# taz.de -- Videokunst-Ausstellung in Siegen: Ein Palast ist ein Gefängnis
       
       > Der Videokünstlerin Fiona Tan widmet das Museum für Gegenwartskunst die
       > Ausstellung „Ausgangspunkt“. Es geht um eine Revision des kolonialen
       > Blicks.
       
 (IMG) Bild: Fast traumhaft wirken die Bilder aus einem Amsterdamer Filmarchiv. Fiona Tan, Installationsansicht „News from the Near Future“, 2003.
       
       Ein Segelmast, ein Seil der Takelage und eine Person, die in Fahrtrichtung
       über das Meer blickt, das bildfüllend die Szene beherrscht. Später dann der
       Dreimaster, wie er sich durch hohe See kämpft. Ein Topos, der an einen
       Mythos erinnert. Zumal die Künstlerin Fiona Tan die historischen
       Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus einem Amsterdamer Filmarchiv blau einfärbte und
       mit Wellen- und Vogelgeräuschen hinterlegte, so dass die Szenen ihrer
       Videoinstallation fast traumhaft wirken.
       
       Ist die Person, die den Aufbruch ins Ungewisse wagt, sogar unser Alter ego,
       auf der Suche nach der Insel Utopia oder Kythera? Zu sehen ist die
       assoziative Arbeit [1][in einer Einzelausstellung der Künstlerin]: „Point
       of Departure“, als „Ausgangspunkt“ etwas ungenau eingedeutscht, im Museum
       für Gegenwartskunst in Siegen. Eine endlose Reihe von Literaten und Malern
       hat die Fahrt übers Meer als Metapher für die Suche nach einem glücklichen
       Leben gewählt.
       
       Antoine Watteau nannte sein Gemälde von 1717 „Einschiffung nach Kythera“
       und nicht etwa „Ankunft in Kythera“, obwohl auch dieser Titel zu der am
       Ufer versammelten galanten Gesellschaft passen würde. Max Beckmann nannte
       sein erstes Triptychon „Departure“, eine im Geist vorweggenommene
       Emigration angesichts der erstarkenden Nazis. Aufrecht sitzend fahren die
       Flüchtenden auf das offene Meer, die Königin hält das Kind „Freiheit“
       umschlungen.
       
       ## Das Altern der Filmbilder
       
       Die 1966 geborene Fiona Tan reiht sich in diese Reihe der Künstler ein, die
       den Mythos des Aufbruchs variieren. Sie nennt ihre Videoarbeit von 2003
       „News from the Near Future“, in Anspielung auf den utopischen Roman „News
       from Nowhere“, in dem sich William Morris 1890 eine gerechte und liebevolle
       Gesellschaft erträumte.
       
       Doch es tauchen auch alte Filmaufnahmen in ihrem Video auf, die einen
       Walfang zeigen oder historische Badefreuden am Strand oder eine
       Überschwemmung in Amsterdam, wo die Künstlerin lebt. Diese recht
       unmotiviert wirkende Reihung bringt die Assoziationen der Betrachterin
       etwas durcheinander. Nur das Hörstück „Brendan’s Isle“ gehorcht einer
       eindimensionalen Interpretation: Im 6. Jahrhundert brach der irische Mönch
       Brendan auf, um die Isola Deliciosa zu finden. Und entgegen allen anderen
       Utopie-Suchern fand er sie auch, nach 9 Jahren auf dem Meer. Fiona Tan
       erzählt die Legende mit ruhiger Stimme. Und ihr scheinbar positives Ende
       entspricht ja leider den historischen Realitäten.
       
       Denn Kolonisatoren und Missionare fanden immer das Objekt ihrer Begierde.
       Was sie anrichteten, wird in der raumfüllenden Videoinstallation „Thin
       Cities“ visualisiert. Da schauen uns Aborigines-Frauen minutenlang mit
       furchtsamem Blick an, sie halten Kinder auf dem Arm und sind in Kleider
       gesteckt. Eine andere Leinwand zeigt Asiaten mit traditionellem Hut und
       Lendentuch, doch haben sie dunkle Regenschirme dabei, um sich durch die
       Attribute westlicher Kultur aufzuwerten.
       
       ## Die Dampfwalze unserer Kultur
       
       Auch sie blicken uns an, unbehaglich gehorchen sie dem damaligen
       Fotografen, der sein Zivilisationswerk auf Zelluloid bannte. Wir heutigen
       Betrachter stehen unangenehm berührt vor diesen in Lebensgröße projizierten
       Gegenübern, beschämt ob der Dampfwalze unserer eigenen Kultur, die auch
       heute noch, im sogenannten Postkolonialismus, die Welt penetrant
       überkleistert.
       
       Doch auch diese Videoinstallation bringt am Schluss einen Querschläger.
       Eine der Projektionsflächen zeigt die chinesische Verwandtschaft der
       Künstlerin, die chinesisch-australische Wurzeln hat und in Indonesien
       aufwuchs. Fiona Tan mitten unter ihnen in der Gruppe, auf dem einzigen
       farbigen Video im Raum, aufgenommen in einem chinesischen Dorf. Äußerlich
       unterscheidet sie sich kaum. Auch dieses Video ist stumm, doch im Katalog
       äußert die Künstlerin, dass sie in dem Dorf, in dem alle Tan heißen, nicht
       leben könnte, und dass sie die kulturelle Tradition wie einen Palast und
       ein Gefängnis gleichzeitig empfindet. Ihre Identität wurde facettenreicher
       durch ihre globalen Erfahrungen.
       
       Die mehrdimensionalen Identitäten des globalen Zeitalters bedeuten Zugewinn
       an Horizonterweiterung und Verlust von emotionaler Geborgenheit. Zu dem
       Ergebnis kam Fiona Tan offenbar, die um die Welt reiste, um der eigenen
       Identität auf die Spur zu kommen. Sie interviewte ihre in vielen Ländern
       lebenden weiteren Verwandten mit chinesischen Wurzeln und machte daraus den
       Dokumentarfilm „May you live in Interesting Times“.
       
       ## Paso Doble im Park
       
       Er beginnt mit Aufnahmen in Peking, auf denen Chinesen in einem Park einen
       Paso Doble tanzen. Dieser Film benennt als einziger die konkreten Orte und
       Namen der Angehörigen, die von Fiona Tan befragt wurden. „Do you feel like
       a Chinese oder like a Dutch?“ Natürlich ist die Antwort, in beiden Kulturen
       zu Hause zu sein, scheint doch die Migration schon lange zurückzuliegen.
       
       Was aber ist mit den Millionen Flüchtlingen von heute, die unfreiwillig
       übers Meer in eine andere Kultur reisen? Sie sind wohl ähnlich
       desorientiert wie der ältere Mann in „A Lapse of Memory“. Ihn hat es in
       einen bizarren Palast im chinesischen Stil in Brighton verschlagen, wo er
       offenbar verwirrt allerhand seltsame Rituale praktiziert, die seinen
       fernöstlichen Ursprung vermuten lassen. Durch die Chinoiserien und
       Draperien des Drehorts und die ruhige Kamera ist diese Videoarbeit von
       großer Poetik, lässt aber durch ihre Surrealität Interpretationen am
       meisten Spielraum.
       
       Fiona Tan: Ausgangspunkt. Museum für Gegenwartskunst, Siegen, bis 27.
       Oktober. Katalog 22 Euro
       
       16 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.mgk-siegen.de/deu/ausstellungen-und-sammlung/ausstellungen/fiona-tan/fiona-tan-ausgangspunkt.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ursula Wöll
       
       ## TAGS
       
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