# taz.de -- Debatte Griechenland: Immer Ärger mit der Geschichte
       
       > Gregor Gysi fodert für Griechenland „Marshall“ statt „Versailles“. Die
       > Grünen finden Gysi sei „entgleist“ – doch das ist er keineswegs.
       
 (IMG) Bild: Verwirrt die Grünen mit historischen Vergleichen: Gysi im Bundestag.
       
       Mit historischen Vergleichen bewegt man sich in der Politik stets auf
       dünnem Eis. Das gilt nicht nur für den, der die Vergangenheit bemüht, um
       die Kritik am Gegenwärtigen zu unterstreichen - sondern auch für jene, die
       sich darüber erregen. Ein Disput zwischen Gregor Gysi von der Linken und
       Volker Beck von den Grünen hat das am Montag einmal mehr gezeigt.
       
       Im Bundestag stand das neuerliche „Hilfspaket“ für Griechenland auf der
       Tagesordnung und der Fraktionschef der Linken illustrierte die Ablehnung
       seiner Partei mit einem Hinweis auf den Versailler Friedensvertrag nach dem
       Ersten Weltkrieg: „Sie machen bei Griechenland Versailles, die brauchen
       aber Marshall.“ Gemeint war: Die Siegerforderungen seien damals zu
       weitgehend gewesen und hätten - als einer von mehreren Gründen - zum
       Erstarken der Nationalsozialisten geführt. Die westlichen Alliierten seien
       nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshallplan zum Aufbau dagegen viel
       klüger gewesen.
       
       Der Vergleich provozierte eine Zwischenfrage von Beck. „Ich wollte Sie
       nochmal fragen, was Sie uns gerade mit den Aussagen zum Versailler Frieden
       sagen wollten. Und ob sie das intonieren wollten im Sinne von ,Weg mit dem
       Versailler Schandfrieden‘, wie wir das mal früher in der Weimarer Republik
       gehört hatten. Ich bin wirklich ein bisschen entsetzt. Man kann doch diese
       Art von Parolen nicht ohne historischen Zusammenhang aufnehmen.“
       
       Andere Grünen-Abgeordnete sahen das genauso: „Gysi entgleist im Bundestag“,
       twitterte der Abgeordnete Oliver Krischer. Und auch sein Fraktionskollege
       Sven-Christian Kindler meinte: „Versailles und Marshallplan, das geht echt
       nicht!“
       
       Wirklich nicht? Einmal abgesehen davon, dass dem historischen Vergleich als
       rhetorischer Figur immer etwas Vereinfachendes, ja Verzerrendes beiwohnt,
       weil sich Geschichte nun einmal nicht als Kontinuum im Kreisverkehr bewegt,
       ist der von Gysi vorgetragene Gedanke weder neu noch absurd.
       
       Schon im Sommer 2011 hatte der Linkenpolitiker der Bundesregierung eine
       „Versailles-Politik“ gegenüber Griechenland vorgeworfen und mit Blick auf
       die Forderungen der schwarz-gelben Bundesregierung an die Athener
       Krisenverwalter gewarnt: „Mit den ganzen Auflagen ruinieren wir
       Griechenland.“ Was, so die Logik des Gesagten, die dortige soziale Lage
       verschärfen, die Möglichkeit der Konsolidierung und damit das gesamte
       europäische Projekt gefährden könne. Der Spiegel wusste damals sofort: „Der
       Vergleich hinkt gewaltig.“ Doch das tut er keineswegs.
       
       ## Damals Versailles – heute Berlin
       
       Gysi hat hier einen Gedanken aufgegriffen, der seit der Neuauflage von John
       Maynard Keynes‘ „Krieg und Frieden“ vor ein paar Jahren immer einmal wieder
       zu hören war. Auf das Buch des großen Ökonomen über „die wirtschaftlichen
       Folgen des Vertrages von Versailles“ hat sich unlängst zum Beispiel auch
       der Wirtschaftsjournalist Robert von Heusinger in der Berliner Zeitung
       gestützt – und einen Vergleich zur Griechenland-Politik gezogen. Wer Keynes
       heute lese, „erschrickt ob der Aktualität“, seine Abrechnung „mit der
       Verlogenheit, den Rachegefühlen sowie den schwachen Staatsmännern passt.
       
       Damals hieß der Ort Versailles, heute wird das unwürdige Schauspiel in
       Berlin, Frankfurt am Main und Brüssel aufgeführt. Man muss nur
       Kriegsentschädigung durch Sparanstrengungen zur Rückzahlung der
       Hilfskredite ersetzen.“ Schon Anfang 2010 hatte der frühere Generalsekretär
       des Europäischen Gewerkschaftsbunds, John Monks, unter Rückgriff auf Keynes
       davor gewarnt, dass die von EU und IWF den südeuropäischen Schuldenländern
       aufgezwungene Austeritätskeule der „Bestrafungspolitik“ gleiche, mit der
       Deutschland im Vertrag von Versailles konfrontiert wurde.
       
       Keynes hat die Verantwortung Deutschlands für den Ersten Weltkrieg nie in
       Zweifel gezogen und auch das Recht der Sieger auf Wiedergutmachung nicht
       bestritten. Zweckmäßig für den Frieden in Europa wäre es nach Meinung des
       Ökonomen seinerzeit aber gewesen, dafür zu sorgen, auch bei den Besiegten
       die Bedingungen für Wohlstand und Wachstum gefördert werden - was nicht
       geschehen sei. Diese historische Pointe hat nichts mit dem Wiederaufwärmen
       irgendeiner Propaganda gegen den „Diktatfrieden“ zu tun.
       
       ## Und jetzt zum Marshallplan
       
       Die Aktualität von Keynes Gedanken ist doppelt grundiert – europäisch und
       volkswirtschaftlich. Der Publizist Alan Posener hat einmal dazu geraten,
       das Buch von Keynes zu lesen „als Dokument einer vertanen geschichtlichen
       Chance; als Gradmesser für den gewaltigen Erfolg der Einigung Europas; und
       als Warnung davor, diese Erfolgsgeschichte durch nationalen Egoismus oder
       kulturelle Dünkel noch einmal aufs Spiel zu setzen“.
       
       Und der Autor Rudolf Walther wies darauf hin, dass Keynes seinerzeit darauf
       hinauswollte, dass „mit einem Schuldenerlass unter den Siegerstaaten, einer
       Anleihe unter Aufsicht des Völkerbundes und einer gezielten und
       kontrollierten Wiederaufbauhilfe für die Kriegsverlierer“ nicht nur mehr
       Reparationszahlungen zu gewinnen gewesen wären, sondern auch eine Politik
       verhindert hätte werden können, die Deutschland „in kurzer Zeit in eine
       Hyperinflation stürzte“. Mit den bekannten sozialen und politischen Folgen.
       
       Keynes trat, als er nicht mehr glaubte, wesentliche Änderungen der
       Friedensbedingungen zu erreichen, im Juni 1919 von jenen Ämtern zurück, die
       ihn als Berater der britischen Seite an der Pariser Konferenz hatten
       teilnehmen lassen. „Wer die Geschichte kennt, weiß, dass erst ein zweiter
       Krieg erlitten werden musste, bevor Keynes’ Vorschläge Gehör fanden. Der
       Marshall-Plan war die große Anleihe, die nach 1945 Europa Wachstum und
       Wohlstand brachte – und Frieden“, schrieb Robert von Heusinger vor einem
       halben Jahr. „Ist es nicht grotesk, dass sich deutsche Politiker daran
       nicht erinnern?“
       
       Der Gedanke drängt sich heute wieder auf, wenn man an die erzürnte
       Zwischenfrage von Volker Beck im Bundestag denkt. Oder an die kurz darauf
       folgende Schelte des CDU-Politikers Volker Kauder: „Nach dem was Gregor
       Gysi mit seinen historischen Erkenntnissen hier gesagt hat, könnte man
       sprachlos sein.“
       
       ## So viel Unwissen macht sprachlos
       
       Sprachlos macht freilich eher die Unkenntnis derer, die den
       Linken-Politiker hier eines unsäglichen Vergleichs beschuldigen und dabei
       selbst die Grenzen strapazieren. Volker Beck hat Gysi gefragt, ob er die
       Parole vom „Schandfrieden“ intonieren wolle - ein Wort, das ein gewisser
       Adolf Hitler bei seiner ersten Rede in Nürnberg im August 1920 auf den
       Vertrag von Versailles münzte.
       
       Mit der an volkswirtschaftlichen Überlegungen und der Sorge um soziale
       Stabilität in Europa orientierten Mahnungen von Keynes hatte der damals
       nichts am Stahlhelm. Und Volker Beck kann nicht ernsthaft meinen, dass sich
       ein Linkenpolitiker heute der rechten Propaganda der Zwischenkriegszeit
       bemächtigt.
       
       Mit historischen Vergleichen bewegt man sich in der Politik auf dünnem Eis.
       Am Montag brach es durch - und es war nicht Gregor Gysi, der dabei nass
       wurde.
       
       28 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tom Strohschneider
       
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