mittendrin.
       
       Sie muss los. Für den Abend hat sie eingeladen ins nahe gelegene Dorf
       Gedelitz: eine Veranstaltung, bei der örtliche Grüne mit Vertretern der
       Initiativen ins Gespräch kommen wollen. "Nehme ich den Grünen-Pulli fürs
       Foto?", fragt sich Lammers laut beim Aufstehen. Sie entscheidet sich für
       den grünen Schal. "Ohne wäre das jetzt irgendwie nicht …"
       
       Auf der Fahrt von Lüchow nach Gedelitz geht es durch mehrere Dörfer.
       Entlang der Straße stehen etliche restaurierte Backsteinhäuser. Auf Feldern
       grasen Kühe, im Hintergrund drehen sich große Windräder. Hierher kamen seit
       den 70ern viele Linke aus den westdeutschen Großstädten. Wegen der schönen
       Aussicht. Wegen der Zonenrandförderung. Wegen der Nähe zur Transitstrecke
       aus West-Berlin. Und wegen der Anti-Atom-Proteste. Ein Idyll mit vielen
       großen gelben X aus Holzbrettern: dem Erkennungsmerkmal.
       
       ## "Rebecca" und "Trittin"
       
       Am Abend in der einzigen Gaststätte des Dörfchens soll es um eine Frage
       gehen: Welchen Atomausstieg wollen wir? "Wir" - dieses Wörtchen ist sehr
       wichtig für die hiesigen Grünen. Denn dass sie sich dazu zählen dürfen, zum
       Widerstand, das war lange Zeit nicht sicher. Nach dem rot-grünen
       Atomausstieg im Jahr 2000 trat die gesamte, siebenköpfige Ratsfraktion der
       Grünen aus Protest aus. Und mehr als die Hälfte der Parteimitglieder
       verließ die Partei. Im Bund ließ sich die Partei für den damaligen
       Kompromiss mit den Betreiberkonzernen feiern, hier aber gilt er bis heute
       als Verrat. Claudia Roth nennen sie "die Claudia", die grüne
       Europaabgeordnete Rebecca Harms, eine von hier, ist "Rebecca". Jürgen
       Trittin aber, der den damaligen Konsens als Bundesumweltminister
       verantwortete, heißt hier bis heute nur "Trittin".
       
       Wenige sind gekommen zum Treffen ins alte Gasthaus Wiese. Während der
       Castor-Transporte ist hier immer volle Bude. Heute spielen ein paar alte
       Herren lautstark Karten, während im Saal nebenan auf knarzigen Dielen und
       an Holztischen 20 Engagierte tagen. Männer und Frauen in legerer Kleidung,
       vor allem Ältere. Man kennt sich, man duzt sich. Lammers leitet die Sitzung
       vom Kopfende. Schnell sind sich alle einig: Die hiesigen Grünen müssen
       Front machen gegen eine Zustimmung zum Leitantrag des Bundesvorstands.
       Lammers nickt immer wieder. Ganz ihre Meinung.
       
       Am Tisch sitzt auch eine kleine, alte Frau. Ihre dicke graubraune Wolljacke
       wirkt wie eine bequeme Panzerung. Mit fester Stimme sagt sie: "Wenn die
       Grünen uns jetzt verraten, dann sind sie auch verraten." Schließlich seien
       in seltener Einmütigkeit etliche Verbände gegen den schwarz-gelben
       Atomausstieg: Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), Campact, BUND, Nabu und so
       weiter. Jeder hier kennt die resolute Rednerin: Marianne Fritzen, 87 Jahre.
       Auf dem alten Grünen-Wahlplakat in Lammers Haus ist sie zu sehen: eine
       kleine, skeptisch blickende Frau vor einer Reihe Polizisten in Gorleben. 32
       Jahre ist das her. 2000 verließ Fritzen wegen des Atomkonsenses die Partei.
       Damals kam Minister Trittin extra aus Berlin angefahren, um die Gründe für
       ihren Austritt zu hören. Sie hat diesen Schritt bis heute nicht bereut,
       sagt sie.
       
       ## Einer ist sauer
       
       Nur einer stört das Idyll der Gleichgesinnten. Jürgen Stolp, etwa Mitte 50,
       will sich für seine Grünen-Mitgliedschaft nicht des Verrats bezichtigen
       lassen. Auch nicht von Fritzen, der Galionsfigur des Widerstands. Ja, sagt
       er laut, 2001 sei er beinahe aus der Partei ausgetreten und auch aus der
       Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Aber er habe es sich nicht so einfach
       gemacht. Kompromisse seien schwer, aber jemand müsse sie nun mal schließen.
       Stolp ist sauer.
       
       Am Rand sitzt Wolf-Rüdiger Marunde. Der Cartoonist mit dem vollen
       schwarzgrauen Haar ist eines der wenigen Nichtparteimitglieder am Tisch, er
       ist Mitglied der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Mit ruhiger Stimme sagt der
       57-Jährige in die Runde: "Wenn ihr dem zustimmt aus strategischen Gründen,
       dann seid ihr nicht mehr meine Freunde." Lachen am Tisch, dabei sind
       Marundes Worte ernst gemeint. Die Runde geht nach zwei Stunden auseinander.
       Die Sonne ist noch immer nicht untergegangen. Stolp und Marunde – das
       Parteimitglied und der Mann aus der Bewegung – treffen kurz aufeinander.
       Marunde lächelt und sagt: "Na, du Verräter?"
       
       23 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Lohre
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
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