# taz.de -- Rückblick auf Berlinale 2013: Kleines Wunder
       
       > Groß war die Vorabkritik an der nun zu Ende gegangenen 63. Berlinale. Zu
       > Unrecht. Vor allem in den Nebenreihen gab es Großartiges zu entdecken.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „Pardé“ („Closed Curtain“). Schade, dass Jafar Panahi und Kamboziya Partovi dafür nur einen Bären fürs beste Drehbuch erhielten.
       
       Einer der schönsten Momente der diesjährigen Berlinale liegt gut eine Woche
       zurück. „Roland Klick – The Heart is a Hungry Hunter“ von der Berliner
       Regisseurin Sandra Prechtel feierte Premiere im ausverkauften
       Cinestar-Saal. Der Film porträtiert den 1939 geborenen Regisseur Roland
       Klick, der mit „Supermarkt“, „Deadlock“ und „Bübchen“ die brachialeren
       Reize des Genrekinos mit einer an Antonioni geschulten Sensibilität
       versöhnte. Dafür nahm er in Kauf, ein Außenseiter im deutschen Filmbetrieb
       zu sein.
       
       Zwar gewann er mehrere Bundesfilmpreise, von der Filmkritik aber wurde
       Klick links liegen gelassen, und nachdem er 1980 als designierter Regisseur
       von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Straßenkinder ins Studio
       geholt hatte, tauschte ihn der Produzent Bernd Eichinger kurzerhand gegen
       Uli Edel aus.
       
       Prechtels Porträt mag konventionell geraten sein – die produktive Reibung
       am Protagonisten fehlt –, das ändert aber nichts daran, dass die auf die
       Vorführung folgende Diskussion toll war. Der mittlerweile verstorbene
       Schauspieler David Hess sagt in Prechtels Film, Klicks Energie habe keine
       Grenzen gekannt und anderen bisweilen Angst eingejagt; Klicks Auftritt im
       Kino lieferte dafür den Beleg. Das Publikum fragte neugierig, Eva Mattes,
       Darstellerin in „Supermarkt“, war auch da.
       
       Begeisterung, Ausgelassenheit, filmgeschichtliche Exkurse, Anekdoten,
       Quatsch und charmante Eitelkeit – all dies kam hier zusammen. Und zugleich
       ging nichts davon auf Kosten anderer Spielarten des Kinos. Klicks Élan
       vital ist nicht der Weisheit letzter Schluss, dafür steht schon die Person
       Frieder Schlaichs ein, der Produzent des Films, der sich für Klick genauso
       verwendet wie für Werner Schroeter oder Heinz Emigholz.
       
       ## Zarte Knospen niedertrampeln
       
       Wer solche Momente erlebt hat, wundert sich über die Häme, mit der diese
       63. Ausgabe des Festivals in Grund und Boden geschrieben wird. Nicht dass
       es in den vergangenen Jahren nicht ausreichend Gründe gegeben hätte, Dieter
       Kosslicks Auswahlkriterien und Programmgestaltung infrage zu stellen, doch
       in diesem Jahr gibt es Anzeichen der Besserung, und wer sie nicht
       wahrnimmt, trampelt zarte Knospen nieder.
       
       Noch bevor es überhaupt losgehen sollte, moserte schon die Süddeutsche
       Zeitung: Wo sind die Weltpremieren? Wo ist das gute Wetter? Warum wachsen
       keine Palmen am Potsdamer Platz? Auf [1][Spiegel Online schoss Georg Diez]
       wild mit Projektionen um sich, so wie er im vergangenen Jahr auf Christian
       Krachts Roman „Imperium“ reagiert hatte. Diesmal galt der Unmut Thomas
       Arslans Wettbewerbsbeitrag „Gold“. Ist Kracht in Diez’ Augen ein verkappter
       Nazi, liegt Arslans Vergehen im Mangel an Gefühl. In den Adern des
       Regisseurs, so der Tenor der Polemik, fließe Eiswasser.
       
       Der junge Filmemacher [2][Dietrich Brüggemann] sekundierte in einem Blog,
       auch er ließ die Pappkameraden Kälte, Verkopftheit und Gefühlsmangel
       antreten, auch er witterte darin typisch deutsche Eigenschaften und war
       sich nicht zu schade, für seine Argumentation ausgerechnet die
       Filmschaffenden zu vereinnahmen, die 1933 außer Landes gejagt wurden und
       denen die Berlinale die Retrospektive widmete. Wenn man partout mit
       vermeintlich spezifisch deutschen Eigenschaften argumentieren will, dann
       möge man eine Untugend bitte nicht vergessen: die hässliche Mischung aus
       Sentimentalität und Killerinstinkt.
       
       Das heißt nicht, dass es nichts zu kritisieren gäbe. Der Wettbewerb fiel
       auch in diesem Jahr wieder flau aus, obwohl die Liste der annoncierten
       Filme zunächst Besseres verhieß. Mein Optimismus schepperte schon am
       zweiten Festivaltag gegen Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“, den letzten
       Teil der ehrgeizigen „Paradies“-Trilogie. Diesmal folgt der Wiener
       Regisseur übergewichtigen Teenagern in ein Diätcamp, wo sie es mit einem
       sadistischen Trainer, einem libidinös verwirrten Arzt und einer rosa
       gewandeten Erzieherin zu tun bekommen. Das Einzige, was in dieser
       Versuchsanordnung überrascht, sind die Szenen, in denen die Mädchen
       abhängen, auf dem Bett liegen, über sich, die Jungs, Zungenküsse und
       schiachen Oralsex reden.
       
       Auch andere Filme, die von hohen Erwartungen flankiert waren, enttäuschten,
       besonders Gus Van Sants „Promised Land“ und Denis Côtés „Vic + Flo ont vu
       un ours“ („Vic + Flo haben einen Bären gesehen“). Und ein Film wie „Elle
       s’en va“ („Sie geht weg“) von Emmanuelle Bercot wird zu Recht als bräsiges
       Feel Good Movie gescholten. Vermutlich findet es sich im Wettbewerb nur,
       weil dies Catherine Deneuve nach Berlin bringt.
       
       Ein Tiefpunkt war der Film, der den Großen Preis der Jury und den Preis für
       den besten Hauptdarsteller gewann: Danis Tanovic’ „An Episode in the Life
       of an Iron Picker“ („Epizoda u zivotu beraca zeljeza“). Der bosnische
       Regisseur begleitet darin eine von Laiendarstellern gespielte Roma-Familie,
       die in eine lebensbedrohliche Notlage gerät. Die Frau erleidet eine
       Fehlgeburt. Weil sie nicht krankenversichert ist, weigern sich die Ärzte,
       die medizinisch notwendige Ausschabung durchzuführen, es sei denn, sie
       zahlt 980 bosnische Mark, knapp 500 Euro. In weiter Ferne mögen Tanovic die
       Brüder Dardenne als Vorbilder leuchten, doch in „An Episode in the Life of
       an Iron Picker“ bleibt von deren Form der Mise en Scène nicht viel übrig.
       Bei Tanovic schreit jede Einstellung: „Armut! Not!“ Sie möchte etwas
       beweisen und tut es doch nicht.
       
       Der Parka, den der Protagonist Nazif (Nazif Mujic) trägt, sieht wie neu
       aus; in den ersten Einstellungen starrt die Kamera mit fragwürdiger
       Insistenz auf das Dekolleté der Protagonistin Seneda (Seneda Alimanovic),
       und es fehlt dem Film jedes Gespür dafür, dass es einer gewissen Dauer
       bedarf, um prekäre Lebensumstände filmisch zu erschließen. Der französische
       Theoretiker Jacques Rancière hat einmal notiert: „Der Realismus setzt
       Situationen, die andauern, gegen Geschichten, die verketten und immer schon
       zum nächsten übergehen.“ Bei Tanovic ist jedes Detail Beweis und Beleg,
       jede Szene tritt in den Dienst der These, nichts kann für sich stehen,
       keine Situation kann sich entfalten. Was bleibt, ist Miserabilismus. Und
       falls dieser Begriff zu eiswassermäßig-intellektuell klingt, lässt es sich
       auch anders formulieren: Tanovic stellt das Elend der Anderen so aus, dass
       davon für uns nicht mehr als ein sanfter Schauder bleibt.
       
       ## Porträt einer klammernden Mutter
       
       Der Goldene Bär geht in diesem Jahr an einen Film aus Rumänien, „Pozitia
       copilului“ von Calin Peter Netzer („Die Stellung des Kindes“); es ist das
       Porträt einer klammernden Mutter, deren erwachsener Sohn Fahrerflucht
       begeht. Sie setzt nun all ihre Energie daran, ihn vor einer Gefängnisstrafe
       zu bewahren. Schade, dass Jafar Panahi und Kamboziya Partovi für „Pardé“
       („Closed Curtain“) nur einen Bären fürs beste Drehbuch erhielten, obwohl
       dieser Film aus den begrenzten Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, enorm
       viel herausschlägt. Panahi wurde zu sechs Jahren Haft und zu Berufsverbot
       verurteilt; dennoch arbeitet er weiter, und „Pardé“ reflektiert diese
       prekäre Situation, ohne ihr zu verfallen.
       
       Die Repression, unter der der iranische Filmemacher leidet, wird nicht
       verdoppelt, indem sie einfach abgebildet würde; vielmehr halten ihr Partovi
       und Panahi etwas entgegen: die Fantasiearbeit, die Träume, die Ängste, die
       Selbstreflexion: das, was Kunst ausmacht.
       
       Und so wie „Pardé“ aus dem Wettbewerb herausragte, so fand sich in den
       Nebenreihen allerhand Großartiges, angefangen bei Nanouk Leopolds sensibler
       Coming-out-Verweigerung, „Boven is het still“ („It’s all so Quiet“), über
       Matías Piñeiros Shakespeare-Variation „Viola“ bis hin zu Peter Liechtis
       harter Familienbefragung, „Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern“. Vor
       allem aber wird diese 63. Berlinale als diejenige in Erinnerung bleiben,
       die die Attraktionen des unabhängigen US-amerikanischen Kinos an den
       Potsdamer Platz holte.
       
       Filme wie Andrew Bujalskis verschrobene 80er-Jahre-Fantasie „Computer
       Chess“, gedreht auf zeitgenössischem, kontrastarmen
       Schwarzweiß-Videomaterial, oder Matt Porterfields offene, elliptisch
       erzählte Trennungsgeschichte „I Used to be Darker“ sind unbedingt zu
       empfehlen, genauso wie James Bennings Essayfilm „Stemple Pass“, in dem der
       Regisseur Notizen des Una-Bombers Theodore Kaczynski aus dem Off vorträgt,
       während man auf eine idyllische waldreiche Berglandschaft im Wechsel der
       vier Jahreszeiten blickt.
       
       Nicht zu vergessen „Frances Ha“ von Noah Baumbach, ein hinreißend komischer
       Blick auf die Mühsal des Alltags und den Horror des Erwachsenwerdens im New
       York der Gegenwart. Die Hauptrolle spielt Greta Gerwig. Ihrer wunderbaren
       Mischung aus Anmut und Ungeschick nicht zu erliegen verlangt schon eine
       ganze Menge Biestigkeit.
       
       17 Feb 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/berlinale-georg-diez-ueber-die-kaelte-der-deutschen-kunst-a-883657.html
 (DIR) [2] http://d-trick.de/blog/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
 (DIR) Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Film
 (DIR) Nazif Mujic
 (DIR) Girls
 (DIR) Ulrich Seidl
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Indonesien
 (DIR) Schach
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Portrait Nazif Mujić: Bosnischer Bärenverkäufer
       
       Für seine Rolle in „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ gewann er einen
       Silbernen Bären. Besser wurde sein Leben dadurch nicht.
       
 (DIR) „Heil“, die Nazi-Komödie: Manche mögen’s leicht
       
       Dietrich Brüggemanns Spielfim „Heil“ ist wie das quengelnde Kind, dem die
       ernsten Gespräche der Erwachsenen zu langweilig sind.
       
 (DIR) Berlinale-Preisträger ohne Asyl: Verantwortung für die, die da waren
       
       2013 war er Festivalstar, 2014 im Flüchtlingsheim. Das Schicksal des
       bosnischen Laiendarstellers Nazif Mujic erregt vor der Berlinale die
       Gemüter.
       
 (DIR) Berlinale-Preisträger: Tausche Silbernen Bär gegen Leben
       
       Es war ein Triumph, als Nazif Mujic den Silbernen Bären erhielt. Aber der
       Preis brachte kein Glück. Mujic will ihn zurückgeben – unter einer
       Bedingung.
       
 (DIR) Vintage-Comedy „Frances Ha“: Leben in der Schwebe
       
       „Frances Ha“ ist ein Sonderfall: eine romantische Komödie ohne Mr Right -
       dafür im schwarzweißen Vintage-Look und mit einer wunderbaren
       Hauptdarstellerin.
       
 (DIR) Berlinale-Sieger über Rumänien: „Was ich erzähle, ist universal“
       
       Für „Mutter und Sohn“ erhielt Calin Peter Netzer den Goldenen Bären. Eiin
       Gespräch über Rumänien, den Filmstar Luminita Gheorghiu und die Radikalität
       der Form.
       
 (DIR) Regisseur Seidl über Spiritualismus: „Wann sagt sie nichts und horcht?“
       
       In Ulrich Seidls neuen Film „Paradies: Glaube“ besucht die fiktive Figur
       Anna Maria reale Menschen zuhause. Über Katholizismus der Hauptfigur und
       unterdrückte Sexualität.
       
 (DIR) Iranischer oppositioneller Regisseur: Gepolter vom Kulturministerium
       
       Das iranische Kulturministerium droht Jafar Panahi mit Repressionen. Der
       Grund ist, dass er weiterhin Filme dreht und damit auch noch Preise
       gewinnt.
       
 (DIR) Preise der Berlinale: Silberner Bär für Panahi
       
       Die Bären kommen am Schluß: Zu den Preisträgern der Berlinale gehören der
       Regisseur David Gordon Green und die Schauspielerin Paulina García.
       
 (DIR) „The Act of Killing“ auf der Berlinale: Brechreiz beim eigenen Anblick
       
       Weil sie vermeintliche Kommunisten waren, wurden 1965 2,5 Millionen
       Indonesier ermordet. Joshua Oppenheimer lässt die Killer ihre Taten selbst
       nachspielen.
       
 (DIR) „Computer Chess“ auf der Berlinale: Der Pfad zum Wahnsinn ist betreten
       
       Programmierer und eine Katzenplage in einem spacigen Tagungshotel:
       „Computer Chess“ ist eine sanft ironische Hommage an die Anfänge des
       digitalen Zeitalters.
       
 (DIR) „Uroki Garmoni“ auf der Berlinale: Kakerlaken auf elektrischem Stuhl
       
       Emir Baigazin erzählt in „Harmony Lessons“ eine eigenwillige
       Coming-of-Age-Geschichte. Der Film ist zugleich eine lakonische
       Totalitarismusparabel.
       
 (DIR) Berlinale Staralbum: Jeremy Irons: Der von nebenan
       
       Bille Augusts „Nachtzug nach Lissabon“ fährt ein internationales
       Promi-Potpourri auf. Doch der Star des Films ist eindeutig Jeremy Irons.