# taz.de -- Pharmaforschung für Kinder: Keine kleinen Erwachsenen
       
       > Kinder müssen besonders vor medizinischen Studien geschützt werden. Das
       > führt jedoch dazu, dass es für sie zu wenig passende Medikamente gibt.
       
 (IMG) Bild: Zu wenig Studien: Kinder bekommen selten für sie passende Medikamente.
       
       BERLIN taz | Die Fortschritte in der Neonatologie ermöglichen immer mehr
       Frühgeborenen das Überleben: Kommt ein Kind in der 28.
       Schwangerschaftswoche zur Welt, liegt seine Chance derzeit schon bei 90
       Prozent. Wenig bekannt ist allerdings, dass kranke Frühgeborene, kaum sind
       sie auf der Welt, einem wissenschaftlichen Trial and Error ausgeliefert
       sind. Denn 90 Prozent aller ihnen verabreichten Medikamente sind für Kinder
       überhaupt nicht zugelassen. Größere Kinder bekommen immerhin noch 70
       Prozent nicht geprüfte Pillen verabreicht, die der behandelnde Arzt Pi mal
       Daumen nach dem Körpergewicht berechnet zuteilt.
       
       Da Kinder jedoch einen anderen Stoffwechsel haben und auf Wirkstoffe anders
       reagieren als Erwachsene, ist dieses Verfahren risikoreich. "Kinder sind
       keine kleinen Erwachsenen", leitete Jochen Taupitz programmatisch das Forum
       Bioethik des Deutschen Ethikrats ein, das vor Kurzem über die ethische
       Brisanz von Arzneimittelforschung mit Kindern informierte.
       
       Einerseits haben Kinder ein Anrecht auf gute und sichere Versorgung,
       andererseits sind Studien mit Kindern problematisch, weil für Minderjährige
       ein besonderes Schutzgebot gilt und die Studien deshalb aufwendig sind.
       
       Zudem ist der Markt vergleichsweise klein, sodass Pharmafirmen ohnehin nur
       ein begrenztes Interesse daran haben; Arzneimittelforschung für diese
       Patientengruppe ist meist auf öffentliche oder private Geldgeber
       angewiesen.
       
       ## Viele Ausnahmen
       
       Seit 2007 gilt in Europa eine auf die Initiative Better Medicine for
       Children zurückgehende Verordnung, die für jedes neue Medikament ein
       besonderes pädiatrisches Prüfverfahren vorschreibt. Doch viele dem
       Ausschuss zur Genehmigung vorgelegte Medikamente werden entweder
       zurückgestellt oder fallen aus der Prüfung völlig heraus, wie der
       Vorsitzende der Kommission für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche,
       Wolfgang Rascher, erläuterte.
       
       Seit der Novellierung des Arzneimittelgesetzes 2004 dürfen Kinder
       neuerdings zwar in "alternativlose" klinische Tests einbezogen werden, um
       den "gruppenspezifischen Nutzen" eines Medikaments zu prüfen, doch die
       Hürden sind relativ hoch. Deshalb, so Rascher, kämen viele Medikamente
       "viel zu spät bei den Kindern an".
       
       Um diese von der rot-grünen Koalition eingeführten Arzneimitteltests, bei
       denen kleine Patienten als Kontrollgruppe herangezogen werden, um die
       Wirksamkeit eines Medikaments zu erproben - zum Beispiel, indem ihnen
       Placebos, also Scheinpillen ohne Wirkung, verabreicht werden - hatte es
       damals heftigen Streit gegeben. Denn wie soll ein Arzt legitimieren, dass
       einem Kind eine verfügbare Standardtherapie vorenthalten wird, nur um
       festzustellen, dass ein neues Mittel anderen Kindern nützt.
       
       "Als Erwachsener", erklärt der Tübinger Pädiater Dietrich Niethammer,
       "können Sie sich nach bestem Wissen und ausreichender Aufklärung als
       Proband zur Verfügung stellen, und die Pharmafirmen bezahlen dafür eine
       Aufwandsentschädigung. Mit Kindern können sie das nicht machen, weil sie
       nicht zustimmen können. Sie werden zu Versuchskaninchen, über die die
       Erwachsenen entscheiden."
       
       Allerdings hält er es - und ist sich in dieser Hinsicht mit der gesamten
       Runde des Forums einig - "für unethisch", Kinder generell aus der
       Arzneimittelforschung auszuschließen. Gerade in der Kinderonkologie seien
       über vernetzte Studien in den letzten Jahrzehnten riesige Fortschritte
       gemacht worden.
       
       Jährlich erkranken 15.000 Kinder in der EU an Krebs, rechnet Angelika Egger
       vom Westdeutschen Tumorzentrum vor. Die Heilungsrate ist hoch, doch 87
       Prozent der Medikamente, mit denen Kinder behandelt werden, seien für diese
       nicht zugelassen. Die öffentlich finanzierten Therapieoptimierungsstudien
       würden aber immer bürokratischer, langwieriger und teurer, manchmal daure
       es schon ein Jahr, um einen Versicherer zu finden.
       
       ## Überflüssige Tests
       
       Wenig zu hören war von den Fachleuten allerdings über eine andere
       Nutzen-Risiken-Abwägung. Zweifelsfrei nahmen Kinder in der Vergangenheit an
       nicht ausreichend getesteten Medikamenten viel Schaden. Andererseits werden
       Arzneimittel oft nur geringfügig verändert und als Novität auf den Markt
       geworfen. Bei Kindern würde es ausreichen, die Standardtherapie anzuwenden.
       Warum also sollte man sie mit überflüssigen Tests belasten?
       
       Während der rechtliche Rahmen relativ klar umrissen ist, wird um diese
       Belastungsgrenze auch unter Experten gerungen. Die besondere
       Verletzlichkeit von Kindern und die Tatsache, dass sie nicht
       einwilligungsfähig sind, stellen hohe Ansprüche. Der Schweregrad der
       Erkrankung und der potenzielle Gruppennutzen sind nicht in jedem Fall ein
       hinreichendes Kriterium. Eltern und Ethikkommissionen bleibt dann im
       Einzelfall die Entscheidung überlassen, ob ein Kind an einer Studie
       teilnimmt.
       
       Doch wer definiert die Schwelle einer unzumutbaren Belastung? Wie
       entscheiden Kommissionen, die sich der Wissenschafts-Community verpflichtet
       fühlen? Und wie Eltern, wenn sie unter Stress stehen? Wie viel können sie
       wissen und welche Alternativen haben sie?
       
       Die Göttinger Bioethikerin Claudia Wiesemann hat herausgefunden, dass
       Eltern kranker Kinder eher bereit sind, ihr Kind einem Studienprojekt zur
       Verfügung zu stellen. Weil sie nach dem letzten Hoffnungsfaden greifen?
       Oder weil sie Nachteile fürchten, wenn sie die Teilnahme verweigern?
       Darüber, was Kinder selbst wollen, ist fast nichts bekannt.
       
       "Die Eltern adäquat aufzuklären", bestätigt Dietrich Niethammer, "erfordert
       viel Zeit und Geduld. Eltern dürfen nicht den Eindruck gewinnen, ihre
       Kinder würden schlechter behandelt werden, wenn sie ihr Kind vor den
       Belastungen schützen wollen. Gleichzeitig muss man auch Kinder vor Eltern
       schützen, die nicht verstehen, wenn nichts mehr geht und das Kind das
       deutlich macht."
       
       ## Altersgerechte Information
       
       Niethammer, der die ersten Knochenmarktransplantationen in Deutschland
       durchgeführt hat, weiß von Erfolgen zu erzählen - und von Rückschlägen.
       "Wenn etwas schiefgelaufen ist, fragt man sich immer, ob der andere Weg der
       bessere gewesen wäre."
       
       Die altersspezifische Aufklärung, die es Kindern ermöglicht, einem Versuch
       zumindest zuzustimmen, wenn auch nicht rechtsverbindlich einzuwilligen, ist
       eine Achillesferse bei der Arzneimittelforschung. Eine Analyse von
       Studienprotokollen in Sachsen-Anhalt ergab, dass die altersgerechte
       Patienteninformation große Mängel aufweist. Im Forum Bioethik war man sich
       einig, dass da viel nachzuarbeiten ist. Ob Kinder überhaupt als
       Forschungsobjekt dienen sollen, wurde nicht mehr hinterfragt.
       
       30 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Baureithel
       
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