# taz.de -- Kommentar Europas Jugend: Die Hoffnung stirbt zuerst
       
       > Die europäische Krisenpolitik raubt den Menschen mehr als ihren
       > Wohlstand: Es ist die Idee der Zukunft selbst, die zum umkämpften Gut
       > geworden ist.
       
 (IMG) Bild: Im Süden Europas ist die Zukunft schon zunichtegemacht worden: Obdachloser in Athen.
       
       Gibt es ein Rezept, um die Angela Merkels in Europa bei Wahlen zu besiegen?
       Ja. Es heißt Zukunft – oder wenigstes ein klein wenig davon. Denn alles
       Mögliche können wir denen, die uns regieren, verzeihen: Niedriglohn, ein
       aus den Fugen geratenes Gesundheitssystem, Urlaub nur noch auf dem Balkon,
       Entlassungen und Arbeitslosigkeit.
       
       Aber dass sie uns um unsere Zukunft gebracht haben, das können wir nicht
       hinnehmen. Denn Zukunft ist ein Grundbedürfnis. Ohne sie sind wir alle
       Gefangene. Ohne Zukunft ist ein Greis, wer eigentlich noch alles vor sich
       hat.
       
       Im Süden Europas ist die Zukunft schon zunichtegemacht worden; dort, wo es
       nicht nur kein Morgen, sondern auch kein Heute mehr gibt. Denn was ist das
       für eine Gegenwart, in der vier von zehn jungen Menschen ohne Arbeit sind
       (Italien: 39 Prozent Arbeitslosigkeit bei den 16- bis 25-jährigen); oder
       fünf Junge von zehn (Spanien) oder sechs von zehn (Griechenland)?
       
       ## Spanien goes Griechenland
       
       Und jedes dieser Länder stellt keine beklagenswerte Ausnahme von der Regel
       dar, sondern sie bilden den Horizont, auf den sich, wie bei der
       Wegener’schen Plattentektonik, das jeweils nachfolgende zubewegt: Spanien
       verschiebt sich in Richtung Griechenland, Italien folgt Spanien. Und dabei
       bleibt es nicht – jedenfalls, wen man der Einschätzung des in Finanz- und
       Politikkreisen hochgeschätzten italienischen Expremiers Mario Monti glaubt:
       Ihm zufolge wird es noch schlechter als den ganz Jungen der Generation der
       heute 30- bis 40-Jährigen ergehen, die – „das muss man so grob sagen“ –
       eine „verlorene Generation“ seien. Wir sprechen hier von einem Schicksal,
       das 130 Millionen Menschen droht.
       
       Doch es geht nicht nur um den Süden. Der ganze Kontinent ist, mit
       unterschiedlicher Geschwindigkeit, ins Rutschen geraten. Wir hören ja oft
       genug den Vorwurf, dass wir Linken, negativ, wie wir nun mal seien, immer
       nur über die Millionen von Armen in unseren „Wohlstandgesellschaften“ reden
       wollten. Dabei ist es augenfällig, wie gering der Unterschied zwischen den
       blühenden Landschaften in Deutschland und den verwüsteten in Spanien,
       Griechenland und Italien ist.
       
       15,8 Prozent der Bevölkerung in Felix Germania leben unterhalb der
       Armutsgrenze. In Italien sind es 19,6 Prozent, in Spanien 21,8 und in
       Griechenland (2011) 21,4 Prozent. Darf man fragen, worin der viel
       gepriesene Aufschwung eigentlich besteht, wenn er die Anzahl der Armen
       nicht vermindern kann, ja sie sogar wachsen lässt? In 11 Jahren ist das
       deutsche BIP um mehr als 50 Prozent gestiegen, aber auch die die Armen sind
       mehr geworden (2011 waren es noch 11 Prozent).
       
       ## „Not in education, employment or training“
       
       Die Wahrnehmungen sind unterschiedlich, gänzlich entziehen kann sich
       keiner. Die krasseste, realistischste und erbarmungsloseste Definition des
       Phänomens der jungen Armen kommt wieder mal aus Großbritannien, wo man eine
       Leidenschaft für Akronyme hegt: Eine Million sind hier „NEET“ – also
       diejenigen zwischen 16 und 24 Jahren, die „Not in education, employment or
       training“ sich befinden: die also, anders gesagt, überhaupt nichts tun.
       
       Gegen dieses Abdriften ist kein europäisches Land immun, auch wenn sich
       manche noch in Sicherheit wähnen. Die jungen Franzosen wissen, wie
       stürmisch die See ist, in der sie schwimmen müssen, und nennen sich selbst
       poetisch „génération flottante“, also eine, die wie ein Korken frei auf dem
       Wasser treibt; die hervorragend ausgebildet ist, aber keine Arbeit findet,
       die ihrer Qualifikation entspricht. Die New York Times zitierte dazu im
       Dezember eine 23-Jährige, die einen Master in Verwaltungswissenschaften hat
       und nun für fünf Dollar die Stunde Hunde Gassi führt.
       
       Frankreich ist unterwegs Richtung Italien: In der Jugendarbeitslosigkeit
       von 25,7 Prozent (viertes Quartal 2012) ist die junge Akademikerin, die mit
       den Hunden geht, nicht enthalten. Auch in Deutschland ist die Quote
       bereinigt. Die Arbeitslosigkeit ist sehr niedrig (5,4 Prozent, 2,5
       Millionen Menschen), aber die fünf Millionen Deutschen, die nur einen
       Minijob haben, tauchen nicht auf.
       
       Die 450-Euro-Mini-Gehälter liegen weit unterhalb des Mindestlohns in den
       Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit (in Spanien etwa liegt er aktuell bei
       645 Euro, also fast 50 Prozent höher). Zählte man die Minijobber mit ihrer
       Scheinrente dazu, so käme man auf 16,5 Prozent Unterbeschäftigung: Und da
       ist sie wieder, die verlorene Generation.
       
       ## Zukunft ist das, worauf wir warten
       
       Aber ist es nicht so, dass hier gar niemand um seine Zukunft betrogen wird,
       sondern vielmehr um seine Gegenwart? Ja und nein. Denn man muss sich
       darüber verständigen, was Zukunft bedeutet. Der Erste, der sich damit
       beschäftigt hat, war der heilige Augustinus (354–430 n. Chr.). In seinen
       „Bekenntnissen“ fragt er sich, was Zeit ist, und kommt zu der Antwort, dass
       es keine Vergangenheit gibt, sondern eine Gegenwart der Vergangenheit;
       keine Zukunft, sondern eine Gegenwart der Zukunft: Denn, sagt Augustinus,
       die Vergangenheit lebt lediglich in unserer Erinnerung und die Zukunft nur
       in unserer Erwartung. Die Zukunft ist das, worauf wir warten, was uns in
       Spannung versetzt. Und in diesem Sinn hat man uns die Zukunft gestohlen,
       weil man uns die Hoffnung gekappt hat.
       
       Oder möchte jemand einen Minijob eine Perspektive nennen? Oder einem Hund
       mit dem Kotbeutel hinterherzulaufen?
       
       Es ist nicht nur so, dass die Jungen mehr Lebensjahre vor sich haben als
       die Alten; es ist vielmehr so, dass Jugend mehr ist als ein biologischer
       Zustand – es ist auch ein sozialer. Wenn man jung ist, steht man vor einem
       Fächer der Möglichkeiten: Wirklich jeder Weg scheint offenzustehen. Nach
       Pierre Bourdieu besteht die soziale Alterung einer Gesellschaft ebendarin:
       in der fortgesetzten Beschränkung des Horizonts der Möglichkeiten, bis zu
       dem extremen Punkt, wo man nur noch der sein kann, der man schon gewesen
       bist. Und genau dann ist man alt.
       
       Wenn man sagt, vor uns liege keine Zukunft mehr, dann ist der Fächer
       unserer Erwartungen und Hoffnungen zugeklappt; dann sind die Jungen, als
       soziale Gruppe betrachtet, schon alt.
       
       Das gilt nicht nicht für Europa, sondern auch für die USA. In einer
       ökonomischen Perspektive steht der Fächer der Möglichkeiten für den
       Aufstieg, für die Leiter, die einen nach oben führt. Es geht um soziale
       Mobilität. Diese Mobilität hat sich in den Vereinigten Staaten in den
       letzten Jahrzehnten drastisch verringert, ja sie ist praktisch verschwunden
       – und mit ihr der Mythos vom Selfmademan. Der Blick über den Atlantik
       unterstreicht, dass der Hunger nach Zukunft keine frontier kennt, keine
       Grenzen, dass sich niemand dieser Sehnsucht entziehen kann, egal welchen
       Alters.
       
       ## Yankee-Fassung von Augustinus
       
       Woher kommt denn der rational nur schwer nachzuvollziehende Enthusiasmus,
       den Barack Obama 2008 auslöste, und zwar nicht nur bei den US-Wählern,
       nicht nur bei den Jungen, sondern auch im Rest der Welt, ja sogar bei der
       schlafmützigen Osloer Jury für den Friedensnobelpreis? Letztlich hat Obama
       nichts anderes getan, als die Dimension Zukunft wieder in den politischen
       Diskurs einzuführen, wenn auch nur für sehr kurze Zeit.
       
       Sein „Yes, we can“ war die Yankee-Fassung und 21.-Jahrhundert-Version der
       Spannung und Erwartung, die sich bei Augustinus findet. Einen historischen
       Moment lang ist Barack Obama der spezifischen Aufgabenstellung für jeden
       Politiker der westlichen Demokratien gerecht geworden: den Weg in die
       Zukunft zu weisen und das Fortschrittsversprechen vital und glaubwürdig zu
       halten.
       
       Dass er diesem Hunger nach Zukunft dann nicht sättigen konnte, dass er
       diejenigen, die am meisten auf ihn zählten, verraten hat, ist dabei nicht
       wichtig. Entscheidend ist, dass er diesen Hunger, wenn auch nur, um daraus
       sein eigenes Süppchen zu kochen, vor der ganzen Welt offenbart hat.
       
       Es ist diese Lektion, die die europäischen politischen Eliten sehr genau
       beachten sollten. Denn wenn sie es nicht tun, werden auch sie zu denjenigen
       gehören, denen keine Zukunft beschieden ist.
       
       ## Aus dem Italienischen: Ambros Waibel
       
       4 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marco D'Eramo
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Jugendarbeitslosigkeit
 (DIR) Schwerpunkt Finanzkrise
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Spanien
 (DIR) Italien
 (DIR) Zukunft
 (DIR) Spanien
 (DIR) Schwerpunkt Erster Weltkrieg
 (DIR) Bosporus
 (DIR) Schwerpunkt Angela Merkel
 (DIR) EU
 (DIR) EU
 (DIR) Europa
 (DIR) SPD
 (DIR) Europa
 (DIR) Euro
 (DIR) Spanien
 (DIR) Francois Hollande
 (DIR) Schwerpunkt Angela Merkel
 (DIR) EZB
 (DIR) Tag der Arbeit, Tag der Proteste
 (DIR) Griechenland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Schwarzmarkt steigert Wirtschaftsleistung: Bordelle sollen Spanien retten
       
       Spanien will seine offizielle Wirtschaftsleistung erhöhen, indem es die
       Prostitution mit einrechnet. Doch das ist gar nicht so einfach.
       
 (DIR) Debatte 100 Jahre Erster Weltkrieg: Wettlauf ums Gedenken
       
       Es wäre erst 2014 soweit, aber die Medien können nicht warten: Anmerkungen
       zu Sinn, Zeitpunkt und Asymmetrien des Erinnerns an den Großen Krieg.
       
 (DIR) Debatte Türkei: Abschied von den Vätern
       
       Der Boom am Bosporus ist auf Schulden gebaut. Erdogans Spielraum schwindet
       zügig – und seine Verbündeten schwächeln.
       
 (DIR) Konferenz zur Jugendarbeitslosigkeit: Ganz plötzlich ein Thema
       
       Die EU will bis zu 24 Milliarden Euro für Europas arbeitslose Jugendliche
       bereitstellen. Das eigentliche Problem geht dabei unter.
       
 (DIR) Debatte Jugendarbeitslosigkeit: Die Propagandamaschine läuft
       
       Die EU-Granden und auch Angela Merkel bemerken endlich die
       Jugendarbeitslosigkeit – und verordnen die falschen Maßnahmen. Deutschland
       kann's recht sein.
       
 (DIR) Europaparlament kippt Haushalt: Gipfel ohne Geld
       
       Die Abgeordneten fühlen sich manipuliert und schmettern den Budgetentwurf
       ab. Was wird nun aus dem Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit?
       
 (DIR) Junge Spanier in Deutschland: Staatsbürgerschaft: europäisch
       
       Junge Spanier haben in ihrer Heimat kaum Arbeit – und keine Zukunft. Viele
       verlassen das Land, auch in Richtung Deutschland. So wie Eric Vázquez
       Jaenada.
       
 (DIR) Die Sozialistische Internationale: Gabriel, der Spalter
       
       Niemand kennt die Sozialistische Internationale. Die SPD will daher ein
       neues Bündnis gründen. Griechenlands ehemaliger Ministerpräsident
       protestiert.
       
 (DIR) Länderübergreifender Krisen-Protest: Europas Linke mit Visionen
       
       Linke Sozialdemokraten, Grüne, Intellektuelle und andere Linke suchen eine
       europaweite Allianz. Ein gemeinsamer Aufruf soll die Kehrtwende einleiten.
       
 (DIR) Tarifexperte über Folgen der Krise: „Uns droht Troika für alle“
       
       Nicht nur die Südeuropäer sollen Löhne kürzen. Auch für die anderen Länder
       habe die EU-Kommission solche Pläne, warnt Tarifexperte Thorsten Schulten.
       
 (DIR) Europäische Solidarität: Meine, deine, unsere Botschaft
       
       Mit einem Hilferuf per Video wandten sich spanische AktivistInnen an die
       deutsche Bevölkerung. Jetzt gibt es die Antwort.
       
 (DIR) Bilanz in Frankreich: François Ohneland
       
       Ein Jahr nach seiner Wahl hat Präsident Hollande die Sympathie der Wähler
       verspielt. Die Konjunktur unterstützt seine Politik nicht.
       
 (DIR) Eurokolumne: Ihre Majestät möchte lieber knausern
       
       Merkel ist Europas Sparmonarchin. In Deutschland wagt niemand der Kanzlerin
       zu widersprechen. Doch in der EU bricht ihre Allianz auseinander.
       
 (DIR) Kommentar Leitzins: Götterdämmerung
       
       Die Europäische Zentralbank hat sich von der reinen Lehre des
       Neoliberalismus verabschiedet. Doch das allein wird Europa nicht aus der
       Rezension holen.
       
 (DIR) Tag der Arbeit in Europa: Avanti Popolo
       
       Die Griechen protestieren gegen die harte Sparpolitik. Die Spanier laufen
       auf den Straßen gegen Massenentlassungen. In Bochum macht DGB für ein
       „soziales Europa“ mobil.
       
 (DIR) Griechischer Aktivist wirbt um Solidarität: Lobbyist ohne Lobby
       
       Weil die griechische Sozialstruktur zusammenbricht, werben Aktivisten um
       Solidarität aus Deutschland. Allen voran: Christos Giovanopoulos.