# taz.de -- Banken spekulieren in der Krise: Papiertiger US-Finanzreform
       
       > Die "ehrgeizigste Finanzreform seit der Weltwirtschaftskrise" in den USA
       > entwickelt sich zu einem gigantischen Papierkrieg. Das freut die Banken,
       > sie zocken weiter.
       
 (IMG) Bild: Noch Lachen die Demokraten Barack Obama (l.) und Christopher Dodd.
       
       BERLIN taz | In den USA läuft ein Experiment, das weltweite Bedeutung hat:
       Lässt sich eine zweite Finanzkrise vermeiden? Mitspieler in diesem
       Großversuch sind die amerikanischen Großbanken, ihre Lobbyisten, die
       Aufsichtsbehörden, der Kongress, das Finanzministerium und ein paar
       Verbraucherschützer.
       
       Das Experiment begann vor genau einem Jahr, als US-Präsident Barack Obama
       am 21. Juli 2010 ein Gesetz unterzeichnete, das er mit einem Superlativ
       umschrieb: Es sei die "ehrgeizigste Finanzreform seit der
       Weltwirtschaftskrise".
       
       Nie wieder sollte es zu einer Pleite wie bei der US-Investmentbank Lehman
       Brothers kommen, die im Herbst 2008 das weltweite Finanzsystem erschüttert
       hat. Auch die Euro-Krise und der jetzige Schuldenstreit in den USA sind
       noch Fernwirkungen dieser Spekulationsblase, die vor fast drei Jahren
       geplatzt ist.
       
       Doch bisher haben nur die USA reagiert. Sie sind mit ihrer Finanzreform
       vorgeprescht, während sich die EU noch nicht auf eine umfassende
       Bankenregulierung einigen konnte. Also dürften die USA zum weltweiten
       Maßstab werden. "Für andere Volkswirtschaften wird es schwierig sein, zu
       deutlich anderen Lösungen zu kommen", prognostiziert etwa DB Research, die
       Forschungsabteilung der Deutschen Bank.
       
       Aber was schreibt die angeblich so ehrgeizige US-Reform eigentlich vor? Das
       ist nicht leicht zu ermitteln, obwohl das Gesetz eine Rekordlänge von 849
       Seiten aufweist und von Hypotheken bis Verbraucherschutz scheinbar alles
       regelt (siehe Kasten). Doch konkrete Festlegungen wurden trotzdem
       vermieden. Entscheidend sind daher die 243 Verordnungen, die die
       Aufsichtsbehörden noch erlassen müssen.
       
       ## 21 Mal so hoch wie die Freiheitsstatue
       
       Also wächst der Papierberg weiter. Inzwischen sind genau 3.369 Seiten
       hinzugekommen, wie die American Bankers Association auf ihrer Website
       tagesaktuell mitzählt. Das "Wall Street Journal" hat einmal ausgerechnet,
       dass alle Seiten der US-Finanzreform aneinander geklebt schon jetzt etwa
       "21 Mal so hoch wie die Freiheitsstatue" wären. Und das ist erst der
       Anfang. Denn bisher sind erst 6,2 Prozent der vorgesehenen Verordnungen
       verabschiedet worden, wie die New Yorker Anwaltskanzlei Davis Polk
       ermittelt hat.
       
       Die letzten Vorschriften werden erst in zwölf Jahren in Kraft treten, doch
       die Sieger in diesem Langfrist-Experiment stehen schon fest: Den endlosen
       Papierkrieg gewinnen die Banken, die jede Anhörung und jeden
       Verordnungsentwurf nutzen, um die Aufsichtsbehörden mit Stellungnahmen zu
       bombadieren. Die American Bankers Association stellt dafür auch gern
       Formulierungsvorschläge bereit.
       
       Die US-Finanzreform versinkt in einem derartigen Chaos, dass es für die
       Banken leicht sein wird, alle Vorschriften zu umgehen. Oder wie es DB
       Research nüchtern formuliert: Es sei "Aufsichtsarbitrage" zu erwarten, was
       nichts anderes meint, als dass Banken ihre Produkte gezielt so gestalten,
       dass sie nicht unter die neuen Regeln fallen.
       
       ## Lukrativer Derivathandel
       
       Wie das Gezerre zwischen Banken und Aufsicht funktioniert, lässt sich
       bestens bei den Derivaten studieren. Diesen überaus lukrativen Handel will
       sich die Wall Street nicht zerstören lassen. Dabei können ausgerechnet
       Derivate wie "Massenvernichtungswaffen" auf den Finanzmärkten wirken, denn
       sie sind eine Mischung aus Versicherungen und Wetten. Käufer und Verkäufer
       spekulieren darauf, wie sich Zinsen, Devisenkurse, Rohstoffpreise oder auch
       Staatsanleihen künftig entwickeln. Mit minimalem Kapitaleinsatz können
       maximale Gewinne eingefahren werden - oder auch maximale Verluste.
       
       Zudem sind die Volumina enorm, die um den Erdball kreisen. Der Nominalwert
       der Derivate lag zuletzt weltweit bei sagenhaften 601 Billionen Dollar. Und
       auch der saldierte "Marktwert", bei dem die Derivate-Wetten gegeneinander
       aufgerechnet werden, betrug noch immer 21 Billionen. Zum Vergleich: Selbst
       eine so große Volkswirtschaft wie die USA kommen nur auf ein
       Bruttoinlandsprodukt von 14,7 Billionen Dollar. Die Finanzwelt der Derivate
       hat sich längst von der Realwirtschaft abgekoppelt.
       
       Der Handel mit Derivaten konzentriert sich auf wenige Banken. In den USA
       beherrschen die fünf größten Investmentbanken 96 Prozent des
       Derivate-Geschäfts. Allein JP Morgan kontrolliert etwa ein Viertel des
       gesamten US-Handels. Das zahlt sich aus: Für ihre Dienste erhielten die
       Banken 2010 Provisionen in Höhe von 22,5 Milliarden Dollar.
       
       Also haben die Banken keine Lobby-Anstrengung gescheut, um die Derivate
       einer Kontrolle zu entziehen. Mit Erfolg: Im Juni gaben die
       US-Aufsichtsbehörden bekannt, dass sie den Derivate-Handel vorerst nicht
       regulieren - und dass mit Vorschriften nicht vor Jahresende zu rechnen sei.
       
       ## Verbraucherschützer oder Gewerkschafter kommen kaum zu Wort
       
       Diese Frist werden die Banken nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schon
       jetzt sprechen sie täglich bei den Aufsichtsbehörden vor. Das
       US-Finanzministerium veröffentlicht rückwirkend für jeden Monat, mit
       welchen Lobbyisten verhandelt wurde. Allein die jüngste Liste für Mai füllt
       30 Seiten, und fast immer waren es Abgesandte der Finanzbranche, die ihre
       Bedenken darlegen durften. Nur ganz selten wird einmal ein
       Verbraucherschützer oder ein Gewerkschafter erwähnt.
       
       Dieser massive Aufmarsch der Finanz-Vertreter ist nicht überraschend, denn
       an ihnen herrscht kein Mangel. Für das Jahr 2010 wurden in Washington 2.533
       Lobbyisten der Banken und Versicherungen gezählt. Auf jedes einzelne
       Kongressmitglied kamen also gleich fünf Finanz-Angestellte.
       
       Das ist nicht billig: Die Finanzinstitute haben von 1998 bis 2010
       mindestens 4,4 Milliarden Dollar für die gezielte Einflussnahme in
       Washington ausgegeben, wie das unabhängige Center for Responsive Politics
       ermittelt hat. Dagegen haben Gewerkschaften und
       Verbraucherschutzorganisationen keine Chance: Gemeinsam kommen sie noch
       nicht einmal auf zehn Millionen im Jahr, die sie fürs Lobbying ausgeben -
       und dieses Geld muss für so unterschiedliche Themen wie Arbeitnehmerrechte,
       Umweltstandards und Derivatehandel reichen. "Wir beschäftigen uns ja nicht
       nur mit den Finanzreform", sagt Bankexpertin Heather Slavkin vom
       Gewerkschaftsbund AFL-CIO, die dort allein die Lobbyarbeit zur Finanzreform
       stemmen muss. "Wir können mit den Banken schlicht nicht konkurrieren."
       
       ## Üppige Wahlkampfspenden
       
       Zudem investiert die Finanzbranche nicht nur ins Lobbying - weitere zwei
       Milliarden Dollar wurden zwischen 1990 und 2010 für die diversen Wahlkämpfe
       gespendet. So hat allein der Demokrat Christopher Dodd 15 Millionen vom
       Finanzsektor erhalten. Pikant daran: Dodd war der Verhandlungsführer für
       den US-Senat, als die neue Finanzreform ausgearbeitet und vor einem Jahr
       verabschiedet wurde. Sein Partner im Repräsentantenhaus war Barney Frank -
       weswegen das Gesetz nun offiziell "Dodd-Frank Act" heißt. Frank bekam
       übrigens rund 4 Millionen Dollar von den Banken, versicherte aber kürzlich
       bei einem Fundraising-Dinner an der Wall Street, er sei "nicht käuflich".
       
       Zur Macht der Banken trägt bei, dass die Aufsicht fast machtlos ist. So
       wurde in den US-Medien amüsiert berichtet, dass Gary Gensler, Chef der
       Kontrollbehörde CFTC, eine Reise nach Brüssel selbst bezahlen musste, um
       mit seinen europäischen Kollegen über den weltweiten Derivatehandel zu
       beraten. Denn seine Behörde hatte keine Mittel mehr übrig für den Flug nach
       Europa.
       
       Doch der Aufsicht fehlt nicht nur Geld. Vor allem wurde sie durch den
       Dodd-Frank Act noch weiter zersplittert. "Die Finanzindustrie hatte Angst,
       dass eine Behörde zu mächtig werden könnte", sagt die Politikprofessorin
       Sharyn O' Halloran von der New Yorker Columbia Universität. "Also wurde die
       Zahl der wichtigen Spieler erhöht." Insgesamt gibt es in den USA rund 135
       Aufsichtsorgane - und allein für die großen Banken sind landesweit
       neuerdings elf Behörden zuständig, deren Kompetenzen sich fast immer
       überschneiden. Bei jedem Thema - ob Hedge Fonds oder Derivate - sind
       mindestens zwei Kontrollorgane involviert. "Das System wurde bewusst so
       gestaltet, dass es ineffektiv ist", stellt O'Halloran fest.
       
       Finanzexpertin Slavkin sieht die Reform ähnlich kritisch. "Die Märkte
       werden vielleicht ein wenig transparenter. Aber die Zockerei an der Wall
       Street geht weiter."
       
       19 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Herrmann
       
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