# taz.de -- Claude Lanzmann über „Shoah“: „Ich hatte ja keine andere Wahl“
       
       > Claude Lanzmanns „Shoah“ war ein Meilenstein im Gedenken an den
       > Holocaust. Die Berlinale ehrt ihn nun mit einem Goldenen Bären.
       
 (IMG) Bild: „Niemand möchte in Auschwitz sein. Aber alle wollen dabei gesehen werden, wie sie in Auschwitz sind“: Lanzmann über Gedenkkultur.
       
       Auf dem Couchtisch in Claude Lanzmanns Arbeitszimmer stapeln sich Bücher zu
       einem akkuraten Quader. Regale nehmen den größten Teil der Wände in
       Beschlag, auf einer Vitrine stehen Orden, unter dem Fenster Ordner mit
       Zeitungsausrissen, vor den Büchern Fotografien. Claude Lanzmann hält ein
       Kind im Arm, sitzt mit Simone de Beauvoir an einem Bistrotisch, Claude
       Lanzmann steht neben seinem Vater, in Uniform, zu Zeiten der Résistance.
       Darunter, halb verdeckt, das Bild von Abraham Bomba, dem Mann, der sich in
       einer der schmerzlichsten Szenen von „Shoah“ daran erinnert, wie es war,
       als Mitglied des Häftlingssonderkommandos in Treblinka den Frauen die Haare
       schneiden zu müssen, bevor sie in der Gaskammer umgebracht wurden. 
       
       sonntaz: Herr Lanzmann, als Sie „Shoah“ drehten, legten Sie sich das
       Pseudonym Claude-Marie Sorel zu. Warum? 
       
       Claude Lanzmann: Wegen der Feigheit der Nazis. Am Anfang war ich noch so
       naiv, mich ihnen mit meinem wirklichen Namen vorzustellen und zu erklären,
       was ich vorhatte. Aber sie wollten nicht reden. Also musste ich sie
       austricksen. Aber ich bin überrascht, dass Sie mir diese Frage stellen. Ich
       dachte, Sie würden mich nach dem Goldenen Bären fragen. Über „Shoah“ zu
       sprechen bin ich ein wenig leid.
       
       Aber der lange Prozess, in dem Sie „Shoah“ recherchiert und gedreht haben,
       ist doch sehr bemerkenswert. Allein die Paluche, diese kleine Kamera, mit
       der Sie heimlich filmten … 
       
       Okay. In Ludwigsburg besuchte ich die Zentrale Stelle zur Aufklärung
       nationalsozialistischer Verbrechen. Dort arbeiteten sehr umgängliche Leute.
       Ich gab ihnen eine lange Liste, und sie sagten mir: „Sie werden keinen
       Erfolg haben, wir haben die aktuellen Adressen nicht, nur die aus der Zeit
       der Gerichtsverfahren, aus der Zeit der Nürnberger Prozesse.“ Ich fragte
       nach einem Herrn X, der hatte eine Adresse in Augsburg. Also fuhr ich nach
       Augsburg, aber die Nachbarn sagten nur: Der ist schon lange fort. Wohin?
       Das wussten sie nicht. Beim Einwohnermeldeamt sagte man mir, er sei 1949
       nach Lübeck gezogen. Sollte ich auf gut Glück nach Lübeck fahren? Dem
       Lübecker Einwohnermeldeamt schreiben? Die antworteten nicht, oder es
       dauerte sehr lange. Also schickte ich einen Assistenten. Herr X war zwei
       Jahre nach seiner Ankunft weitergezogen, nach Mainz. Ich reiste also viel.
       Manchmal hatte ich Glück und machte einen ausfindig. Wenn ich dann anrief
       und mich vorstellte, wurde das Gespräch unterbrochen. Oder eine Frau im
       Hintergrund schrie: „Wir rufen die Polizei!“ Dabei hätten manche geredet,
       weil es für sie die Erinnerung an eine spannende Zeit war.
       
       Manche Nazis wollten reden? 
       
       Ich habe nicht gesagt, dass sie reden wollten, sondern dass sie geredet
       hätten. Aber sie waren klug. Und deshalb musste ich dieses
       Forschungsinstitut für Zeitgeschichte erfinden, dessen Direktor, also ich,
       einen Brief ausstellte, laut dem Dr. Sorel in Deutschland war, um die
       Errungenschaften der Reichsbahn zu erforschen. Das Wort „Juden“ verwendete
       ich nie. Ich bot auch Geld an, sagen wir: Schmerzensgeld. Aber es war und
       blieb schwierig.
       
       Und die Paluche? 
       
       Die musste ich in einer Tasche verstecken, die mit Aluminiumfolie verziert
       war. Das war wichtig wegen der Linse. Einmal besuchte ich diesen Nazi. Mit
       meiner Assistentin, einer klugen, mutigen jungen Deutschen, und mit der
       Tasche, darin die Paluche, auf Schaumstoff drapiert. Ich sagte zu ihm:
       „Wenn Sie sich bereit erklärt hätten, sich filmen zu lassen, hätte ich
       Ihnen folgende Fragen gestellt.“ Er begann zu antworten, und wir filmten.
       Aber wir hatten noch nicht viel Erfahrung, es war zu viel Kram in der
       Tasche, und plötzlich stieg Rauch daraus auf. Ich nahm die Tasche, wir
       rannten zum Ausgang, wir waren schneller als er.
       
       Wie haben Sie es geschafft, während der Interviews mit den Nazis einen
       kühlen Kopf zu bewahren? 
       
       Ich hatte ja keine Wahl! Wäre ich nervös gewesen, hätte das den Film
       getötet. Ich war bereit, mit der Kamera einen Nazi zu töten. Aber ich
       erinnere mich, dass der Kameramann Schwierigkeiten hatte.
       
       William Lubtchansky … 
       
       Ein sehr guter Kameramann, er starb vor einiger Zeit. Sein Vater wurde in
       Auschwitz vergast. Als es mir endlich gelang, Suchomel (SS-Unterscharführer
       in Trebklinka, Anm. d. Red.) vor die Kamera zu bekommen – ich hatte ihm
       Geld gegeben, ihn und seine Frau zum Mittagessen eingeladen, sie hatten
       einen ausgezeichneten Appetit –, als alles vorbei war, da gingen
       Lubtchansky und ich essen. Er war außer sich. Er verstand nicht, warum ich
       die Mörder nett behandelte. Ich sagte ihm: Wenn ich den Film mache, muss
       ich nett zu ihnen sein. Wäre ich es nicht, dann wäre ich wie ein Chirurg,
       der den Anblick von Blut nicht verkraftet.
       
       In vielen Szenen von „Shoah“ tun die Menschen etwas, was sie 30, 40 Jahre
       zuvor taten. Etwa am Anfang, wenn Simon Srebnik auf einem Nachen steht und
       ein Lied singt, wie er es als 13 Jahre alter Häftling von Chelmno tat.
       Warum war das Reenactment ein so wesentliches Mittel? 
       
       Das sind die Wege der Kreation. Als ich Srebnik zum ersten Mal begegnete,
       verstand ich kein Wort von dem, was er erzählte. Keines. Er war noch immer
       das terrorisierte Kind, das er zur Zeit von Chelmno gewesen war. Um zu
       begreifen, was er sagte, beschloss ich, nach Polen zu reisen.
       
       Das war 1978, nicht wahr? 
       
       Ja. Bevor ich zum ersten Mal nach Polen fuhr, hatte ich fünf Jahre am Film
       gearbeitet. Ich verbrachte einige Zeit in Chelmno, prägte mir die
       Topografie ein, die Kirche, das Schloss. Als ich nach Israel zurückkehrte,
       nahm ich Papier und Stift und zeichnete, was ich gesehen hatte. Srebnik
       korrigierte mich hier und da, also begannen wir zu reden, er fasste
       Vertrauen zu mir, es war ein bewegender Moment. Er sprach davon, das er auf
       dem Nachen den Fluss hinabfuhr und sang, dieses berühmte polnische Lied.
       Und da wusste ich: Das ist der Beginn des Films. Aber wie war Ihre Frage
       noch mal?
       
       Wie Sie darauf gekommen sind? 
       
       Ah, das Reenactment. Davon gab es ja noch viel mehr. Zum Beispiel der
       Lokomotivführer von Treblinka. Ich mietete eine Lokomotive. Ich mochte
       diesen Mann sehr. Er war ein zarter, aufrichtiger Mensch.
       
       Hatten Sie Ende der 70er Jahre in Polen den Eindruck, dass es aussah wie in
       den 40er Jahren? 
       
       Nein. Die Orte waren entstellt. Es war widersprüchlich, denn es war beides
       da: die Fortdauer und die Entstellung. Dieselben Gleise. Anderes war
       verschwunden, aber es war nicht schwer, es sich vorzustellen.
       
       Waren Sie in letzter Zeit dort? 
       
       Nicht in Treblinka, aber in Auschwitz. Bei einer Gedenkveranstaltung, es
       war langweilig. Alle wollen vor die Kamera, wollen gefilmt werden. Niemand
       möchte in Auschwitz sein. Aber alle wollen dabei gesehen werden, wie sie in
       Auschwitz sind.
       
       Als Sie „Shoah“ drehten, gab es diese Gedenkkultur noch nicht. Damals wurde
       kaum über den Holocaust geredet. 
       
       An den Anfang von „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ habe ich einen Text
       gestellt, darin heißt es: Museen gestatten, sich zu erinnern, aber sie
       gestatten auch, vieles zu vergessen. Deswegen freue ich mich über den
       Goldenen Bären und darüber, dass meine Filme gezeigt werden. Am Abend der
       Preisverleihung wird „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ laufen. Ein Film,
       in dem Juden Deutsche töten.
       
       In „Shoah“ scheinen viele derjenigen, die die Lager überlebt haben, in
       einer traumatischen Schleife festzustecken. Es bedarf eines Anlasses, und
       sie sind wieder mittendrin in der Situation, in der sie ohnmächtig waren.
       Glauben Sie, dass sie daraus jemals haben heraustreten können? Ich denke
       zum Beispiel an Abraham Bomba, den Sie in einem Friseursalon in Tel Aviv
       filmen. 
       
       Das ist kompliziert. Ich mag das Wort „Überlebender“ nicht, sie sind keine
       Überlebenden, sie sind etwas anderes, Geister. Um ihnen helfen zu können,
       musste ich vor dem Dreh sehr viel über sie in Erfahrung bringen. Stellen
       Sie sich vor, Sie haben das zu sagen, was Bomba sagt, und zwar vor einer
       laufenden Kamera und einem Filmteam. Das ist fürchterlich schwierig. Bomba
       wurde von Tag zu Tag nervöser, ich auch. Ich wusste nicht, wie ich vorgehen
       sollte. Dann hatte ich die Idee, einen Friseursalon zu nutzen. Er war
       einverstanden. Natürlich keinen Damensalon, das wäre obszön gewesen. Er
       beginnt mit einer neutralen Stimme, als sei ihm nichts zugestoßen. Er will
       reden, aber er will nichts verkörpern, nicht verwickelt werden. Ich
       insistiere: „Bitte, Abraham, Sie haben nicht geantwortet, als ich fragte,
       was Sie fühlten, als Sie zum ersten Mal die nackten Frauen in der Gaskammer
       ankommen sahen.“ Er sagt: „Wissen Sie, Sie fühlen dort nichts, Sie sind
       tot, stumpf gegenüber Gefühlen.“ Und dann: „Ich werde Ihnen etwas
       erzählen.“ Aber dann … Dann kann er nicht weitersprechen. Die Gefühle und
       Erinnerungen kommen mit voller Wucht zurück.
       
       7 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
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