# taz.de -- Kinofilm zur Bildung: Die neuen Schulverächter
       
       > Erst Richard David Precht, jetzt der Film „Alphabet“: Kritik an der
       > Schule als Abrichtungsanstalt ist en vogue. Die Argumente sind dabei oft
       > absurd.
       
 (IMG) Bild: Sobald Kinder in die Schule kommen, geht es geistig bergab mit ihnen. Das suggeriert zumindest der Film „Alphabet“.
       
       Ausgerechnet am Pisa-Vorzeigeland China soll sich also zeigen, welch
       düstere Zukunft uns droht. Die Kamera zeigt Qu Pei, elf Jahre alt, bei
       seinem Nachhilfelehrer, wie er Flächeninhalte berechnet. Die Kamera zeigt
       die Stille beim Vorentscheid zur internationalen Mathematik-Olympiade. Und
       dann sehen wir, wie Qu Pei im Schulbus sitzt und ihm die Augen zufallen.
       
       Aus dem Off darf ein Pekinger Pädagogik-Professor über Leistungsdruck und
       Gleichförmigkeit in Chinas Schulen klagen. „Die Mathematik-Olympiade ist
       ein Desaster für die Jugendlichen“, sagt er, während wir die Teilnehmer auf
       ihren Bleistiften kauen sehen. „In manchen Kindergärten bekommen die Kinder
       sogar schon Hausaufgaben. An diesem Punkt sind wir angelangt.“
       
       Seit vergangener Woche läuft der Dokumentarfilm „Alphabet“ des
       Österreichers Erwin Wagenhofer in den Kinos – und befeuert mit Szenen wie
       diesen eine Schulverachtung, die sich hierzulande schon länger breitmacht.
       Einmal mehr lautet die schlichte wie falsche Botschaft: Die Schule, wie wir
       sie kennen, deformiert den Menschen. Sie drillt und dressiert, erstickt
       Potenziale, zwingt Kinder in einen unheilvollen Wettbewerb und macht nicht
       klüger und glücklicher, sondern im Zweifel dumm und einfallslos. Die Schule
       steht der wahren, schönen, guten Bildung im Weg, wie auch immer man sich
       die jenseits wolkiger Beschwörungsformeln konkret vorstellen muss. Schule
       ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Nicht nur in China, auch bei
       uns.
       
       Um diese Verschwörungsthese zu belegen, reiht Wagenhofer Einzelbeispiele,
       die ziemlich wenig gemeinsam haben. Er porträtiert etwa den Franzosen André
       Stern, der nie eine Schule besuchte und trotzdem Gitarrenbauer, Musiker und
       Buchautor geworden ist. Ein beeindruckender Autodidakt, zweifellos. Aber
       Wagenhofer suggeriert, dass solcherlei Einzelfälle tatsächlich als Muster
       für alle taugen könnten – für Bildungsbürgerkinder ebenso wie für
       Neuköllner Migrantenjungen ohne Bibliothek im Elternhaus.
       
       Wagenhofer begleitet einen Dortmunder Hauptschulabgänger, der keinen
       Ausbildungsplatz findet. Ein Bildungsproblem, das alle Aufmerksamkeit
       verdient. Aber will uns Wagenhofer damit ernsthaft weismachen, dass dieser
       junge Mann ohne Schulbildung bessere Chancen hätte?
       
       ## "Sie können keinen Menschen bilden"
       
       Wo so viele windige Thesen in den Raum gestellt werden, darf der
       Neurobiologe Gerald Hüther nicht fehlen, der Kronzeuge aller neuen
       Schulkritiker. Der Film zeigt ihn bei einem Vortrag vor einem gut gefüllten
       Saal. Man hat den Eindruck: lauter Mittelschichtseltern auf
       Bestätigungssuche. „Sie können keinen Menschen bilden. Hirntechnisch geht
       das nicht“, erklärt ihnen Hüther. „Der kann sich nur selber bilden.“ Hüther
       geriert sich als Prediger einer neuen Zeit, und am Ende lässt der Applaus
       den Saal beben.
       
       Dass Hüthers wissenschaftliche Meriten eher bescheiden ausfallen,
       verschweigt der Film. In der psychiatrischen Abteilung der
       Universitätsmedizin Göttingen führt Hüther keinen Lehrstuhl, sondern ist
       einer von rund 30 wissenschaftlichen Mitarbeitern. Am Göttinger
       Exzellenzcluster in den Neurowissenschaften ist er nicht einmal beteiligt.
       Eine Koryphäe ihres Fachs stellt man sich jedenfalls anders vor.
       
       Dafür darf Hüther im Film seine zweifelhaften Thesen der
       „Abrichtungsschule“ vertreten, die für Angst, Krieg und Elend
       verantwortlich sein soll, ohne dass er dabei eine kritische Einordnung
       fürchten müsste. Und nicht nur er.
       
       So erfahren wir im Film von einem Test über „unangepasstes Denken“, bei dem
       nahezu alle Kleinkinder die Stufe „genial“ erreichen – aber kaum noch
       jemand, der die Schule besucht hat. Näher erklärt wird dieser Test nicht,
       auch über seinen wissenschaftlichen Stellenwert schweigt Wagenhofer.
       Schade, denn die Intelligenzforschung erzählt eine andere Geschichte: Jedes
       zusätzliche Schuljahr bringt mehr Punkte beim IQ. Die Intelligenz fällt
       nicht etwa von Generation zu Generation, sondern steigt tendenziell. Wir
       werden klüger, dank der Schule und trotz all ihrer Probleme. Aber das passt
       wiederum nicht zur leidenschaftlichen Generalabrechnung.
       
       ## Meisterdenker mit Argumentationsschwäche
       
       Die diffuse Grundsätzlichkeit ist ohnehin ein Merkmal aller neuen
       Schulkritiker. Der Philosoph Richard Davids Precht fordert in seinem Buch
       „Anna, die Schule und der liebe Gott“ nichts weniger als eine
       „Bildungsrevolution“ – wohin und warum revoltiert werden soll, bleibt
       schwammig.
       
       Mal bemüht Precht dazu die Pisa-Studie, die die Ungerechtigkeit unseres
       Schulsystems bewusst machte. Dann geißelt er dieselbe Erhebung als Ausdruck
       eines seelenlosen Test- und Messwahns. Mal ist die Ausrichtung der Bildung
       auf die Erfordernisse des Arbeitsmarktes, ihre Ökonomisierung der große
       Sündenfall. Dann wiederum führt Precht die Herausforderungen einer modernen
       Dienstleistungsökonomie dafür an, warum die Schule statt Faktenwissen
       Sozialkompetenzen, Persönlichkeit, Teamfähigkeit vermitteln soll. Um wie
       viel perfider die Verwertungslogik damit wird, fällt ihm gar nicht auf. Und
       dass solcherlei Argumentationsopportunismus umso unredlicher wird, je
       grundsätzlicher die Kritik ausfallen soll, muss der Meisterdenker übersehen
       haben.
       
       Am Ende steht immer nur ein schwammiges Plädoyer für ein irgendwie freieres
       Lernen, das allenfalls noch reformorientierte Privatschulen anbieten. Dass
       eine solche Pädagogik vor allem dem Nachwuchs des Bürgertums nutzt und die
       Ungleichheit der Bildungschancen womöglich eher vergrößert, wird nicht
       weiter gesehen. Warum auch? Die staatliche Bildungspolitik erklären die
       Schulkritiker dagegen in teils offener Verachtung für gescheitert.
       
       Die Initiative „Schulen in Aufbruch“ etwa, für die unter anderem Hüther
       durch die Republik tourt, geriert sich als APO der Bildungspolitik, als
       Träger eines Wandels von unten. Die Kultusminister, so die unterschwellige
       Botschaft, könnten das Bildungssystem eben nicht fit fürs 21. Jahrhundert
       machen. Es ist eine Kritik, die auf den Bauch zielt. Klüger macht sie nicht
       gerade.
       
       6 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Kramer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Film
 (DIR) Schule
 (DIR) Richard David Precht
 (DIR) Bildung
 (DIR) Migranten
 (DIR) Universität
 (DIR) Gehirn
 (DIR) Intellektuelle
 (DIR) Intellektuelle
 (DIR) Reformpädagogik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Diskriminierung an Berlins Schulen: Schluss mit dem Hundegebell
       
       In Berlin fand am Freitag das erste große Symposium über ethnische
       Diskriminierung an Schulen statt. Berichte von Ausgrenzungserfahrungen gab
       es zuhauf.
       
 (DIR) Schule: Die Vielfalt muss ins Mathebuch
       
       An der Nürtingen-Grundschule in Kreuzberg will man mithilfe des
       Bundesmodellprojekts "Nürtikulti" Diskriminierung überwinden. Dazulernen
       können dabei alle Beteiligten.
       
 (DIR) Baustelle Hochschule: Neues Semester, alte Probleme
       
       Wenig Bafög, keine Wohnungen und knappe Studienplätze. Die taz erklärt,
       worum sich eine neue Regierung dringend kümmern muss.
       
 (DIR) Lehrerstreik: Die Kampfeslust stirbt zuletzt
       
       Erneut gehen angestellte Lehrer für eine bessere Bezahlung auf die Straße.
       Der Arbeitskampf zerrt inzwischen an den Nerven.
       
 (DIR) Ganz schön plastisch: „Das Gehirn ist nie fertig“
       
       Verhaltens- und Denkmuster lassen sich noch im hohen Alter ändern, sagt der
       Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther.
       
 (DIR) Intellektuelle in Deutschland: Lieber ins Weite denken
       
       Worin besteht der Job der Philosophen? Eine Erwiderung auf den taz-Artikel
       gegen Adorno und für Richard David Precht.
       
 (DIR) Philosophie für alle: Popstar Precht
       
       Früher hatten wir Adorno, Böll, Arendt. Heute talkt der
       „Lifestyle-Philosoph“ Richard David Precht im Fernsehen. Wo sind bloß
       unsere Intellektuellen?
       
 (DIR) Buch über Reformpädagogik: Wo bin ich da gelandet?
       
       Verstrahlt die Reformpädagogik die demokratischen Graswurzelschulen? Sie
       muss sich in jedem Fall kritisch mit ihren Wurzeln auseinandersetzen.
       
 (DIR) Initiative „Schule im Aufbruch“: Selbst sind die Schüler
       
       Frei und selbstbestimmt sollen Kinder und Jugendliche lernen, fordert die
       Promi-Initiative „Schule im Aufbruch“. Doch wie das Geschehen soll, bleibt
       vage.