# taz.de -- Das Schlagloch: Der Subsistenzleser
       
       > Die Zahl der Bücher und Texte nimmt zu, doch die Zahl der Leser sinkt.
       > Wie kann das sein? Man liest vor allem nur noch die eigenen Texte.
       
 (IMG) Bild: Seltener geworden: Menschen die Fremdtexte lesen.
       
       Letzte Nacht träumte ich einen seltsamen Traum: Ich ging wieder zur Schule,
       was in meinen Träumen, Gott sei Dank, nur selten geschieht. Ein Vorteil des
       Älterwerdens ist ja der stetig wachsende Abstand zu den Schuljahren. Als
       ich in den Traum trat, wurde gerade „Lesen und Schreiben“ unterrichtet,
       rein theoretisch, versteht sich. Der Lehrer referierte zunächst, dass die
       Zahl der Leser kontinuierlich zurückgehe.
       
       Wie könne das sein, unterbrach ich ihn, die Zahl der Bücher und Texte nehme
       doch zu, und im Wirtschaftsunterricht hätten wir gelernt, dass wachsende
       Produktion unabdingbar für steigenden Konsum sei, was wiederum stetiges
       Wachstum garantiere.
       
       Entscheidend sei, erwiderte der Lehrer, wie man den Leser definiere. Das
       Ausmaß des Schreibens nehme wahrlich zu, von Blog zu Blook zu Book, aber
       die Eigenschaften des prototypischen Lesers veränderten sich. Der einst
       weit verbreitete universelle Leser wandele sich in einen
       hochspezialisierten Selbstleser, also in jemanden, der vor allem die selbst
       produzierten Texte lese, diese dafür aber um so intensiver (was meinen Sie,
       wie oft ich diese Kolumne gelesen habe, bevor ich sie an die taz geschickt
       habe?).
       
       Dieser Typus, so der Lehrer, sei in Abwandlung des eingeführten Begriffes
       „Subsistenzbauer“ Subsistenzleser zu nennen, und er schrieb dieses Wort in
       Großbuchstaben auf die Tafel (ja, im Traum gibt es noch Tafeln und keine
       Tabloids). Selbstverständlich gehe dieser Prozess Hand in Hand mit einem
       zunehmend autarkeren Verlegen der eigenen Texte.
       
       ## Tauschsystem der Texte
       
       In der freien Marktwirtschaft, fuhr der Lehrer fort, sei jedoch ein
       diametral entgegengesetzter Lesertypus erwünscht, nämlich der sogenannte
       Konsumleser, der sich dadurch auszeichne, dass er viel mehr Bücher erwerbe,
       als er lesen könne. Da das Lesen keinen ökonomischen Wert an sich habe,
       würde in der besten aller marktwirtschaftlichen Welten der Konsumleser das
       Lesen zugunsten des Konsumierens möglichst einschränken, seine Freizeit
       also damit verbringen, Bücher und Texte zu kaufen und in seinem Regal zu
       lagern beziehungsweise auf seiner Festplatte abzuspeichern (read later,
       meldete sich jemand aus den hinteren Bänken zu Wort). Dies nenne man in der
       Fachsprache (Terminus technicus riefen wir alle im Chor): Wohlstand.
       
       Der Subsistenzbauer sei dem globalen Kapitalismus aus evidenten Gründen ein
       Dorn im Auge, weswegen er eifrig bekämpft werde. Während es aber durchaus
       gelinge, den Subsistenzbauer sukzessive auszurotten, erweise sich die
       Weltordnung mit all ihren Organen und Instrumenten machtlos gegen den
       einfachen Subsistenzleser, weswegen sich all jene, die mit Schreiben und
       Lesen ihren Lebensunterhalt verdienten, größte Sorgen machten. Bei diesem
       apodiktisch lautstark vorgetragenen Satz wurde mir endgültig klar, dass ich
       mich in einem Albtraum befand.
       
       Der Lehrer malte nun einen Kreis an die Tafel mit mehreren Pfeilen, die von
       einem Rechteck zum nächsten führten, vom Schreiber zum Selbstleser zum
       Selbstverleger zum Selbstschreiber – ein geschlossenes, höchst nachhaltiges
       System des Lesens und Schreibens. Dieser Kreis verzahnte sich mit den
       Kreisläufen anderer Selbstschreiberleserverleger, denn der Subsistenzleser
       tausche seine Texte gegen die Eigentexte anderer Subsistenzleser, so dass
       ein Tauschsystem entstehe, das sich den bisher existierenden Märkten
       entziehe. Allerdings sei dieses überlappende Zirkulationsmodell nur so
       lange aufrechtzuerhalten, bis der Selbstleser light zu der folgerichtigen
       und unausweichlichen Erkenntnis gelange, die Lektüre der Fremdtexte sei –
       Hand aufs Herz – nicht annähernd so befriedigend und beglückend wie die
       Lektüre der Eigentexte, worauf er sich in einen Hardcore-Selbstleser
       verwandeln werde, quasi in einen fundamentalistischen Subsistenzleser, der
       jegliche Abhängigkeit von Fremdtextimpulsen hinter sich gelassen habe.
       
       Wie es denn mit der Finanzierung des Ganzen sei, fragte eine Mitschülerin.
       Der Lehrer seufzte. Laut der herrschenden Meinung, beharrlich durch die
       Justiziare des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (es war ein höchst
       realistischer Traum) vertreten, sichere das Urheberrecht Schreibern den
       gerechten Lohn für ihre harte, kreative Arbeit, was angewandt auf unser
       Fallbeispiel bedeute, dass der gerechte Lohn für fundamentalistische
       Subsistenzschreiber eine glatte NULL sei.
       
       ## Plantagenschreiber enteignen!
       
       Aber das sei ja ein extremes, äußerst unwahrscheinliches Beispiel, wandte
       ein blasser Junge mit blauer Brille ein, worauf der Lehrer, der
       wahrscheinlich auch Mathematik unterrichtet, uns vorrechnete, dass bei den
       bisherigen Verhältnissen 99 Prozent der Schreiber minimale Honorare von
       einigen hundert bis einigen tausend Gulden (dies die Traumwährung) für eine
       mühsame, oft jahrelange Arbeit erhalten würden, woraus man schließen müsse
       – nehme man die postulierten Prinzipien ernst –, ihre harte, ehrliche,
       kreative Arbeit sei nicht viel wert.
       
       Ein Prozent hingegen erhielten satte Honorare, reiche Ernte sozusagen,
       weswegen diese in der Fachsprache (Terminus technicus riefen wir alle im
       Chor) „Plantagenschreiber“ genannt werden. Eine Mindermeinung habe bislang
       vergeblich den Begriff „monoécriture“ einzuführen versucht. Wenn also in
       dem kommenden System der Subsistenzkultur, ließ die Streberin der Klasse
       pedantisch verlauten, die Beteiligung der Selbstleser am Geldfluss gegen
       null gehe, handele es sich um eine Art prozessualer Enteignung des einen
       Prozents Plantagenschreiber.
       
       Goldrichtig, Zuckerpüppchen, zwitscherte der Lehrer, warf seine Mütze durch
       den Klassenraum und das Fenster in die sternenbeleuchtete Nacht, zog seinen
       Overall aus und begann in einem glitzernden Outfit durch die Reihen zu
       tanzen, während wir mit Heringen und Ösen, die sich wunderbarerweise auf
       einmal in unseren Händen befanden, einen frenetischen Rhythmus trommelten.
       Und wir sangen etwas, das ich zunächst nicht verstand, bis sich der Refrain
       herausschälte: Es lebe die Subsistenzfantasie, es lebe die
       Subsistenzfantasie.
       
       12 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
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