# taz.de -- Wahlkampf in der Kirche: Bittersüße Lobeshymnen
       
       > In der Marienkirche in Mitte lassen sich fünf Abgeordnete einen
       > Gottesdienst lang darauf ein, mal nichts als Gutes über Ihre Konkurrenz
       > zu sagen.
       
       Der Mann mit dem üppigen weißgrauen Bart "möchte wissen, mit wem ich es zu
       tun habe". Bei der FDP wisse er das, "und das schätze ich". Die Liberalen
       hören nicht viel Nettes in diesen Tagen, und schon allein deshalb sind
       diese Worte etwas Besonderes. Überraschend ist dagegen, von wem sie kommen.
       Denn der Mann am Mikro ist Wolfgang Brauer, langjähriger Abgeordneter der
       Linkspartei, und die hat üblicherweise für die FDP gar nichts übrig. Dass
       das an diesem Sonntagabend anders ist, liegt am Ort: Brauers Mikro steht
       nicht im Parlament oder an einem der zahlreichen Wahlkampfstände, sondern
       neben der Kanzel der Marienkirche am Alexanderplatz, deren Gemeinde
       Politiker eingeladen hat, in einem Gottesdienst ausnahmsweise mal nur Gutes
       über ihre Konkurrenten zu sagen.
       
       Komplettes Versagen vorwerfen; von genereller Unfähigkeit reden - all das
       gehört zum üblichen Vokabular, wenn Opposition und Regierung im
       Abgeordnetenhaus aufeinandertreffen. Lob für die Kollegen von der anderen
       Seite? Anerkennung für gute Argumente? Das gibt es meist nur jenseits der
       Mikrofone und Kameras, unter vier Augen. Parteiräson nennt man das,
       vernunft- und nicht gefühlsgesteuertes Handeln soll das sein, zum Wohle des
       großen Ganzen - also der Partei.
       
       Da will die Evangelische Kirchengemeinde St. Marien einen Gegenpunkt
       setzen, nur wenig mehr als 100 Meter entfernt von dem Ort, wo sich die
       politische Macht der Stadt ballt, dem Roten Rathaus. Eine "Wahlkampfpause"
       nennt die Gemeinde das. Brauer und vier Vertreter von SPD, CDU, Grünen und
       FDP, sie sollen über einen der jeweils anderen mal anders als schlecht
       reden.
       
       Nicht dass in der Politik alles nur noch in Friede-Freude-Eierkuchen
       ausarten soll - der politische Wettstreit könne ein wichtiger
       gesellschaftlicher Klärungsprozess sein, stellt Pfarrer Johannes Krug klar,
       bevor die fünf ans Mikro dürfen. Auch Jesus und seine Jünger hätten
       gestritten - wenn es seine Zeit hatte, wie es in der Predigt im Buch
       Kohelet steht. Wie auch Steine wegwerfen seine Zeit habe oder Steine
       sammeln, heißt es da.
       
       Linkspartei-Politiker Brauer, kultur- und kirchenpolitischer Sprecher
       seiner Fraktion, hat vor dem Gottesdienst einen Blick in die Bibel
       geworfen. Ins Zweite Buch Mose, auf die Stelle mit den Zehn Geboten hat er
       geschaut und zitiert nun das achte Gebot: "Du sollst nicht falsch Zeugnis
       ablegen wider Deinen Nächsten", kurzum: nicht lügen. Für Brauer orientiert
       sich die FDP daran, wenn sie ihre marktliberalen Positionen unverhüllt
       vorbringt. Für ihn gilt: Je unverwechselbarer Meinungen ausgesprochen
       werden, desto transparenter werde der demokratische Prozess. "Diese
       Klarheit würde verloren gehen, wenn es die FDP nicht gäbe."
       
       Die Politiker zelebrieren ihre "Feindesliebe" mit Seitenhieben. Dem Lob von
       Brauer wohnt unverblümte Abneigung gegen die Ausrichtung der Liberalen
       inne. Es zitieren überhaupt fast alle der fünf eingeladenen Politiker aus
       alt- oder neutestamentarischen Schriften. So auch Volker Ratzmann,
       Fraktionschef der Grünen im Abgeordnetenhaus, der Nettes zur Linkspartei
       finden musste - und beim Evangelisten Markus fündig wurde: "Eher geht ein
       Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes
       gelangt." Die christliche Variante einer linken Grundidee? Alle wüssten um
       die wachsende Gefahr einer sozialen Spaltung, sagt Ratzmann, der auch seine
       Schlussworte in der Bibel gefunden hat: "Liebet eure Feinde, segnet, die
       euch fluchen."
       
       Selbstkritik bei seiner Rolle als Parlamentarier und damit Gesetzesmacher
       ist bei SPD-Mann Christian Gaebler herauszuhören. Der sucht und findet
       tatsächlich Gutes bei der CDU, nämlich ihre Werteorientierung, und verweist
       dazu auf den Brief an die Galather. Dort wird der Einfluss eines
       Abgeordneten ziemlich eingegrenzt: Der Mensch werde nicht durch Werke des
       Gesetzes gerecht, sondern durch den Glauben an Jesus Christus. Pfarrer Krug
       hört die vielen Bibel-Bezüge gerne. "Wenn das Schule macht", resümiert er
       vor seinem Schlusssegen, "dann ist mir um die Zukunft der Stadt nicht
       bang."
       
       22 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Alberti
       
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