# taz.de -- Schlagloch Wohlstand: Alles hängt am „Wir“
       
       > Das Beste steht uns noch bevor, sagte Obama zum Antritt seiner zweiten
       > Präsidentschaft. Das heißt: Wir können das Gemeinwohl stärken, wenn wir
       > es wollen.
       
 (IMG) Bild: „The best is yet to come“, verkündet Obama.
       
       Die junge Frau neigt nicht zu Sentimentalität. Aber als sie am letzten
       Mittwoch Obamas Rede hörte nein, wir sind nicht so zynisch, wie die
       Kommentatoren glauben. Wir sind mehr als die Summe unserer individuellen
       Begierden – da habe sie feuchte Augen bekommen. Die Sehnsucht nach einem
       Wir, das über Familie und Gruppe hinausreicht in Vergangenheit und Zukunft,
       sie scheint unausrottbar.
       
       Und deshalb war die junge Frau nicht die einzige mit feuchten Augen, als
       Obama seinen Wahlsieg in die zweihundertjährige Geschichte einer
       kurvenreichen, widersprüchlichen Emanzipation einstellte, die immer
       gefährdet sei, aber noch lange noch nicht zu Ende: „The best is yet to
       come“. Wir können es schaffen: Schulden abtragen, die Klimakatastrophe
       vermeiden, Schulen bauen, in denen jedes Kind seine Potentiale entfaltet,
       Arbeitslosigkeit überwinden, Lebensrisiken solidarisch versichern,wenn wir
       ein „Wir“ zustande bringen.
       
       The best is yet to come – das ist ein Lied von Frank Sinatra. Und Obama ein
       Auslaufmodell, aus der Zeit, als Gesellschaften noch zuversichtlich waren,
       ihre Zukunft wählen und gestalten zu können, schreibt der
       deutsch-amerikanische Germanist Hans-Ulrich Gumbrecht in der Welt: „In
       dieser Wahlnacht wollten wir unerklärlich fast noch ein letztes Mal dieser
       Vision glauben, und wussten doch, dass er in den Worten und Sätzen einer
       Vergangenheit sprach, die nie mehr zurückkommen wird.“
       
       Obama sei der „erste Präsident eines postpolitischen Zeitalters“, in dem
       eine Vorstellung von Politik als einer kollektiven Veranstaltung, in der
       nicht Prozentpunkte im Verteilungsstreit, sondern Systemstrukturen zum
       Politikum werden, „unumkehrbar“ untergehe. Ökologische Gefahren, von denen
       niemand mehr glaube, sie seien abzuwenden; der „unvermeidliche“ Abbau von
       Sozialstaatlichkeit; die gar nicht unrealistische Drohung eines Weltkriegs
       um lebensnotwendige Rohstoffe, all das biete keine positiven
       Gestaltungsalternativen. Nein, das Beste hätten wir hinter uns, allenfalls
       sei das Schlimmste zu verhindern.
       
       ## Die Erben von zweihundert Jahren Arbeit
       
       Wenn wir uns probeweise dieser phantasielosen Apokalyptik überließen,
       diesem Marsch in eine postpolitische Notverordnungsordnung mit
       pseudodemokratischer Fassade vor unverrückbaren Eigentumsverhältnissen,
       dann lägen Merkel und Steinbrück allerdings gleichauf in Führung, vor
       Obama. Beide geben nicht einmal vor, etwas Neues zu wollen. Angela Merkels
       Vision von einer durch harte Opfer bewirkten Wiederkehr des alten Wachstums
       ist eine Illusion, wenn nicht gar nur Taktik. Und Peer Steinbrück ist
       überzeugt davon, dass die Sozialdemokraten durch den Erfolg des
       Sozialstaats ihre Idee eingebüßt haben.
       
       Leider, so sagte er kürzlich, hätten sie noch keine neue gefunden.
       Allerdings sieht es auch nicht so aus, als habe er die Absicht, eine zu
       entwickeln. Vielen von denen aber, ohne die nichts läuft im Land, vom
       Facharbeiter und Erzieherin bis hin zum Ingenieur und zur Geschäftsführerin
       reicht das nicht. Sie wissen zur Genüge, was die wirklich großen Probleme
       sind: Energie, Rente, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Finanzmäkte – und die
       internationalen Ungleichgewichte. Sie sehnen sich nach einer Zuspitzung von
       Alternativen auf allen diesen Gebieten.
       
       Die Errungenschaften der sozialen Demokratie unter Bedingungen
       schrumpfenden Wachstums halbwegs zu verteidigen, das wäre schon eine
       Leistung. Aber mehr als das? “Das Beste kommt noch“ – wie soll das heute
       gehen? Und mit welcher Rhetorik? Vielleicht so, oder so ähnlich: Wir sind
       reich geworden, weil wir Erben sind. Die Erben von zweihundert Jahren
       Arbeit. Die Erben einer Nation, die sich nach glänzenden Erfolgen und
       schlimmsten Verirrungen zum Primat des Gemeinwohls bekannt hat, gegen die
       schrankenlose Selbstverwirklichung der Kapitaleigner.
       
       Und darin sind wir Erben einer europäischen Geschichte. die vom Alten
       Testament über Aristoteles, Thomas von Aquin, Rousseau, Kant und Rathenau,
       bis hin zu Marx und Benedikt XVI. die Idee des Gemeinwohl stark gemacht
       hat. Und ohne diesen Primat des Gemeinwohls wird unser Lieblingskind, der
       Individualismus zerstörerisch.
       
       ## Wenn wir es wollen
       
       Ein Wahlkämpfer im Epochenbruch könnte aus dem Artikel 14,2 des
       Grundgesetzes – „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem
       Wohle der Allgemeinheit dienen“ – das rhetorische Leitmotiv seiner Kampagne
       machen, eine große Diskussion entfachen über die Frage: Welche Bereiche
       unseres Lebens müssen der Logik des Kapitals entzogen werden und der des
       Gemeineigentums folgen?
       
       Das Beste kommt noch, würde ein solcher Wahlkämpfer vielleicht auch sagen,
       auch wenn wir 200 Jahre Schieflage in der Eigentumsordnung nicht in vier
       Jahren beseitigen können. Aber auf mittlere Sicht werden wir einiges
       umschichten. Lassen Sie mich nur eines nennen: Bildung. Die Anzahl der
       Lehrer aller Schulen zu verdoppeln, so dass auf acht Schüler ein Lehrer
       käme, würde rund 100 Milliarden pro Jahr kosten, das entspricht einem
       Prozent aller Privatvermögen. Eine Steuerreform in diese Richtung wäre eine
       Investition in die Zukunft unserer Kinder und des Landes. The best is yet
       to come, wenn wir es wollen.
       
       Ein Kanzlerkandidat, der so redete, oder so ähnlich, hätte auch in unserem
       nüchternen Land, davon bin ich überzeugt, bessere demoskopische Werte als
       Peer Steinbrück zur Zeit. Aber ein solcher Kandidat könnte nur rot-rot-grün
       regieren, zusammen mit der einzigen Partei also, deren führende
       Repräsentanten sich gelegentlich talkshow-wirksam und ernst gemeint auf
       Perikles, Kant, Goethe, Adam Smith, John Stuart Mill, Walter Eucken oder
       Ludwig Erhard beziehen (auch wenn die Partei selbst diesem Erbe bis auf
       weiteres nicht gerecht wird).
       
       Und das heißt: Im nächsten Jahr gibt es keine realistische Möglichkeit,
       einen Politikwechsel zu wählen. Erhard Eppler setzt deshalb, bei aller
       Loyalität zum aktuellen Kandidaten, auf 2017. Dann ist er 90. Und Gumbrecht
       69. Und die junge Frau immer noch im besten Alter.
       
       17 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mathias Greffrath
       
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