# taz.de -- Debatte Nato und Afghanistan: Der zweite Irak
       
       > Alle sprechen vom Truppenabzug aus Afghanistan bis 2014 und suggerieren,
       > damit wäre der Krieg beendet. Doch der wird weitergehen, wie im Irak.
       
 (IMG) Bild: Das Übergabekonzept der Nato-Staaten ist überhastet.
       
       Die Regierungen der Nato-Staaten sitzen derzeit in Chicago beim
       Gipfeltreffen zusammen, und Afghanistan ist eines der zentralen Themen auf
       der Tagesordnung. Anlass genug, gleich mal vorab eine Sache
       richtigzustellen: Ende 2014 ist nicht das Datum, an dem die letzten
       westlichen Truppen Afghanistan verlassen werden. Lassen Sie sich nicht
       täuschen.
       
       In vielen Medien wird zwar immer wieder verkürzt von einem Truppenabzug
       gesprochen, doch liest man die offiziellen Verlautbarungen genau, dann ist
       dort lediglich von einem Ende der Kampfeinsätze die Rede und von einem
       „drawdown“, also einer Verminderung der Truppenzahl, niemals von einem
       vollständigen Abzug. Was also wird wirklich passieren bis zum Ende der
       „Übergabe der Verantwortung“ an die afghanische Regierung und ihre
       Sicherheitskräfte?
       
       Grob gesagt, wird Afghanistan sich dem Irak anverwandeln. Ein großer Teil
       der zurzeit 128.453 Isaf-Soldaten wird tatsächlich abgezogen werden und der
       Rest wird zu Trainern und Mentoren der afghanischen Armee und Polizei
       umgeschult. Deshalb ändert auch die Entscheidung des französischen
       Präsidenten François Hollande nicht viel an der Gesamtlage, wenn er die
       Kampftruppen seines Landes ein Jahr eher als bisher geplant abzieht. Auch
       Frankreich will weiter Ausbilder stellen.
       
       Insgesamt wird es Anfang 2015 keine Isaf-Mission mehr geben, sondern neue,
       kleinere, weniger sichtbare Einheiten. US-Medien gehen von etwa 20.000
       Soldaten aus, davon 6.000 Spezialkräfte.
       
       ## Raus aus den Schlagzeilen
       
       Mit dieser Reduzierung soll der Anschein erweckt werden, der Krieg in
       Afghanistan sei beendet. Wie im Falle Iraks soll das Thema von den
       Titelseiten und aus dem Bewusstsein der Wähler verschwinden. Denn wenn nur
       noch ein paar deutsche Ausbilder in Afghanistan sind, wird es keine
       „eingebettete“ Berichterstattung mehr geben und auch weniger
       pressebegleitete Minister- und Parlamentarierreisen. Die Presse bei uns
       wird das Interesse verlieren, es wird also ruhig werden um Afghanistan.
       
       Der Krieg aber, er wird weitergehen, so wie im Irak auch. Bekanntlich wird
       hier weiter gebombt, die konfessionelle Spaltung vertieft sich Jahr um
       Jahr, und immer noch sind Tausende US-Militärs und Kontraktoren dort aktiv.
       (Die US-Botschaft in Bagdad hat 17.000 Mitarbeiter.) Der Krieg dauert an,
       es ist kein Frieden in Sicht, aber er hat sein Aussehen geändert.
       
       So werden keine deutschen „Marder“ mit Isaf-Emblem mehr auf den Straßen von
       Kundus patrouillieren. Stattdessen rücken die Special Operations Forces,
       vor allem aus den USA, und noch speziellere CIA-Kräfte mehr in der
       Vordergrund. Sie sollen die Taliban mit Drohnen, nächtlichen Zugriffen
       („night raids“) und irregulären, milizenähnlichen afghanischen Verbänden
       bekämpfen.
       
       ## Krieg der Spezialkräfte
       
       Den Einsatz von Spezialtruppen und Milizen hält das Pentagon für besonders
       effektiv, obwohl beide häufig außerhalb der Gesetze des Landes operieren.
       Präsident Barack Obama bestätigte das bei seinem jüngsten
       Afghanistan-Besuch, am Jahrestag der Tötung Osama bin Ladens: „Wir haben
       den Schwung der Taliban gebrochen. Wir haben die Al-Qaida-Führung
       vernichtet.“ Auch die Operation, die zum Tod bin Ladens führte, wurde von
       den Special Forces durchgeführt.
       
       Gleichzeitig kommen bei deren Einsätzen immer wieder Zivilisten ums Leben.
       Die in Afghanistan lebenden Forscher Alex Strick van Linschoten und Felix
       Kuehn haben in ihrer 2011 veröffentlichten Studie („A Knock on the Door: 22
       Months of ISAF Press Releases“) vermittelt, dass nur 5 Prozent der bei
       „night raids“ getöteten Afghanen hochrangige Aufständische waren. Bei allen
       anderen handelt es sich entweder um Fußvolk oder um Unbeteiligte, und die
       sind oft nur schwer voneinander zu unterscheiden. Strick und Kuehn sehen
       darin eine „Netzwerk-Strategie der Zielfindung“, ähnlich der umstrittenen
       Rasterfahndung.
       
       Schon jetzt ist die Sicht der afghanischen Bevölkerung auf die
       ausländischen Truppen gekippt: erst Befreier, jetzt Besatzer, für die
       ihrerseits alle Afghanen in Aufstandsgebieten pauschal potenzielle Feinde
       sind.
       
       Der Teilabzug Ende 2014 ist also eher ein Formationswechsel, der das
       Gewicht derjenigen Einsatzkräfte stärkt, die am drastischsten für die
       gegenwärtige Polarisierung in Afghanistan verantwortlich sind.
       
       ## Beihilfe zum Bürgerkrieg
       
       Der Krieg wird vielleicht auch noch stärker Bürgerkriegscharakter annehmen.
       Die afghanische politische Landschaft ist fragmentiert. Fast jeder
       Politiker, der etwas auf sich hält, hat seine eigene Partei. Viele dieser
       Parteien sind immer noch bewaffnet und stehen als verbündete Milizen zur
       Rekrutierung bereit.
       
       Da mit der Truppenreduzierung auch zivile Hilfszuwendungen schrumpfen – der
       größte Geber, USAID, hat sein Budget von 2010 auf 2011 fast halbiert –,
       wird der verteilbare Kuchen kleiner, der Anreiz, dafür zur Waffe zu
       greifen, aber größer. Das ist auch der von Obama initiierten militärischen
       Eskalation seit 2009 zu verdanken, die vergeblich darauf zielte, die
       Taliban als künftigen politischen Faktor auszuschalten. Dabei privilegierte
       der Westen die Verbündeten mit der größten Feuerkraft, so wie Karsais
       inzwischen ermordeten Bruder Ahmad Wali, und tolerierte deren Verwicklung
       in Drogenhandel und milliardenschwere Korruption. Afghanistan Ende 2014
       wird also ein Land mit schwachen Institutionen und vielen bewaffneten
       Männern sein.
       
       Statistiken zeigen, dass auch viele Afghanen diese Furcht teilen. Die
       Kapitalflucht aus dem Land nimmt zu, Investitionen sinken und die
       Immobilienpreise fallen. Die UNO registriert im vorigen Jahr über ein
       Drittel mehr afghanische Asylanträge in den Industrieländern. Gleichzeitig
       sank die Zahl der zurückkehrenden Flüchtlinge fast um die Hälfte.
       
       All dies zeigt: Das Übergabekonzept der Nato-Staaten ist überhastet,
       beschönigt die Realität in Afghanistan und läuft im schlimmsten Fall auf
       Beihilfe zum Bürgerkrieg hinaus. Aber wir können sicher sein, dass uns aus
       Chicago nur die gute Nachricht erreichen wird: Alles läuft nach Plan.
       
       22 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Ruttig
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Afghanistan-Bericht unterdrückt: Menschenrechte in Kabul sind „Gedöns“
       
       Ein kritischer Menschenrechtsbericht wird von der Regierung Karsai und dem
       Westen unterdrückt. Er passt nicht in die politische Landschaft. Jeder
       Zusatzkonflikt gefährdet nur den Abzug.
       
 (DIR) Zahlreiche Anschläge im Irak: Der blutigste Tag seit zwei Jahren
       
       Bei mindestens 22 Anschlägen in 14 irakischen Städten sind mehr als 90
       Menschen getötet worden. Die irakischen Behörden sprechen von rund 160
       Verletzten.
       
 (DIR) Bombenanschläge im Irak: Alte Konfliklinien brechen auf
       
       Die Opferzahlen im Zusammenhang mit der Anschlagserie im Irak steigen
       weiter. Bei den Detonationen starben mindestens 65 Menschen – Beobachter
       gehen von religiösen Tatmotiven aus.
       
 (DIR) Debatte Afghanistan: Gefährliche Avancen
       
       Mit der Annäherung an China versucht Kabul sich aus der Umklammerung des
       Westens zu befreien. Doch das ist ein riskantes Spiel.
       
 (DIR) Gewerkschaften in Afghanistan: Gemeinsam gegen die Korruption
       
       Erstmals seit ihrem Verbot durch die Taliban versuchen die ehemals
       sozialistischen Gewerkschaften einen Neuanfang. Sie verbünden sich mit den
       Arbeitgebern gegen korrupte Behörden.
       
 (DIR) Afghanistan: Nato-Angriff und Sprengstoffanschläge
       
       Mehr als 40 Menschen sind in Afghanistan bei einem Nato-Angriff in Kabul
       und Sprengstoffanschlägen in Kandahar umgekommen. Die meisten davon sollen
       Zilvilisten sein.
       
 (DIR) Kommentar Drohnenkrieg: So viel Macht sollte niemand haben
       
       Barack Obama entscheidet am Schreibtisch über Leben und Tod anderer – und
       das ohne Gerichtsverhandlung. Kein Mensch sollte soviel Macht haben, auch
       ein US-Päsident nicht.
       
 (DIR) Tote bei US-Drohnenangriff: Jagd auf al-Qaidas Nummer zwei
       
       Das Ziel des US-Drohnenangriffs in Pakistan war der Libyer al-Libi. Er soll
       al-Qaidas Vizechef sein. 15 Menschen sollen getötet worden sein. Ob der
       Libyer dabei war, ist ist noch unklar.
       
 (DIR) Nato-Aktion in Afghanistan: Geiseln befreit, Entführer tot
       
       Nato-Soldaten befreiten in Afghanisten am Samstagmorgen vier entführte
       Entwicklungshelfer, die vor anderthalb Wochen entführt worden waren.
       Mehrere Geiselnehmer kamen dabei ums Leben.
       
 (DIR) Film über die Tötung Osama bin Ladens: US-Regierung kuschelt mit Hollywood
       
       CIA und Verteidigungsministerium sollen Hollywood eine enge Kooperation
       angeboten haben. Die Republikaner sind empört – sie sehen die nationale
       Sicherheit in Gefahr.
       
 (DIR) Kommission kritisiert Rekrutierungspraxis: Afghanische Lokalpolizei unterwandert
       
       Die afghanische Menschenrechtskommission AIHRC kritisiert die Nato für ihre
       Rekrutierungspraxis beim Aufbau von Polizeitruppen. Standards würden nicht
       eingehalten.
       
 (DIR) Nato-Gipfel in Chicago: Friede, Freude, Aufrüstung
       
       US-Präsident Obama ist sehr zufrieden mit dem Gipfel in seiner Heimatstadt.
       Der Abzugsplan für Afghanistan steht. Die Nato soll modernisiert und
       aufgerüstet werden.
       
 (DIR) Demonstrationen gegen Nato-Gipfel: US-Veteranen beziehen Prügel
       
       15.000 Menschen protestieren am Rande des Nato-Gipfels in Chicago für
       Frieden. Viele menschen werden verletzt und über 100 festgenommen.
       
 (DIR) Nato zu Afghanistan: Gipfel widersprüchlicher Signale
       
       Die Nato versucht einen Spagat – in den Ländern, die Truppen in Afghanistan
       haben, herrscht Kriegsmüdigkeit. Vor Ort wird Hilfe erwartet. Ein
       Kompromiss zeichnet sich ab.
       
 (DIR) Debatte USA und Nato: Gemeinsam abspecken wäre besser
       
       Das Verteidigungsbündnis Nato hat längst seine Mission verloren. Trotzdem
       drängen die USA ihre Verbündeten, die Militärausgaben weiter zu erhöhen.
       
 (DIR) G-8-Treffen in Camp David: Gipfel der Weltheiler
       
       Die Oberhäupter der wichtigsten Industriestaaten treffen sich mal wieder.
       Während Obama die Proteste geschickt ins Leere laufen lässt, sorgt Putin
       für einen Affront.
       
 (DIR) Unterstützung für Afghanistan: Geld statt Soldaten aus Deutschland
       
       Die deutschen Soldaten sollen bis 2014 aus Afghanistan zurückgezogen
       werden. Danach bekommt das Land aber weiter deutsche Gelder für die
       Ausbildung von Polizisten und Soldaten.