# taz.de -- Dokumentarfilm von Claude Lanzmann: Porträt eines Tigers
       
       > In seinem neuen Film „Le dernier des injustes“ spricht Claude Lanzmann
       > mit Benjamin Murmelstein, einst Vorstand des Judenrats von
       > Theresienstadt.
       
 (IMG) Bild: „Sie sind ein Tiger“, sagt Claude Lanzmann (links) zu Benjamin Murmelstein, als sie am Titusbogen in Rom spazieren gehen.
       
       In Minute zehn füllt ein Schwarzweißfoto die Leinwand. Es zeigt einen
       schlammigen Weg, darauf ein Pulk von etwa 200 Menschen, aufgenommen in der
       Nähe der tschechischen Ortschaft Terezín. Auf der Fotografie steht ein
       Einzelner neben der Menschengruppe, er schaut in Richtung Kamera und trägt
       eine Armbinde, das Abzeichen ist nicht zu entziffern.
       
       Ein Archivbild wie dieses wäre nichts Ungewöhnliches für jeden anderen
       Dokumentarfilm mit historischem Sujet. Für Claude Lanzmanns jüngsten Film
       „Le dernier des injustes“, der Benjamin Murmelstein, den Vorstand des
       Judenrats von Theresienstadt, porträtiert und am Sonntag in Berlin seine
       deutsche Erstaufführung erlebt, ist es eine Sensation. Denn bis dato hat
       sich der Pariser Filmemacher, dessen „Shoah“ (1985) einen Meilenstein in
       der Auseinandersetzung mit dem Holocaust bildet, dem Archivbild verweigert.
       
       Unter anderem deshalb, weil Archivmaterial oft die Perspektive der Täter
       wiedergibt und weil es den Eindruck erweckt, man müsse etwas beweisen. Wer
       aber nun meine, Beweise für den Holocaust anführen zu müssen, so die
       Argumentation, tappe schon in eine Falle, denn die Vernichtung der
       europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist eine Tatsache von so
       fundamentaler Unumstößlichkeit, dass Beweisen etwas Unziemliches eignet.
       
       Vor gar nicht so langer Zeit wurde diese Debatte noch erbittert geführt.
       Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman veröffentlichte 2004 sein Buch
       „Images malgré tout“ („Bilder trotz allem“), darin setzte er sich mit
       Fotografien auseinander, die Angehörige eines Häftlings-Sonderkommandos in
       Auschwitz-Birkenau aufgenommen hatten. Unter Einsatz ihres Lebens und aus
       großer Distanz fotografierten sie, wie andere Häftlinge Leichen in
       Massengräbern verscharrten. Dafür wurde Didi-Huberman in der von Lanzmann
       herausgegeben Zeitschrift Les temps modernes scharf angegriffen.
       
       ## Szenen aus NS-Propaganda
       
       Heute scheint sich Lanzmann vom einstigen Dogma so weit gelöst zu haben,
       dass er in „Le dernier des injustes“ („Der letzte der Ungerechten“) einiges
       an Archivmaterial verwendet, vor allem Zeichnungen der Häftlinge von
       Theresienstadt, aber auch Szenen aus einem nationalsozialistischen
       Propagandafilm. Alte Herren spielen Schach, und in einer Werkstatt
       schneiden gut gelaunte Arbeiter und Arbeiterinnen Leder für Schuhe zu. Es
       sind Inszenierungen der Nazis. Ihr Zweck war es, die internationale
       Gemeinschaft zu täuschen.
       
       Auf einer der historischen Aufnahmen sieht man die Hauptfigur des Films.
       Benjamin Murmelstein war Rabbiner in Wien, nach dem Anschluss Österreichs
       war er für die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ tätig, der Adolf
       Eichmann vorstand. Später gehörte er zum Judenrat von Theresienstadt, im
       Herbst 1944 schließlich übernahm er dessen Leitung.
       
       Das Thema der Judenräte war lange Zeit noch viel heikler als das der
       Archivbilder – man denke nur an die erbitterten Diskussionen, die Hannah
       Arendt mit ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963) und der darin
       enthaltenen Kritik am Vorgehen der Judenräte auslöste.
       
       ## Zwischen Widerstand und Willfährigkeit
       
       Für die einen stand fest, dass die Judenräte durch ihre
       Verwaltungstätigkeiten der Vernichtungspolitik der Nazis zuarbeiteten, für
       die anderen waren sie diejenigen, die das Schlimmste zu verhindern suchten.
       Jüngere Studien wie etwa die des Historikers Yehuda Bauer kommen zu dem
       Schluss, dass sich Judenräte von Ort zu Ort unterschiedlich verhielten –
       zwischen Widerstand und Willfährigkeit war das Feld weit.
       
       Benjamin Murmelstein saß nach dem Krieg 18 Monate in Prag im Gefängnis, da
       ihm Kollaboration zur Last gelegt wurde. Als der Prozess gegen ihn endlich
       stattfand, wurde er von allen Anklagepunkten freigesprochen. Lanzmann
       interviewte ihn 1975 in Rom. Ursprünglich waren die Aufnahmen für „Shoah“
       geplant, doch da „Shoah“ um die Toten kreist, wäre Murmelstein, pragmatisch
       und munter, wie er ist, aus dem Rahmen gefallen. Das Material lag brach.
       
       In den Interviewsequenzen ist meist Murmelstein in Nahaufnahme zu sehen,
       Lanzmann ist über seine Stimme und den Rauch seiner Zigarette präsent.
       Murmelstein ist eloquent, um Metaphern und Analogien nie verlegen, gern
       rekurriert er auf Literatur und Mythologie. Seine Ausführungen bergen viele
       Details, die Aufschluss darüber geben, wie die Nazis den Holocaust
       organisierten.
       
       ## Studium der Auswanderung
       
       Ihnen eignet aber auch eine Ambivalenz – etwa wenn Murmelstein über die
       Jahre 1938 und 1939 sagt: „Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert.“
       Lanzmann bemerkt einmal konsterniert: „Wenn man Sie sprechen hört, hat man
       nicht den Eindruck, das Theresienstadt ein Ort des Unglücks war.“
       
       In einigen Sequenzen geht Lanzmann selbst durch Theresienstadt. Durch leer
       stehende Häuser streift er, man sieht ihm die Anstrengung an, wenn er die
       Treppen bis zum Speicher hinaufsteigt. Einst lagen hier die Alten, erklärt
       er, unfähig, sich aufzurichten, von Läusen und der Sommerhitze geplagt,
       ohne Waschbecken, ohne Toilette. Seine Sätze fallen einem wieder ein, wenn
       Murmelstein zwei Stunden später sagt: „Wir haben mustergültige Altenheime
       aufgebaut“ und von den sauberen Laken und den Pflegern schwärmt.
       
       Obwohl er solche Ambivalenzen zum Vorschein bringt, verneigt sich „Le
       dernier des injustes“ tief vor seiner Hauptfigur. „Sie sind ein Tiger“,
       sagt Lanzmann in der letzten Szene zu Murmelstein.
       
       23 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
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