# taz.de -- Ukrainische Autorin über Feminismus: „Wir werden noch russisch dominiert“
       
       > Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko im Gespräch über die
       > postkoloniale Ukraine, die Nacktproteste der Femen-Aktivistinnen und die
       > Fußball-EM.
       
 (IMG) Bild: „Ihr Protest beschränkt sich darauf, ihre Brüste zu zeigen.“ – Sabuschko über Femen.
       
       sonntaz: Frau Sabuschko, Sie sprechen in Ihrem Essayband viel vom
       postkolonialen Status der Ukraine. Passt das Konzept des Postkolonialismus
       wirklich auf die Situation der Gesellschaften in Osteuropa? 
       
       Oksana Sabuschko: Absolut! In vielerlei Hinsicht, ökonomisch und kulturell,
       werden wir immer noch russisch dominiert. Wenn Sie in Kiew in einen
       beliebigen Buchladen gehen, werden Sie feststellen, dass bis zu 80 Prozent
       der verkauften Bücher auf Russisch sind und von russischen Verlagen
       stammen.
       
       Aber ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung hat ja immerhin Russisch
       als Muttersprache? 
       
       Oh nein! Viele Leute mögen Russisch sprechen, aber sie sprechen ja kein
       „richtiges“ Russisch, sondern ein ukrainisiertes! Die Russen in Russland
       lachen nur über dieses Russisch. Das ist eine ganz andere Sprache!
       
       Wie war Ihre eigene sprachliche Sozialisation? Ist das Ukrainische Ihre
       erste Sprache gewesen? 
       
       Das Russische habe ich sogar erst als Drittsprache in der Schule gelernt.
       Meine zweite Sprache war Polnisch. Eine meiner Großmütter stammt aus Polen,
       und meine Eltern fanden es richtig, mich auch in der polnischen Kultur zu
       erziehen. Die Bindungen zwischen der polnischen und der ukrainischen Kultur
       sind sehr eng. Kiew war früher eine überwiegend polnische Stadt.
       
       Das Konzept des Kolonialismus prägt auch Ihren ersten Roman, „Feldstudien
       über ukrainischen Sex“, der 1996 großes Aufsehen erregte. Kann man verkürzt
       sagen, dass dieses Buch auf der These aufbaute, der ukrainische Mann
       unterdrücke die ukrainische Frau, weil er selbst vom Russen unterdrückt
       werde? Und hätte eine solche These heute noch Gültigkeit? 
       
       Was das Buch unter anderem zu so einem Skandal machte, war ja, dass es so
       explizit davon handelt, welche überwältigende Rolle das Ringen um die Macht
       in einer Beziehung annehmen kann. Dass es feministisch gelesen worden ist,
       war gar nicht unbedingt meine Absicht.
       
       Sie würden sich aber schon als feministische Autorin betrachten? 
       
       Ich weiß nicht, auch wenn ich als Person Feministin bin. Als
       Schriftstellerin interessiert mich sicherlich die weibliche Seite
       besonders, da es für die Literatur hier einen ganzen Kontinent zu entdecken
       gibt. Über Jahrhunderte ist die Literatur vom männlichen Blick geprägt
       worden. Auch wir Frauen haben uns mit den Männern in der Literatur
       identifiziert. Wenn ich „Hamlet“ auf der Bühne sehe, identifiziere ich mich
       mit Hamlet, nicht mit Ophelia.
       
       Aber ich habe einen Band mit Erzählungen herausgebracht, „Schwester,
       Schwester“ hieße er übersetzt – auf Deutsch gibt es das Buch nicht. Alle
       Geschichten darin handeln von Beziehungen zwischen Frauen,
       Frauenfreundschaften. Und ich bekomme dazu auch Post von jungen Männern,
       die mir schreiben, diese oder jene Erzählung handle von ihnen selbst, und
       die sich mit den weiblichen Charakteren identifizieren. Die neue Generation
       ukrainischer Männer ist anders. Es gibt heutzutage junge Väter, die ihr
       Baby in einem Tuch mit sich herumtragen. Mein Herz geht auf, wenn ich so
       etwas sehe!
       
       Ihr großer Roman „Museum der vergessenen Geheimnisse“ handelt auch vom
       geheimen Wissen der Frauen. Sie schildern ein Spiel, das nur von Mädchen
       tradiert wird und bei dem kleine Schätze, geschützt unter einem Spiegel
       oder einer Glasscheibe, in der Erde vergraben werden. 
       
       Oh, sogar dazu melden Männer sich zu Wort! Es gibt Internetforen, in denen
       genau diese Stellen im Roman diskutiert werden, und viele ihre eigenen
       Kindheitserfahrungen beisteuern. Dabei stellt sich heraus, dass auch manche
       Männer dieses Spiel gespielt haben.
       
       Ich hatte mich gefragt, ob dieses Spiel nur eine literarische Metapher ist? 
       
       Keineswegs! Und es wird nicht nur in der Ukraine gespielt. In Polen,
       Russland und den baltischen Staaten gibt es das auch. Oder gab es. Es
       verschwindet wohl allmählich.
       
       Ist es wirklich aus der Nachahmung der Erwachsenen entstanden? Aus der
       realen Notwendigkeit heraus, die Ikonen vor den Kommunisten zu verstecken? 
       
       Nein, das nicht. Das habe ich erfunden.
       
       Ein anderes recht erstaunliches Detail in „Museum der vergessenen
       Geheimnisse“ ist eine Fernseh-Castingshow, die allein zu dem Zweck ins
       Leben gerufen wird, attraktive Frauen für den Sexhandel mit dem Westen zu
       akquirieren. Ist das auch erfunden oder hat es einen realen Hintergrund? 
       
       Im Nachwort zu diesem Roman steht, dass die auftretenden Personen fiktiv
       sind. Doch alles, was im Roman geschieht, ist auch in Wirklichkeit
       passiert. Ich habe einmal eine Gruppe westlicher Journalisten getroffen,
       die, mit „Museum der vergessenen Geheimnisse“ als Reiseführer, eine Tour
       durch die Ukraine gemacht haben. Unter anderem wurden sie vom
       Ministerpräsidenten empfangen. Eine junge Frau war dabei, die mir gesagt
       hatte, sie verstehe nicht, warum es in meinem Roman so viel um Sex gehen
       müsse.
       
       Dann kamen sie in das Büro des Ministerpräsidenten, und sie sah, wie die
       weiblichen Angestellten dort herumlaufen: stark geschminkt, auf Highheels
       und in eng anliegender Kleidung. Danach sagte sie zu mir: Nun weiß ich, was
       Sie meinen! Ich versuche dieses System auch in der Hauptperson des Romans
       zu beschreiben. Daryna ist eine erfolgreiche Fernsehjournalistin, aber sie
       hätte diese Karriere nicht machen können, hätte sie nicht sexuelle
       Beziehungen mit den richtigen Männern gehabt.
       
       Wann und wie wurden Sie selbst zur Feministin? 
       
       Das ist eine persönliche Entwicklung. Irgendwann liest man Virginia Woolf
       und beginnt das auf sich zu beziehen, dann liest man mehr und macht sich so
       seine eigenen Gedanken. Ich war da schon Ende zwanzig.
       
       Kennen Sie eigentlich die Aktivistinnen der Oben-ohne-Protestgruppe
       „Femen“? 
       
       Ich habe meine Schwierigkeiten mit ihnen. Im Prinzip ist das, was sie tun,
       eine der ältesten Formen feministischen Protests. Aber so, wie sie es tun,
       schlägt es möglicherweise ins Gegenteil dessen um, was sie wollen. Oder was
       manche von ihnen vielleicht wollen.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Es ist sehr eigenartig, wie wenig sie zu sagen haben. Ihr Protest
       beschränkt sich darauf, ihre Brüste zu zeigen. Aber nur eine von ihnen,
       Alexandra Schewtschenko, ist in der Lage, sich öffentlich auch verbal zu
       äußern. Es ist jetzt nicht leicht, das zu formulieren. Und ich spekuliere
       ins Blaue hinein, wenn ich mich darüber wundere, wie einfach es für diese
       jungen, attraktiven Frauen zu sein scheint, Visa zu bekommen, um zum
       Beispiel, wie kürzlich, vor der Villa von Dominique Strauss-Kahn zu
       demonstrieren. Oder vor dem Papst. Was soll das? Was ist die politische
       Botschaft dabei? Was die Welt sieht, sind hübsche junge Ukrainerinnen, die
       ihre nackten Brüste in die internationalen Fernsehkameras halten.
       
       Sie meinen, diese Auftritte sind so etwas wie kostenlose Werbespots für das
       ukrainische Sexbusiness? 
       
       Es ist natürlich unmöglich zu beweisen, dass Methode dahinter steckt. Aber
       es macht misstrauisch. Im großen Ganzen sind die patriarchalen Strukturen
       in der Ukraine ungebrochen. Und dazu gehört es, es als normal zu
       betrachten, dass Frauen sexuell verfügbar sind. Ausländische Besucher, die
       in ein ukrainisches Hotel einchecken, bekommen mit der Anmeldung
       standardmäßig die Karte eines Sex-Escort-Service zugesteckt. Natürlich
       steht nur „Escort-Service“ auf der Karte.
       
       Bald wird in der Ukraine die Europameisterschaft ausgetragen. In einem
       Essay beschreiben Sie ein Länderspiel, bei dem die Ukraine in Unterzahl
       gegen ihren Gegner gewonnen hat, weil die Fans so inbrünstig die
       Nationalhymne sangen. Was für ein Nationalismus drückt sich hier über den
       Fußball aus? 
       
       Diese Szene im Stadion kursiert auf YouTube. Ich verstehe von Fußball
       wenig. Aber als Künstlerin interessiere ich mich für Emotionen. Und die
       Gefühle, die man im Stadion entwickelt, sind kollektive Emotionen, so wie
       ich sie auch 2004 während der orangenen Revolution gespürt habe, als wir
       alle auf dem Maidan demonstriert haben und skandierten: Jusch-tschen-ko,
       Jusch-tschen-ko! Ich habe schon damals nicht wirklich an ihn geglaubt. Und
       dieses Hoffen auf eine einzige Person ist natürlich sowieso Unsinn. Aber es
       kann eine großartige Erfahrung sein, sich als Teil einer Menge zu fühlen.
       Als Teil einer positiv geladenen Masse. Das ist es, was auch der Fußball
       einem geben kann.
       
       Spielen in der Ukraine auch Frauen Fußball? 
       
       Wahrscheinlich nicht viele. Es gibt weibliche Fans. Aber das sind in erster
       Linie die Freundinnen der männlichen Fans. Fußball ist ein Männerding.
       
       12 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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