# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Der Hals und die Kette
       
       > Schulden ohne Schuldenerlass zu denken, das ist ziemlich
       > geschichtsvergesssen. Es gibt Werte, die höher stehen als das
       > Eintreibrecht des Gläubigers.
       
       Wer Maupassants Kurzgeschichte "Das Halsband" gelesen hat, der wird sie nie
       wieder vergessen. Die lieblos mit einem kleinen Beamten verheiratete
       Mathilde möchte einmal im Leben auf einem Ball glänzen und leiht sich zu
       diesem Zweck von einer wohlhabenden Freundin "eine wundervolle
       Diamanten-Rivière aus". Nach einem rauschhaft durchtanzten Abend verliert
       sie auf dem Nachhauseweg die Kette. Aus der Verpflichtung heraus, den
       kostspieligen Schmuck zu ersetzen, verschulden sie und ihr durchweg
       hilfloser Mann sich schwer, um eine ähnliche Kette zu kaufen.
       
       Zehn Jahre rackert und schuftet sich Mathilde ab, "Pfennig um Pfennig
       verteidigte sie ihre jammervollen paar Groschen", bis von ihrer einstigen
       Schönheit nichts mehr übrig geblieben ist. Als sie eines Tages der Freundin
       auf der Straße wiederbegegnet, erfährt sie Niederschmetterndes: "O Gott, o
       Gott, meine arme Mathilde, meine Schnur war ja falsch! Sie war höchstens
       fünfhundert Franken wert."
       
       ## Schulden begleichen - immer?
       
       Kein Schelm, wer nun an all die Länder denkt, in denen die Bevölkerung sich
       abschuften muss, um die Zinsen und Zinseszinsen von Krediten abzuzahlen,
       die internationale Geldgeber an ihre korrupten und oligarchischen
       Regierungen erteilt haben, Gelder, die überwiegend einer Elite zugutekamen,
       die sich (nicht nur) aus der Verantwortung gestohlen hat - mithilfe des
       moralisch völlig diskreditierten globalen Schuldeneintreibers IWF, dessen
       Methoden sich unwesentlich von jenen unterscheiden, die wir aus Mafiafilmen
       kennen. Deswegen fordern so viele Aktivisten und Fachleute einen völligen
       Schuldenerlass, etwa für die meisten Länder Afrikas.
       
       Die Pointe von "Das Halsband" ist herzzerreißend, der entscheidende Satz
       fällt jedoch früher: "Diese furchtbaren Schuldscheine mussten eben bezahlt
       werden, und sie würden sie zahlen." Wer an die gegenwärtige "Schuldenkrise"
       denkt, wird sich vielleicht die einfache Frage stellen: wieso? Wieso müssen
       Schulden auf jeden Fall zurückgezahlt werden? Wieso sollen Gläubiger dieses
       eiserne Vorrecht haben? Ist nicht jede Transaktion mit einem gewissen
       Risiko behaftet, wird nicht diese Bereitschaft mit satten Zinsen reich
       belohnt? Wer unsinnig oder spekulativ Geld verleiht, der sollte damit
       rechnen müssen, dass er dieses verliert. So weit die logische Argumentation
       aus der Perspektive der Ideologen der freien Marktwirtschaft. Weitergehend
       müsste man fragen, ob es nicht Werte gibt, die höher stehen als das
       Eintreibrecht des Gläubigers, individuelle Rechte wie die Menschenwürde
       etwa, vor allem aber gemeinschaftliche Rechte. Darf eine Gesellschaft
       zugrunde gerichtet werden, nur damit beglichen wird, was geschuldet ist?
       
       ## Geld, was war das noch mal?
       
       Einige verblüffende Antworten auf solche Fragen kann man David Graebers
       sehr lesenswertem Buch "Debt - the first 5000 years" entnehmen, das bislang
       nur auf Englisch erschienen ist. "Schuld", schreibt Graeber, "war der Dreh-
       und Angelpunkt, um Geld im modernen Sinn zu erdenken und dadurch den Markt
       zu erschaffen: eine Arena, in der alles gekauft und verkauft werden kann,
       weil alle Objekte von ihrer früheren sozialen Beziehungen losgelöst sind
       und nur noch im Verhältnis zum Geld existieren." Das Prinzip von "Schuld"
       habe sich wohl aus der Sklaverei entwickelt - folgerichtig führen Schulden
       oft in die Sklaverei. Ausgiebig beschreibt Graeber die gewalttätige
       Schöpfungsgeschichte von Geld und Markt, die insofern fortwirkt, als dass
       diese Institutionen außerhalb des Machtmonopols des Staates mit seiner
       latenten Gewaltandrohung sehr bald infrage gestellt werden würden (ein
       anderes, ähnlich gelagertes Phänomen: Die horrende Überschuldung der USA
       ist so lange kein Problem, wie die U.S. Army weltweit eingreifen kann).
       
       Richtig spannend wird es, wenn Graeber beschreibt, dass in Mesopotamien, wo
       Zinsdarlehen und virtuelles Geld erfunden wurden (lange bevor handfestes
       Geld eingeführt wurde), Mechanismen existierten, um die Überschuldung der
       Bauern in Jahren schlechter Ernte aufzufangen. So wie die indischen Bauern
       heute, die zu Tausenden Gift schlucken als einzigen Ausweg aus ihrer
       wachsenden Verschuldung, kam es damals schon zu sozialen Krisen, die nicht
       in massenhaftem Selbstmord, sondern in Auswanderung endeten. Bauern und
       verelendete Städter verließen die zivilisierten Territorien und wurden zu
       seminomadischen "Banditen". Die Lösung war denkbar einfach: Regelmäßig
       wurden alle Schulden erlassen.
       
       ## Tapferer Kampf mit Kreditkarte
       
       Der Ökonom Michael Hudson ist der Ansicht, es gehöre zu den Tragödien der
       Menschheitsgeschichte, dass sich die Institution des Zinsdarlehens von
       Mesopotamien aus weltweit ausgebreitet hat ohne die dazugehörigen
       ursprünglichen Mechanismen des sozialen Ausgleichs. Auch das Alte
       Testament, die Scharia und das kanonische Recht führten Instrumente ein, um
       die Konsequenzen von Schulden zu verhindern (in den letzten fünf Jahren
       haben 4 Millionen US-amerikanische Familien ihr Heim verloren).
       
       Eigentlich wären solche Mechanismen heute noch angebrachter, denn der
       Wachstumswahn des Kapitalismus wird genährt von der Verschuldung des
       einzelnen Konsumenten. Der Bürger hat tapfer an der Front gekämpft, mit
       seiner Kreditkarte, und wird dafür ab einem bestimmten Punkt nicht belohnt,
       sondern in die soziale Misere gestürzt.
       
       Wenn wir also von Schuldenkrise reden, implizieren wir eine Krise des
       Geldsystems, wie es seit Jahrhunderten existiert. Zweifelsohne hat eine
       neue Ära des virtuellen Geldes begonnen, und deren Verlauf kann noch nicht
       abgeschätzt werden. Die historische Betrachtung zeigt auf, dass Virtualität
       nicht unbedingt als perfide Strategie eines angeschlagenen kapitalistischen
       Systems verstanden werden muss. Jahrtausende lang, lange vor Anbruch des
       Kapitalismus, existierten unterschiedlichste Systeme des virtuellen Geldes.
       Wenn wir, um Graeber bereitwillig zu folgen, "über die Schuldenfrage
       außerhalb der beiden intellektuellen Zwangsjacken von Staat und Markt
       denken, eröffnen sich aufregende Aussichten".
       
       16 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Buch
       
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