# taz.de -- Schicksale in DDR-Kinderheimen: Peinigen und brechen
       
       > Die Enthüllungen über Gewalt in Brandenburger Heimen reißen nicht ab. Bei
       > den ehemaligen Heimkindern der DDR wecken sie schreckliche Erinnerungen.
       
 (IMG) Bild: Liebevolle DDR-Erziehung mit viel Sinn für Freiheit
       
       Die Delinquentin hatte sich nicht mehr vom Fleck zu rühren. Sie sollte
       stehen und durfte sich nicht bewegen. Über viele Stunden, über Tage. Ohne
       Nahrung. Ohne Trinken. Inklusive der sogenannten Zuführung hungerte die
       16-jährige Norda inzwischen 24 Stunden. Dann bekam sie etwas zu essen.
       Schmalzstulle mit viel Salz – und einen Napf Tee.
       
       „Das war eine Prozedur, die alle Jugendlichen im Durchgangsheim Bad
       Freienwalde erlebten. Man wollte uns brechen. Das war der oberste
       Grundsatz“, erinnert sich Norda Krauel, heute 49, an die zwei
       schrecklichsten Jahre ihres Lebens. Frau Krauel war eines der
       schätzungsweise 120.000 Heimkinder, die in der DDR in Durchgangsheimen und
       sogenannten Jugendwerkhöfen interniert und oft gequält wurden. Krauel
       leidet heute noch unter dieser Zeit. „Wenn ich Bus fahre, denke ich, dass
       sie mich wieder wegbringen. Wenn ich außer Sichtweise meines Hauses
       spazieren gehe, habe ich Angst, dass sie mich einfangen.“
       
       Krauel kämpft seit vielen Jahren mit ihren Erinnerungen an die Qualen, die
       sie zwischen 1980 und 1982 in Heimen in Bad Freienwalde, Burg und
       Alt-Stralau erlitten hat. Seit sechs Wochen aber ist alles viel schlimmer.
       Seit bekannt wurde, dass in den Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg
       Jugendliche mit unwürdigen und brutalen Zwangsmaßnahmen [1][ruhiggestellt
       und erzogen werden]. 
       
       „Wir Alten wissen doch, was in solchen Heimen passiert“, sagt sie. „Ich
       habe geweint, als ich hörte, dass einer der entflohenen Jungen wieder nach
       Haasenburg zurückgebracht wurde. Wir haben so viele Selbstmorde erlebt.
       Wann hört das endlich auf!“
       
       Wie Frau Krauel geht es auch Nicole A., 41. Sie wurde als Teenager in
       Ostheimen gepeinigt und gebrochen. Weil sie sich anders verhalten hatte,
       als sich die DDR-Oberen „entwickelte sozialistische Persönlichkeiten“
       vorstellten. „Haasenburg ruft bei den Heimkindern die alten Erinnerungen
       und Verletzungen wieder wach“, sagt A. „Es ist nicht zu ertragen, was in
       Brandenburgs Heimen heute noch passiert.“
       
       ## Hilfe vom Netzwerk Heimkinder Ost
       
       Nicole A. hat ein kleines Netzwerk Heimkinder Ost gegründet. Darin kommen
       Menschen zusammen, die teils nicht mehr in der Lage sind, sich zu wehren,
       für ihre Rechte zu kämpfen oder auch nur Anträge zu stellen. Man hilft sich
       gegenseitig. „Als Haasenburg durch die Medien ging, kam alles wieder hoch.
       Wenn diese Heime nicht geschlossen werden, können wir für nichts
       garantieren. Hat die Regierung nichts gelernt aus der Aufarbeitung der
       Heimkinder West?“
       
       Nicole A., Norda Krauel und andere Sprecher von Heimkinderinitiativen
       berichten, dass sie nach Haasenburg ziehen und vor den Toren des Heims ihre
       Zelte aufschlagen werden. „Es war schwer, sich zurückzuhalten. Einige
       wollten sofort losfahren“, erzählt A. Krauel ist fest entschlossen, das zu
       tun. „Wir rütteln am Tor und holen die da raus. Wir lassen nicht zu, dass
       heute wieder das Gleiche passiert, was man uns damals angetan hat.“
       
       Die Heimkinder Ost sind auch deswegen so wütend, weil ihre Geschichte nie
       richtig aufgearbeitet wurde. Es gab einen runden Tisch für die Heimkinder
       West, der die Vergehen in den Heimen der jungen Bundesrepublik systematisch
       aufklärte. Für die Heimkinder Ost gibt es nur die Berichte über den
       grausamen Jugendwerkhof Torgau und eine Expertise „Aufarbeitung der
       Heimerziehung in der DDR“, der die Heimkinder aber skeptisch
       gegenüberstehen.
       
       „Die wollten unser Problem schnell-schnell beim runden Tisch Westheime
       miterledigen“, sagt Norda Krauel. „Aber wir wollen endlich eine gründliche
       Aufarbeitung, bei der wir Betroffenen umfassend aussagen können. Das
       Schicksal der Kinder in den Hunderten Spezialheimen der DDR muss aufgeklärt
       werden.“
       
       Die ehemalige Unabhängige Beauftragte gegen sexuellen Kindesmissbrauch,
       Christine Bergmann, unterstützt die Haltung der Opfer. „Ich habe viele
       erschütternde Berichte von Frauen und Männern gehört, die in Ostheimen bis
       1990 schlimmster Willkür ausgesetzt waren. Aus Angst vor Diskriminierung
       können sie immer noch nicht darüber sprechen. Dieses Unrecht muss dringend
       aufgearbeitet werden. Die Betroffenen haben einen Anspruch auf Anerkennung
       ihres Leidens“, sagte Bergmann der taz.
       
       ## Odysee durch die Bürokratie
       
       Es sind Menschen, die kein Wort herausbringen und stattdessen zu weinen
       beginnen. Die von der Bürokratie getriezt werden. Die sich von den als
       Jugendliche erlittenen Qualen nie erholt haben und unter dem Stigma leiden.
       „Wer im Jugendwerkhof war, der ist in den Augen der Ostler noch heute ein
       Asozialer“, sagt Krauel.
       
       Dabei sind ihre Geschichten oft vollkommen harmlos. Nicole A. hat sich
       einfach anders angezogen und benommen als andere Kinder. Sie ordnete sich
       nicht dem Einheitsdrill der Jugenderziehung unter. Eines Tages wurde sie am
       Alexanderplatz festgesetzt, weil sie zu viel mit Punks abhing. Wegen
       „Gefahr der sozialen Verwahrlosung“ wurde sie in ein Heim verbracht.
       
       Norda Krauels Weg begann mit herausragenden Noten und einer der wenige
       Lehrstellen als Buchhändlerin. Doch als die DDR-Behörden merken, dass
       Krauels Vater Republikflüchtling ist und ihre Mutter Wahlen boykottiert,
       verweigern sie dem Mädchen ihren Traumberuf. „Ja, und dann habe ich ein
       paar Fehler in meinem Leben gemacht“, erzählt Krauel. Sie zog zu ihrem
       Onkel, einem Stasi-Beamten, weil sie sich Hilfe von ihm erwartete. Als er
       sie missbrauchte, zeigte sie ihn an. „Dann bin ich in den Heimen
       verschwunden, und als ich rauskam, war ich – nichts.“
       
       ## Hört sich nach Guantánamo an
       
       Krauels Heimgeschichte hört sich ein bisschen mehr nach Guantánamo an, als
       man sich eingestehen will. Dazu gehören Verhör- und Erniedrigungsmethoden
       in den DDR-Heimen, die sich wie Folter anfühlen. „Das sehen die Gerichte
       bislang aber anders.“ Die Maßnahmen seien nicht politisch und nicht
       sachfremd, sondern eine Erziehungsmaßnahme gewesen, zitiert Krauel das
       Gericht. Und macht klar, dass sie sich damit nicht zufriedengibt. „Ich bin
       vors Verfassungsgericht gezogen, und die Klage ist angenommen worden.“
       
       Jede einzelne Verfolgungs- und Entschädigungsgeschichte der Heimkinder
       gleicht einer Odyssee durch die Bürokratie. Die einen quälten und
       erniedrigten so gründlich wie systematisch, die anderen verlangen penible
       Nachweise. Nicole A. und Norda Krauel sind zwei starke Frauen. Sie haben
       eigene Opfervereine gegründet. „Wir sammeln die ein, die gar nicht mehr
       können“, erzählt A. „Es gibt viele Heimkinder, die schaffen die Anträge
       einfach nicht.“ Krauel sagt: „Viele Heimkinder können nicht mal mit dem
       Partner über ihre Geschichte reden. Und jetzt sollen sie vor Behörden in
       zwei, drei Sätzen mal eben schildern, was sie erlitten haben?“
       
       Aus der Zwickmühle eines solchen verpfuschten Lebens gibt es nicht viele
       Auswege. Öffentliche Aufklärung, Therapie und Entschädigung heißt der gute,
       aber dornenreiche. Der schlechte ist, an seine unverarbeiteten Verletzungen
       erinnert zu werden. „Als Haasenburg in den Zeitungen stand, hat das viele
       von uns retraumatisiert“, sagt Norda Krauel. „Jetzt läuft der Film wieder.“
       
       1 Aug 2013
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Füller
       
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