# taz.de -- Die Wahrheit: Mulle im Hosenanzug
       
       > Nackt zu sein ist für viele das Natürlichste der Welt. Doch die Akzeptanz
       > des Unverhüllten steht und fällt mit der eigenen Sozialisation.
       
 (IMG) Bild: Solche Nacktheit ist in Ostwestfalen undenkbar, da können die Nacktmulle auch noch so hübsch sein.
       
       Mit dem Nacktsein ist das so eine Sache. Früher waren Miniröcke zu kurz,
       sogar Hotpants erregten Anstoß und Flitzer sorgten bis heute für
       Aufmerksamkeit in den Stadien. Zuletzt liefen ein paar Damen halbnackt auf
       Putin zu, was Merkel sichtlich erschreckte und Putin sichtlich erfreute.
       Gerade Merkels Reaktion ist ungewöhnlich, kommt sie doch aus dem
       Nudistenstaat per se. Die halbe DDR lief die halbe Zeit nackt durch das
       Land, die andere halbe Zeit war Winter und einfach zu kalt dafür.
       
       Jetzt geistert eine Meldung durchs Netz, Merkel sei im Urlaub auf Ischia im
       Badeanzug fotografiert worden, und das scheint eine Qualität zu haben, als
       hätte sich Heidi Klum, Deutschlands offenste Verschlossene, für den Playboy
       entblättert. Man denke nur an die Aufregung, als die Kanzlerin einfach mal
       im dekolletierten Kleid zur Opern-Eröffnung nach Oslo fuhr. Einmal kein
       Blazer und Hose und schon ein Pressesturm!
       
       Jetzt gibt es angeblich in türkischen Medien ein Foto der nackten jungen
       Merkel von irgendeinem FKK-Strand in der DDR. Angeblich gepostet vom KGB
       oder Nachfolgeorganisation FSB als Rache für Zypern. Da muss man erst mal
       draufkommen! Das Foto ist also circa 40 Jahre alt, und angeblich fordern
       türkische Moralapostel, dass Merkel wegen dieses Fotos sofort zurücktreten
       müsse. Oje, oje. Ist das wirklich die Welt, in der ich lebe?
       
       Gut, ich stamme aus Ostwestfalen. Der Ostwestfale ist in mancher Hinsicht
       auch ein Moslem, auch wenn er evangelisch ist. Ein Kuss kam einer Verlobung
       gleich, in meiner Jugend durften Katholiken und Evangelen nicht heiraten,
       und wenn doch, kaperten die Katholiken die Kinder dieser verteufelten Ehen
       bei Androhung von Hölle und Fegefeuer für ihre Beitragskasse. Das war zu
       einer Zeit, als Merkel nackt durch die DDR lief. Was war besser?
       
       In Ostwestfalen habe ich natürlich meine Eltern nie und nimmer nackt
       gesehen, bis heute nicht. Niemand von uns dort hat seine Eltern nackt
       gesehen. Niemals. Nicht mal aus Versehen! Wir waren schließlich nicht
       Kommune 1 mit Langhans und Teufel, sondern ordentliche
       Schützenvereinsmitglieder. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem wir unsere
       Kriegsdienstverweigerung einwarfen. Wir waren nur nackt, wenn wir nachts
       beim Schwimmbad über den Zaun stiegen. Aber da war es immerhin dunkel.
       
       Ja, ich weiß. Nackt sein ist das Natürlichste der Welt. Aber ich muss nicht
       jeden nackt sehen. In Finnland werden angeblich viele Deals in der Sauna
       gemacht. Undenkbar bei uns. In Deutschland findet ohne Krawatte kein
       Geschäftsabschluss statt. Nur die Incentive-Reisen der Hamburg-Mannheimer,
       heute Ergo, endeten verbürgt in Nacktheit, aber die fuhren dafür bis
       Budapest, die VW-Mitarbeiter wurden sogar nach Brasilien geflogen. Damals
       wurde Hartz-Geld noch ganz anders eingesetzt als heute.
       
       Natürlich kam dann auch bei uns die Phase, als wir uns das erste Mal an
       FKK-Strände trauten, während in anderen Ländern die reisenden Deutschen mit
       ihrer Nacktheit schon die Einheimischen vergraulten. Heute schlafen viele
       nackt und es ist mittlerweile eher lustig, den ein oder anderen auf
       gemeinsamen Reisen im Schlafanzug zu sehen.
       
       Schrecklich ist aber, wenn in deine eigene Nacktheit der Postbote klingelt.
       Im Haus sind alle anderen arbeiten, man wirft sich in irgendein
       Bekleidungsstück, schief gewickelt, reißt das Fenster auf, um dem Postboten
       anzuzeigen, es sei doch jemand im Haus, denn zweimal klingelt der Postmann
       längst nicht mehr, da fehlen ihm Geduld und Beharrlichkeit. Dann kommt ein
       Paket für jemand, der hier längst nicht mehr wohnt, während das Handtuch
       rutscht.
       
       Noch schlimmer sind Anrufe, wenn man nackt ist. Vom Vermieter zum Beispiel.
       Ich ziehe mich dann erst an, bevor ich weiter telefoniere. Ich kann kein
       wichtiges Telefonat führen, wenn ich nackt bin. Barfuß geht gerade noch.
       
       Verhandlungen am Telefon? Da ziehe ich mir manchmal sogar eine Lederjacke
       an! Ich habe mich erwischt, dass ich, als ich mit dem Finanzamt
       telefonierte, vorher die Jeans mit dem Loch vorm Knie gewechselt habe! Wenn
       ich ehrlich sein soll, dusche ich vorher sogar und rasiere mich. Nur um zu
       telefonieren. Wenn es ganz wichtig wird, streiche ich eine imaginäre
       Krawatte glatt.
       
       Das habe ich von Merkel. Der geben auch ihre Hosen Halt und ihre Blazer
       Kraft. Das alles weiß man aber nur, wenn man in der Jugend mal nackt
       unterwegs war, und wenn Angela das nicht gewesen wäre, das würde mich
       ernsthaft beunruhigen. Was sind wir letztlich anderes als Nacktmulle?
       
       23 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Gieseking
       
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