# taz.de -- Die Wahrheit: Mit Anstand saufen
       
       > Sei es das Sportfest des SV Kutenhausen-Todtenhausen oder der Königsball
       > – es gibt viele Gelegenheiten, sich gepflegt zu betrinken.
       
 (IMG) Bild: Gebt dem Mann einen Schwatten!
       
       Es gibt viele Arten, sich gepflegt zu betrinken. Aber, um meine
       ostwestfälische Mutter zu zitieren: „Man muss sich mit Anstand vollaufen
       lassen!“ Sie zum Beispiel trank nicht oft, eigentlich nur zum Sportfest des
       SV Kutenhausen-Todtenhausen 07 e. V., Schützenfest, Königsball, dem
       „Blumenkorso“ vom Obst- und Gartenbauverein und dem ein oder anderen
       Geburtstag in der Verwandtschaft.
       
       Am nächsten Morgen war sie regelmäßig krank und ich lernte an diesen Tagen
       die Familie bekochen. Für ihre Krankheit am Folgetag gab es eigentlich nur
       eine Ursache: „Korn“. Schnaps. Nicht Genuss wie heute mit Trester oder
       Grappa, nein, Korn! Eisig kalt und im Geschmack zwischen
       Sich-schütteln-Müssen und gar nichts. Korn, den man schnell in den
       Tanzpausen schüttete, weit hinten in den Rachen, um möglichst wenig
       schmecken zu müssen. Damit meine Mutter und ihre Freundinnen den
       Korngeschmack wieder loswurden, spülten sie nach jedem Korn mit einem
       Kornglas voll Florida Boy, eine Art Orangensaft. Eine Flasche Florida Boy
       hielt etwa 5 Schnäpse. Die Männer tranken Bier, meist beidhändig.
       
       Damals wurde nicht „vorgeglüht“, sondern „nachgefüllt“. Auf dem Heimweg vom
       Fest, meistens graute der Morgen, fand sich immer irgendjemand, der noch
       auf „einen Schwatten“ einlud. Korn wurde im Topf erhitzt, man stellte einen
       Teelöffel in die Tasse, füllte bis Stielansatz mit warmem Korn, goss mit
       schwärzestem Kaffee heiß auf, haute viel Zucker rein, und danach war man so
       wach, dass es nie bei nur einem „Schwatten“ blieb.
       
       Ich habe jetzt eine ganz neue Art, sich zu betrinken, kennengelernt. In
       Nittel, in der Nähe von Trier, war am Ostersamstag zur „Saisoneröffnung“
       das jährliche „Weinlehrpfadfest“. Motto: „Erlebnis und Genuss“. Man kauft
       sich am Eingang zum „Weinlehrpfad“ ein Glas. Das „Tasteglas“. Top Qualität
       von Schott.
       
       Es verkaufte uns dort das diesjährige Prinzenpaar des KV Naischnotz Nittel,
       Prinz Ralf I. und Prinzessin Jessica I., auch noch für 3,50 Euro
       Weinglashalter aus Gummi am Schlüsselband, so dass man das Glas zum
       Nachschenken immer ausklicken, zum Hände in die Tasche stecken gegen die
       Kälte immer einklicken kann. Dann steigt man mit Freunden den Lehrpfad
       empor, an dreizehn Winzern vorbei, die jeweils vor oder über ihren
       Weinbergen meist fünf bis sieben Weine zum Verkosten anbieten. Auxerrois,
       Elbling, Riesling und anderes. Sehr, sehr lecker. Nun habe ich es also
       gefunden.
       
       Man schaut in die Moselschleife, über Nittel schweift der Blick nach
       Luxemburg auf der anderen Seite, und man wird von Stand zu Stand
       betrunkener. An den dünn platzierten Dixis staut es gewaltig. Männer werden
       verjagt. „Pinkel im Weinberg! Du nimmst nur einer Frau den Platz weg!“ Ein
       Bartträger, Anfang 50, sehr „alternativ“ wirkend, blieb aber stehen,
       verharrte und rief über die Weite der Moselschleife: „Ich lasse mir nicht
       vorschreiben, wie ich zu pinkeln habe!“
       
       Das, glaube ich, meinte meine Mutter mit „sich mit Anstand volllaufen
       lassen“.
       
       15 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Gieseking
       
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