# taz.de -- Regisseur Seidl über Spiritualismus: „Wann sagt sie nichts und horcht?“
       
       > In Ulrich Seidls neuen Film „Paradies: Glaube“ besucht die fiktive Figur
       > Anna Maria reale Menschen zuhause. Über Katholizismus der Hauptfigur und
       > unterdrückte Sexualität.
       
 (IMG) Bild: Die katholische Missionarin Anna Maria geht so weit, sich mit dem Kreuz zu befriedigen.
       
       taz: Herr Seidl, wenn Sie Ihren Film „Jesus, du weißt“, in dem real
       existierende Gläubige über ihren Glauben sprechen, mit „Paradies: Glaube“,
       der einem Drehbuch folgt, vergleichen, worin liegt dann der Unterschied? 
       
       Ulrich Seidl: „Jesus, du weißt“ ist weniger fiktiv, ganz eindeutig, sehr
       nahe an dokumentarischen Filmen. Dagegen sind „Paradies: Glaube“ oder auch
       „Paradies: Liebe“ ganz am anderen Ende, das sind geschriebene Geschichten,
       die von den Schauspielern wie von den Laien transportiert werden. Bei
       „Jesus, du weißt“ spielen sich die Menschen selbst, es sind ihre eigenen
       Schicksale, von denen sie reden.
       
       Was passiert denn, wenn in „Paradies: Glaube“ eine fiktive Figur, Anna
       Maria, in einen Raum hineintritt, der in der Wirklichkeit existiert? In die
       Wohnung von Herrn Rupnik? Wenn die fiktive Figur also auf jemanden trifft,
       den es im echten Leben gibt? 
       
       Es passiert das, was ich eigentlich suche, die Absicht der Inszenierung
       wird mit dem Zufallsprinzip in Verbindung gebracht. Alle Szenen mit Nabil
       Saleh und Maria Hofstätter sind ja spielfilmartig, und um dort wieder
       hinauszukommen, geht Maria Hofstätter in Wohnungen, in denen gar nichts
       vorbereitet ist. Das reizt mich, weil dabei spannendere Dinge entstehen,
       als wenn ich die Szenen schreiben würde.
       
       Wie geht das denn konkret vonstatten? Maria Hofstätter geht von Tür zu Tür,
       klingelt, lässt sich überraschen, Sie drehen und suchen sich hinterher aus,
       was am besten passt? 
       
       Genau.
       
       Zum Beispiel das Paar, das sich so leidenschaftlich für die wilde Ehe
       ausspricht … 
       
       Das ist ausgesucht. Wir haben uns natürlich vorher überlegt, mit welchen
       Menschen man Szenen bauen könnte. Es ist so ähnlich wie in „Hundstage“, wo
       Maria Hofstätter autostoppend unterwegs ist. Auch da haben wir die Menschen
       ausgesucht, die in ihrem eigenen Auto gefahren sind und nicht wussten: Was
       wird passieren. Maria Hofstätter hat es gewusst, und genau so war’s hier
       auch.
       
       Drehen Sie das ein einziges Mal? 
       
       Nein. Bei der Szene, die Sie erwähnt haben, haben wir einmal gedreht, und
       es hat nicht geklappt. Dann sind wir wieder hingegangen, dreimal, glaube
       ich, waren wir dort.
       
       Und wie war es bei Herrn Rupnik, der ja schon in anderen Filmen von Ihnen
       vorkam? 
       
       Also, ich mache Probevorgänge, die Kamera geht hinein, Maria Hofstätter
       auch, und ich sehe, dass er Blödsinn redet. Dann sage ich: „Herr Rupnik,
       das sagen wir bitte alles nicht, das lassen wir weg.“ Und der Maria sag
       ich: „Du musst versuchen, dem Rupnik viel Raum zu geben.“ Das ist für sie
       schwierig bei der Improvisation – zu wissen: Wann sagt sie etwas? Wann sagt
       sie nichts und horcht?
       
       In „Jesus, du weißt“ werden der Glauben und die Frömmigkeit der
       Protagonisten sehr ernst genommen, so ernst, dass ich als Nichtgläubige
       eine Ahnung davon bekomme, was sie um- und antreibt. Das ist für mich damit
       verbunden, dass diese Menschen existieren. Bei einer fiktiven Figur stellt
       sich das etwas anders dar, die entspringt schließlich Ihrer Fantasie. 
       
       Na ja, im besten Fall sollte es so sein, dass sich diese Frage nicht
       stellt. Sie müssten die fiktive Figur als reale annehmen, und wenn Sie sie
       nicht ganz annehmen können, dann hat es vielleicht für Sie nicht
       funktioniert. Vielleicht sollte man das auch so nicht denken, denn man
       nimmt dann ja alles für bare Münze, wenn man sich einen sogenannten
       Dokumentarfilm anschaut. Und beim Spielfilm sagt man: „Ach, das ist ja nur
       ausgedacht.“ Aber so einfach ist ja nicht.
       
       Trotzdem: In meinen Augen waren die Figuren in „Paradies: Glaube“ und auch
       schon in „Paradies: Liebe“ zu sehr auf eine bestimmte Art konstruiert, zu
       eng gefasst. 
       
       Ich verstehe, was Sie meinen, aber ich sehe es nicht so. Ich erzähle etwas
       zu einem bestimmten Thema, und ich glaube, dass ich das im Fall von
       „Paradies: Liebe“ mit der Figur der Teresa ausgelotet habe. Und Margarethe
       Tiesel, die Darstellerin, hat das eins zu eins rübergebracht. Ich weiß
       nicht, ob Sie von Künstlichkeit sprechen. Oder von Nicht-Glaubwürdigkeit.
       
       Eher davon, dass die Figuren zugespitzt sind, so wie Anna Maria in
       „Paradies: Glaube“ sehr aufgeht in ihrer religiösen Hingabe. 
       
       Sie ist sehr strikt, ja. Unnahbarer und weniger nachvollziehbar. Es geht
       ein bisschen mehr ins Extreme, man kann es leichter verstehen, wenn eine
       Frau wie Teresa nach Afrika geht und Männer sucht, als wenn jemand wie Anna
       Maria so weit geht, sich mit dem Kreuz zu befriedigen.
       
       Tut sie das denn wirklich? Man muss die Szene ja gar nicht so eindeutig
       lesen. 
       
       Es ist so gedacht, so angesetzt, dass der Zuschauer es sich im Kopf
       weiterdenken kann.
       
       Warum war das nötig? 
       
       Es geht ja auch in dieser Geschichte um Sexualität, das fängt ja schon
       damit an, dass sich Anna Maria schlägt und so für die schmutzige Welt büßt,
       die von Sexualität besessen ist. Aber sie ist ja nicht frei davon, diese
       Unterdrückung, diese Tabuisierung der Sexualität bewirken ja oft das
       Gegenteil.
       
       Den Menschen, die aufgrund von Glaubensgrundsätzen oder Erziehung sexuell
       unterdrückt werden, erwächst eine besondere Lust. Und so sehe ich diese
       Figur. Nicht umsonst kommen in der katholischen Kirche all diese
       Missbrauchsfälle vor, man glaubt es ja nicht.
       
       Die kommen in evangelischen oder in anderen Institutionen auch vor, etwa in
       der Armee. 
       
       Das ist ein zweiter Aspekt, natürlich. Aber gerade bei der Kirche ist es
       auffällig, weil die ja die Tabuisierung seit Jahrhunderten zum Thema macht.
       Und ich meine nicht nur den Missbrauch, der kommt in allen Institutionen
       vor, das ist schrecklich, selbst in pädagogisch liberalen, wie wir wissen,
       in Deutschland. Oder in sozialistisch geführten Heimen, unfassbar. Aber es
       gilt ja auch unter Priestern – freiwillig gelebte Sexualität in der Kirche
       gibt es nicht.
       
       Das Bedürfnis zu verbieten, ist ja möglicherweise nichts anderes als eine
       hilflose Reaktion darauf, dass mit der Sexualität eine Kraft in uns steckt,
       die wir nicht vollständig kontrollieren können. 
       
       Ja. Ich bin öfters gefragt worden, warum Sexualität so eine große Rolle in
       meinen Filmen spielt. Weil ich genau das glaube, was Sie sagen: Das ist ein
       Trieb, der unser Leben bestimmt. Ob wir das wollen oder nicht.
       
       21 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
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