# taz.de -- Menschenrechte in der Ukraine: Die Polizei, dein Feind und Folterer
       
       > Sie sind chronisch unterbezahlt, korrupt und neigen zu Gewalt.
       > Ukrainische Polizisten terrorisieren die Bevölkerung – bisweilen bis zum
       > Tod.
       
 (IMG) Bild: 900.000 Menschen in der Ukraine wurden im Jahr 2011 Opfer von Folter und Gewalt durch die Polizei.
       
       KIEW taz | Hunderte Seiten Dokumente, fein säuberlich und chronologisch in
       Plastikhüllen in einem Ordner abgeheftet und zuoberst das Bild eines
       traurig dreinblickenden jungen Mannes mit kurz geschorenen Haaren:
       Zeugnisse eines zu kurzen Lebens und eines erbitterten Kampfs um späte
       Gerechtigkeit.
       
       „Das war mein Sergei“, sagt Soja Karpilenka. Hier, in einem karg möblierten
       Besprechungszimmer des staatlichen Forschungsinstituts Kwant in der Uliza
       Fjodorowa unweit des Zentrums der ukrainischen Hauptstadt Kiew, will die
       dreifache Mutter die Geschichte ihres ältesten Sohns erzählen. Sojas
       Arbeitsplatz befindet sich nur fünf Minuten Fußweg entfernt vom
       Olympiastadion. Am 11. Juni läuft dort das erste von mehreren EM-Spielen:
       Ukraine gegen Schweden. Zehntausende Touristen werden erwartet.
       
       Sergei ist am 7. November 2011 im Alter von 27 Jahren in einem Kiewer
       Krankenhaus gestorben. „Der Staat hat ihn umgebracht, sagt die 55-Jährige
       und ringt einen kurzen Augenblick um Fassung.
       
       2004 wird Sergei wegen des Diebstahls eines Mobiltelefons und einer
       Damenhandtasche festgenommen. Obwohl ihm die Vergehen nicht zweifelsfrei
       nachgewiesen werden können, wird er zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt.
       2008 kommt er auf freien Fuß, zieht erneut bei seiner Familie ein und nimmt
       wieder seine Arbeit als Schlosser auf.
       
       ## Er landet auf der Intesivstation
       
       Am 21. Dezember 2009 meldet eine Frau ihr Handy als gestohlen. Am 26.
       Dezember wird Sergei bei der Miliz vorgeladen und kehrt abends nicht nach
       Hause zurück. Soja braucht mehrere Tage, um herauszufinden, dass ihr Sohn
       in einem Untersuchungsgefängnis einsitzt. In den folgenden Monaten hat sie
       nur hin und wieder telefonischen Kontakt zu ihm.
       
       Am 21. April 2010 erhält Soja einen Anruf aus dem Krankenhaus. Sergei liege
       auf der Intensivstation, bei zwei Operationen seien unter anderem die Milz
       und Teile eines Lungenflügels sowie einer Niere entfernt worden. In der
       Klinik darf Soja Sergei zumindest sehen, wenngleich nur durch eine Scheibe.
       Er wird von mehreren Personen bewacht und ist mit Handschellen gefesselt.
       „Ohne in Tränen auszubrechen, konnte ich den Anblick nicht ertragen“, sagt
       sie.
       
       Ende April wird Sergei wieder ins Untersuchungsgefängnis überstellt. Fast
       täglich berichtet er seiner Mutter von unerträglichen Schmerzen und
       erkrankt an einer Lungenentzündung. Soja schreibt sich an die
       Gefängnisleitung die Finger wund, doch die sieht keinen Grund für eine
       besondere medizinische Behandlung.
       
       Im Februar 2011 wird Sergei erneut zu viereinhalb Jahre Haft verurteilt.
       Mit der Unterstützung eines Anwalts findet Soja Details darüber heraus,
       welche Qualen Sergei sowohl gleich nach seiner Festnahme als auch in der
       Haft durchlitten hat. „Er wurde immer wieder brutal misshandelt, damit er
       endlich ein Geständnis ablegt“, sagt Soja.
       
       Das Schicksal Sergeis ist kein Einzelfall. Unter Staatspräsident Wiktor
       Janukowitsch, der wegen der unmenschlichen Behandlung der früheren
       Regierungschefin Julia Timoschenko seit Monaten in der Kritik ist, hat sich
       das Land zu einem autokratischen Regime entwickelt. Schwerste
       Menschenrechtsverletzungen sind hier an der Tagesordnung. Dabei reichen die
       gängigen Methoden von Schlägen mit Gegenständen und Tritten, dem Anketten
       an Heizungsrohren und Überstülpen von Gasmasken bis hin zu Stromstößen.
       
       ## Jeder 50. wird Opfer der Miliz
       
       Allein im vergangenen Jahr wurden Erhebungen der Vereinigung ukrainischer
       Menschenrechtler zur Beobachtung von Rechtsverletzungen (UMDPL) zufolge
       rund 900.000 Menschen in der Ukraine Opfer von Folter und Gewalt durch
       Angehörige der Miliz, so die Bezeichnung für die Polizei im Land. Das wäre
       bei 45 Millionen Einwohnern jeder 50. Ukrainer. „Die tatsächliche Zahl
       könnte noch höher liegen“, sagt Oleg Martinenko, ein leitender
       UMDPL-Vertreter.
       
       In seinem ersten Leben arbeitete Martinenko 20 Jahre im Rang eines Oberst
       bei dieser Miliz – als Gefängnispsychologe und Dozent an der Milizakademie
       in Charkow. Von 2006 bis 2008 war er Berater des damaligen, derzeit
       inhaftierten, Innenministers Juri Lutzenko. Dann wechselte der heute
       46-Jährige zu einem beim Innenministerium angesiedelten Monitoring-Team für
       Menschenrechtsverletzungen. Als das zwei Jahre später aufgelöst wurde,
       gründete er die UMDPL.
       
       Für das brutale Verhalten vieler Milizionäre macht Martinenko mehrere
       Gründe verantwortlich. Die sogenannten Ordnungshüter stehen unter einem
       enormen Druck, eine möglichst hohe Aufklärungsrate nachweisen zu müssen.
       Denn nur so haben sie die Chance auf Beförderung. Doch mittlerweile ist es
       nicht mehr die Aussicht auf einen weiteren Stern auf den Schulterklappen,
       die viele Milizionäre zu Folterern in Uniform werden lässt. „2010 hatten 80
       Prozent aller Vorfälle mit Korruption zu tun. Die Milizionäre versuchen, an
       Geld zu kommen, egal wie“, sagt Martinenko.
       
       Das verwundert nicht, sind doch alle Milizbediensteten chronisch
       unterbezahlt. So verdient ein Unteroffizier umgerechnet nur 120 Euro, ein
       Leutnant 180 Euro und ein Major 350 Euro im Monat. Die Art und Weise, wie
       vermeintliche Delinqenten finanziell erleichtert werden, folgt immer
       demselben Muster. Eine Person wird festgenommen und unter Anwendung von
       Misshandlung und Folter zu einem Geständnis gezwungen. Dann heißt es, man
       könne die Sache gegen Entrichtung einer gewissen Summe auch auf sich
       beruhen lassen. Der Betroffene darf seine Verwandten anrufen, die ihn
       auslösen.
       
       Eine weitere Ursache für die Zustände auf Milizrevieren und in
       Haftanstalten liegt darin, dass die Verantwortlichen für ihr Tun meist
       nicht zur Verantwortung gezogen werden. Findet sich ein Milizionär wider
       Erwarten doch vor Gericht wieder, wird er nicht wegen Folter, sondern wegen
       Verletzung seiner Dienstpflicht bestraft. 2011 wurden lediglich 78
       Milizionäre wurden wegen Gewaltanwendung verurteilt.
       
       ## Ob die Miliz bei Fußballfans abkassieren wird, bleibt abzuwarten
       
       Unlängst wurde eine Kommission gegründet, die sich dem Kampf gegen
       Korruption bei der Miliz verschrieben hat. Sie begann damit, die
       Entgegennahme von Schmiergeldern zu ahnden. „Allein damit werden wir rein
       gar nichts erreichen“, sagt Martinenko. Ginge es nach ihm, würden alle
       Milizionäre entlassen und müssten ein neues Bewerbungsverfahren
       durchlaufen.
       
       Als positives Beispiel einer erfolgreichen Polizeireform führt er Polen an.
       Dort sei, nicht zuletzt auf Druck der Europäischen Union, innerhalb von
       zwei Jahren, die Korruption innerhalb des Polizeiapparats nahezu
       verschwunden. „Doch um auch hier eine Polizei nach europäischem Vorbild
       aufzubauen, bräuchten wir finanzielle Unterstützung aus dem Ausland und den
       politischen Willen unserer Regierung, etwas zu verändern. Doch diesen
       Willen hat unser Präsident nicht“, sagt er.
       
       Wie sich die Miliz gegenüber den zigtausenden Fans während der Fußball-EM
       verhalten wird, wagt Marina Tsapok, eine Kollegin von Martinenko bei der
       UMDPL, nicht vorherzusagen. Trotz der Gefahr eines Imageschadens für die
       Ukraine könnten einige Polizisten versucht sein, bei den Besuchern so
       richtig abzukassieren.
       
       Viel Geld hat Soja Karpilenka, die Mutter von Sergei, nicht. Im Frühjahr
       2011 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand rapide. Aus der
       verschleppten Lungenentzündung ist eine Tuberkulose geworden, zudem leidet
       der 27-Jährige unter verschiedenen Infektionskrankheiten. Im Mai wendet
       sich Soja an die Kiewer Staatsanwaltschaft. „Helfen Sie mir, meinen Sohn
       aus dem Gefängnis herauszuholen, sie haben ihn dort zum Invaliden gemacht“,
       heißt es in dem Schreiben, mit dem die Verfasserin noch einmal um eine
       angemessene medizinische Versorgung ihres Sohns bittet. Und: „Ein Opfer von
       Folter kann jeder werden. Nur warum will niemand dafür die Verantwortung
       übernehmen? Und niemand etwas damit zu tun haben?“
       
       Im Oktober wird Sergei erneut ins Krankenhaus eingeliefert. Mit Hilfe von
       Verwandten und Freunden kratzt Soja 2.000 Griwna (umgerechnet 200 Euro) für
       Medikamente zusammen. Kurz darauf stirbt Sergei – an Ersticken. Bei einer
       Autopsie werden schwere Verformungen des Gehirns festgestellt – offenbar
       die Folge von massiven Schlägen auf den Kopf.
       
       Am 12. Januar 2012 erklärt ein Berufungsgericht in Kiew Sergei posthum für
       nicht schuldig. Warum sie denn weiter für ihren Sohn kämpfe, der sei doch
       ohnehin tot. Solche wie er seien nur Müll, habe ihr der zuständige
       Staatsanwalt gesagt, erzählt Soja. Sie will sich jetzt für Sergeis
       vollständige Rehabilitierung und die Bestrafung seiner Peiniger einsetzen.
       „Bekannte haben mich gewarnt und mir gesagt: Mach endlich Schluss damit,
       sonst machen die dich auch noch fertig. Aber ich werde nicht damit
       aufhören“, sagt Soja.
       
       4 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
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