# taz.de -- Amoklauf eines US-Soldaten: Afghanen glauben nicht an Einzeltäter
       
       > Lokale Untersuchungen widersprechen der Version des US-Militärs, ein
       > Amokläufer habe allein 16 Dorfbewohner getötet. Es seien 15 bis 20 Täter
       > gewesen.
       
 (IMG) Bild: Ein Dorfbewohner in Pandschwai zeigt eine Geschosshülse, die der US-Version vom Einzeltäter widersprechen soll.
       
       KABUL taz | Nazar Mohammad muss jedes Mal weinen, wenn er über die
       Ermordung der Familie seines Bruders spricht. Seit Montag vor einer Woche
       muss der südafghanische Bauer fast täglich darüber sprechen. In jener Nacht
       seien US-Soldaten in sein Dorf gekommen, in das Haus seines Bruders Lal
       Mohammad eingedrungen, und hätten die ganze Familie ausgelöscht, sagt er
       diesmal den Mitgliedern der parlamentarischen Kommission des Unterhauses,
       der Wolosi Jirga.
       
       Sie sind die vierte Ermittlergruppe, die die Dorfbewohner nach dem Massaker
       befragen. Vor ihnen waren afghanische Journalisten, die Polizei und eine
       Kommission der Regierung dort. Alle, die Angehörige der Opfer trafen,
       widersprechen seitdem hartnäckig der US-Darstellung der Ereignisse.
       
       Gemäß der afghanischen Version des nächtlichen Mordens im südafghanischen
       Pandschwai gab es 15 bis 20 Täter – allesamt alkoholisierte US-Soldaten,
       die Frauen unter den Opfern vergewaltigten, bevor sie sie töteten. Später
       hätten sie die Leichen angezündet. Am Tag davor sollen US-Soldaten dem Dorf
       mit Vergeltung für einen getöteten Kameraden gedroht haben.
       
       US-Militärs wiesen in den ersten Tagen nach dem Massaker alle Vorwürfe
       zurück, nur die [1][Morde an den 16 Menschen] nicht. Nach US-Darstellung
       handelte es sich um einen Amokläufer. Der Einzeltäter habe sich nach der
       Tat gestellt und wurde verhaftet.
       
       ## Jeden Tag neue Enthüllungen
       
       Nun bröckelt aber die US-Darstellung. Zunächst mussten Sprecher der US Army
       zugeben, dass die Leichen verbrannt wurden. Die Medien hatten Bilder von
       den geschändeten Toten längst veröffentlicht. Nun folgen Tag für Tag
       weitere Enthüllungen, die die Anschuldigungen der Afghanen untermauern.
       
       Ein US-Offizier, der nicht mit Namen genannt werden wollte, erklärte
       kürzlich, der Täter sei alkoholisiert gewesen. Und zwei weitere GIs hätten
       gestanden, an jenem Abend zusammen mit ihm getrunken zu haben. Zugegeben
       haben sollen sie auch, dass sie Rachegelüste hegten, weil am Vortag eine
       Bombe einem Kameraden das Bein abgerissen hatte.
       
       Obwohl das US-Militär inzwischen in vielen Punkten korrigiert, hält es noch
       an der Einzeltäterthese fest. Ein Sprecher der Internationalen
       Isaf-Schutztruppe in Kabul versicherte immerhin, sie würde Informationen
       über die Beteiligung von mehreren Soldaten nachgehen, wenn Beweise
       vorlägen.
       
       Zeitgleich habe die Isaf aber eine gemeinsame Ermittlung mit afghanischen
       Behörden abgelehnt, sagte empört der Vorsitzende der
       Untersuchungskommission der Regierung, Generalstabchef Sher Mohammed
       Karimi. Der Chef der parlamentarischen Untersuchungskommission, Hamidzai
       Lali, fordert die Überstellung des in den USA ausgeflogenen Täters Robert
       Bales an die afghanische Justiz.
       
       ## Wachsende Wut im Süden
       
       „Sonst“ wird die Wolosi Jirga nicht ruhen, die ausländischen Truppen zu
       Besatzern zu erklären – wie damals die Russen“, droht Lali. Er spricht von
       der wachsenden Wut der südafghanischen Stämme. Sie drohten nun offen, gegen
       jene Afghanen vorzugehen, die 2001 in Bonn der Präsenz der internationalen
       Truppen im Land zugestimmt hatten.
       
       Auch in Afghanistan ist die Erinnerung an den Haditha-Skandal 2006 im Irak
       noch frisch. Viele Afghanen bestehen deshalb darauf, dass die Täter in
       ihrem Land vor Gericht gestellt werden. Haditha – das waren US-Soldaten,
       die nach einem Bombenangriff auf ihre Truppe Vergeltung an Zivilisten übten
       und 24 Iraker töteten. Auch damals hatten die Marines zunächst alles
       bestritten und den Zwischenfall als „Zusammenstoß mit Aufständischen“
       bezeichnet.
       
       Nur durch Medienrecherchen kam später die Wahrheit heraus. Doch
       Gerechtigkeit gab es für die Iraker nicht. [2][Ein US-Militärgericht sprach
       fast alle Täter frei]. Nur einer wurde zu drei Monaten Haft verurteilt, die
       er nie verbüßen musste. Die Karsai-Regierung fürchtet nun eine Wiederholung
       der Geschichte und die Demontage ihres Ansehens bei der Bevölkerung.
       
       19 Mar 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Massaker-an-Zivilisten-in-Afghanistan/!89484/
 (DIR) [2] /Prozess-Massaker-von-Haditha/!86364/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cem Sey
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) USA
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Massaker von Kandahar: Kleine Gesten zeigen den Horror
       
       Vor einem Jahr ermordete US-Sergeant Robert Bales bei Kandahar mitten in
       der Nacht 16 Zivilisten. Ein Kurzfilm lässt nun die Überlebenden zu Wort
       kommen.
       
 (DIR) Massaker in Afghanistan: US-Soldat droht Todesstrafe
       
       Weil ein US-Soldat in Afghanistan 16 Zivilisten getötet haben soll, fordert
       die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe. Seine Verteidigung verweist auf
       psychische Probleme.
       
 (DIR) US-Soldaten in Afghanistan: Posieren mit Leichenteilen
       
       Die „Los Angeles Times“ berichtet über Fotos aus dem Jahr 2010, auf denen
       US-Soldaten mit den Überresten von Selbstmordattentätern posiert hätten.
       
 (DIR) Angriffe in vier Provinzen Afghanistans: Propaganda-Sieg der Taliban
       
       Der Großangriff ist eine politische Niederlage der afghanischen und der
       Nato-Truppen. Die Taliban kopieren die Strategie der USA: gleichzeitig
       kämpfen und verhandeln.
       
 (DIR) Studenten in den USA erschossen: Amoklauf an christlicher Universität
       
       An einer Universität im kalifornischen Oakland hat ein Amokläufer sieben
       Menschen getötet. Der Schütze hat sich kurz nach der Tat gestellt. Das
       Motiv ist unklar.
       
 (DIR) Amoklauf in Afghanistan: Anklage gegen US-Soldaten
       
       Nach seinem Amoklauf muss sich US-Soldat Robert Bales wegen 17-fachen
       Mordes vor Gericht verantworten. Er gibt vor, sich an die Tat kaum erinnern
       zu können.
       
 (DIR) Sicherheit in Afghanistan: Karsai will Nato-Abzug schon 2013
       
       Geht es nach dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, wird die Nato ein
       Jahr früher als geplant abziehen – also schon 2013. Die Taliban setzen
       indes ihre Gespräche mit den USA aus.
       
 (DIR) US-Amerikaner in Afghanistan: „Schlimmer als die Sowjets“
       
       Im Kabuler Alltag offenbart sich der Hass der Afghanen auf die Ausländer.
       Sie glauben dem Westen nicht mehr, Gerüchte über den Amoklauf eines
       US-Soldaten gehen um.
       
 (DIR) Rache für Massaker in Afghanistan: Regierungsmitglieder beschossen
       
       Angriff auf hochrangige Delegation bei Besuch der Betroffenen des
       Massakers. Erster größerer Protest nach dem Amoklauf bleibt friedlich.
       Taliban drohen mit Enthauptungen.
       
 (DIR) Kommentar Amoklauf Afghanistan: Der gegenseitige Hass wächst
       
       Die Forderungen nach einem Abzug werden lauter. Das verringert den Druck
       auf die Taliban, sich auf Verhandlungen und substanzielle Zugeständnisse
       einzulassen.
       
 (DIR) Massaker an Zivilisten in Afghanistan: Die Geduld ist am Ende
       
       In Afghanistan herrscht Wut über das Massaker eines US-Soldaten an 21
       Zivilisten, aber die Lage im Land ist ruhig. Die Taliban kündigen Rache an.