# taz.de -- Armut in Deutschland: Die Ärztin der Armen
       
       > Zu Besuch bei Jenny De la Torre Castro in Berlin-Mitte. Die Ärztin hat
       > dort ein Gesundheitszentrum für Obdachlose aufgebaut.
       
 (IMG) Bild: Dr. Jenny De la Torre
       
       Dieses Portrait der Berliner Obdachlosenärztin Jenny de la Torre erschien
       erstmals im Jahr 2013. [1][Am 10. Juni 2025 ist sie nach schwerer Krankheit
       gestorben.] Wir veröffentlichen den Text daher erneut. 
       
       OFW ist das Verwaltungskürzel für „ohne festen Wohnsitz“. Die Zahl der
       Betroffenen ist nicht bestimmbar, sie steigt stetig, eine
       Obdachlosenstatistik gibt es nicht. Für 2013 wird von schätzungsweise
       300.000 Wohnungs- und Obdachlosen deutschlandweit ausgegangen. In Berlin
       gibt es geschätzte 10.000 Wohnungs- und Obdachlose, ein Teil von ihnen lebt
       in extremer Armut auf der Straße, darunter zunehmend Armutsmigranten aus
       Osteuropa.
       
       In Berlin stehen in der kalten Jahreszeit jedoch nur knapp 500 von der
       Stadt finanzierte Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Diese
       Nachtquartiere für Männer und Frauen bieten in der Regel Übernachtung auf
       dem Fußboden, auf eng nebeneinanderliegenden Isomatten. Sie sind regelmäßig
       überfüllt.
       
       Wer es nicht erträgt, in solchen Massenquartieren zu schlafen oder kein
       Unterkommen für die Nacht ergattern kann, dem bleiben nur die Kältebusse
       der karitativen Einrichtungen, aus denen Sozialarbeiter nachts Schlafsäcke,
       Decken, heißen Tee und Suppen an die Obdachlosen auf der Straße verteilen.
       Die Chance, durch den permanenten Stress des kräfteverzehrenden täglichen
       Existenzkampfes chronisch krank zu werden, sich Erfrierungen zuzuziehen
       oder Schlimmeres, die ist groß. Jeden Winter erfrieren in deutschen Städten
       Obdachlose, das gehört schon zur Normalität.
       
       In der Pflugstraße in Berlin-Mitte, einer kleinen Parallelstraße der
       Chausseestraße, steht ein schön gegliedertes dreigeschossiges
       Backsteinhaus, mit Hof, alten Bäumen und Garten im hinteren Teil des
       Grundstücks. In diesem ehemaligen Schulgebäude von 1890 befindet sich heute
       das privat betriebene Gesundheitszentrum für Obdachlose von Jenny De la
       Torre. Es bietet Wohnungs- und Obdachlosen montags bis freitags von 8 bis
       15 Uhr kostenlose medizinische und darüber hinaus umfangreiche
       interdisziplinäre Hilfe an.
       
       ## „Es soll nicht kalt wirken“
       
       Jenny De la Torre ist keine reiche Erbin und sie ist auch keine besoldete
       Armenärztin. Sie hat sich in das unwägbare Abenteuer gestürzt, ihr Projekt
       mit Hilfe von Spenden und engagierten Helferinnen und Helfern eigenständig
       zu realisieren. Seit 7 Jahren mit Erfolg. Inzwischen verfügt sie über eine
       mehr als 20 Jahre umfassende Erfahrung als Armenärztin, ihre
       Obdachlosenarbeit hat in Deutschland Maßstäbe gesetzt.
       
       Vor 9 Jahren waren wir, Elisabeth Kmölniger und ich, schon einmal hier,
       auch um 8 Uhr morgens. Damals war alles noch in der Renovierungsphase.
       
       Frau Dr. De la Torre empfängt uns mit festem Händedruck, frisch und munter
       im weißen Kittel, ihre Augen glänzen unternehmungslustig. Sie zeigt uns
       kurz das Haus, öffnet die Türen zu den noch leeren Behandlungs- und
       Aufenthaltsräumen und freut sich über unser Lob der Möblierung und der
       zarten Wandfarben. „Die Möbel hat uns das Hotel Mariott gespendet und
       Farben für die Wände habe ich selbst ausgesucht, es sollte nichts kalt
       wirken hier“, sagt unsere Gastgeberin und führt uns in ihre Ordination. Wir
       möchten gerne wissen, wie sich das Gesundheitszentrum entwickelt hat seit
       der Eröffnung 2006.
       
       ## Unabhängigkeit bewahren
       
       „Wir hatten das Haus hier für 10 Jahre mit Nutzungsvertrag bekommen,
       ursprünglich, wir haben es gründlich renoviert mit Spenden- und
       Stiftungsgeldern und nach 4 Jahren hat die De la Torre-Stiftung dann das
       Haus unerwartet erwerben können, das hat sich glücklicherweise so ergeben.
       Es war sinnvoll gewesen, das Haus zu kaufen, weil da jetzt ganz viele
       Menschen was davon haben, nicht nur die Obdachlosen, auch die Mitarbeiter,
       die hier fest angestellt sind, und unsere ehrenamtlichen Kollegen, die bei
       uns im Haus was Sinnvolles machen wollen.
       
       Wir sind unabhängig, müssen nicht mehr befürchten, dass man uns raussetzt,
       die Mittel kürzt, die Stundenzahl halbiert oder die Stellen streicht. Das
       habe ich alles hinter mir! Wir haben alles aus eigenen Mitteln und Spenden
       bezahlt, weil wir keine Schulden machen wollten. Nie im Leben! Auch privat
       nicht, Schulden sind für mich ein rotes Tuch!
       
       Wir haben heute acht fest eingestellte Mitarbeiter, eine davon bin ich.“
       Sie lächelt. „Ich bin genauso angestellt wie alle. Die anderen Ärzte
       allerdings, die sind alle ehrenamtlich. Also wir haben neben der Arztpraxis
       eine Zahnarztpraxis, denn es gibt enorme Zahnprobleme, eine Augenärztin
       haben wir – Augen ist auch sehr wichtig, weil ohne Brille die Leute
       teilweise nicht mehr lesen können. Dann gibt es Hautärzte, Orthopäden, eine
       Psychologin, die Sozialarbeiterin, vier Rechtsanwälte – zwei kommen
       regelmäßig her – und dann haben wir noch Frau Winter, die Friseuse, die
       einmal wöchentlich kommt, und zwei Gärtner kommen auch ehrenamtlich.
       
       Wir versuchen, unseren Besuchern so viel wie möglich anzubieten. Natürlich
       haben wir auch eine Suppenküche. Wir kochen aber nicht selbst, das Essen
       wird uns angeliefert von der Kiez-Küche hier in der Nähe, wir geben es nur
       aus. Einmal in der Woche kommt die ’Tafel' und bringt Joghurt, Quark,
       frisches Obst, das wird hier in der Küche schön zurechtgemacht, also wir
       haben einen super Koch. Wir können viel bieten. Es gibt Tageszeitungen,
       Bücher und die Möglichkeit, Musik zu hören.
       
       ## Frauen brauchen Tampons
       
       Was wir nicht haben, ist eine öffentliche Waschmaschine, weil die Sachen,
       die hier ausgezogen werden, die können Sie echt nicht mehr waschen, die
       kann man nur noch entsorgen. Das zu waschen, zu desinfizieren, würde so
       viel an Zeit und Personal kosten – das geht einfach nicht. Wir haben eine
       sehr gut sortierte Kleiderkammer, da bekommt derjenige problemlos frische
       Wäsche und Kleidung, Schuhe, alles. Für die Frauen gibt es auch Tampons und
       Binden, Frauen brauchen so was.
       
       Mit den hygienischen Einrichtungen ist es so: Wir haben zwar Duschen für
       Männer und Frauen, aber die sind in erster Linie für Patienten, also für
       die, die krank sind. Das Problem ist nämlich, wenn jetzt 30 oder sogar 50
       Leute kommen und die alle duschen wollen, dann geht das schon rein
       technisch nicht. Jeder braucht ungefähr eine Stunde, mit ausziehen,
       duschen, anziehen. Bei manchen muss man auch noch ein paarmal klopfen – ich
       kann’s ja verstehen, dass sie das heiße Wasser so lange wie möglich
       genießen möchten, aber oft herrscht Andrang und es gibt ein bisschen Radau
       draußen. Und es muss die Dusche von uns nach jedem, der sie benutzt hat,
       sorgfältig desinfiziert werden, damit der nächste sich keinen Fußpilz oder
       sonst was einfängt. Das muss 10 Minuten einwirken. Deshalb machen wir es
       so: Wenn keine Patienten da sind und es nicht zu viele sind, dann können
       die anderen natürlich auch duschen. Wenn Patienten da sind, dann nicht.
       
       Es ist ja ein Gesundheitszentrum. Schwerpunkt ist hier die Hilfe für
       Kranke. Aber wir sehen uns natürlich auch die anderen Probleme an, denn
       auch die müssen berücksichtigt werden. Und es sind ja nicht nur körperliche
       Krankheiten, mit denen die Patienten kommen, sondern auch seelische. Sie
       haben Süchte. Sie sind teilweise auch psychisch ziemlich krank. Und sie
       haben rechtliche Probleme, viele haben Schulden, haben soziale Probleme,
       Konflikte mit der Polizei, dem Ordnungsamt, Konflikte mit der Familie, oder
       gar keinen Kontakt mehr. Und das meine ich mit ’sozialen Krankheiten', sie
       leiden an einer sozialen Krankheit.
       
       Wenn man das nicht berücksichtigt – also wenn man den Menschen nicht in
       seiner Gesamtheit wahrnimmt –, dann können wir ihm kaum helfen. Ich kann
       zwar immer wieder seine Wunden heilen, seine Krankheiten behandeln, die er
       von der Straße mitbringt, aber oberstes Ziel unserer Arbeit hier ist die
       Reintegration. Ich will, dass die Leute weg von der Straße kommen! Und da
       gehört eben alles dazu, medizinische Versorgung, Hygiene gehört dazu,
       Kleidung, Essen, soziale Beratung, juristische Beratung.
       
       ## Versicherung hat keiner
       
       Viele haben keinerlei Papiere mehr. Ein Ausweis ist ja das Erste. Aber ohne
       Fotos kein Ausweis, ohne Ausweis kein Hartz IV und nichts. Wir haben hier
       im Haus die Möglichkeit, Passfotos zu machen, ein ehemaliger Fotograf macht
       das ehrenamtlich. Und es gibt Stellen, wo sich Obdachlose pro forma
       polizeilich anmelden können. Wenn diese Hürde genommen ist, dann ist ein
       wichtiger Schritt gemacht. Darum geht es!
       
       Ich habe mich entschieden, diese Arbeit zu machen, denn man kann nicht
       warten, bis irgendwas geregelt wird. Die Leute sind ja da und sie brauchen
       diese Hilfe und sie brauchen sie jetzt! Im Winter wird es wieder ganz
       besonders hart für die Obdachlosen. Viele werden krank, laufen herum mit
       Fieber, schlafen nachts irgendwo draußen in der Kälte und dabei gehören sie
       doch ins Bett, um gesund zu werden. Eine Krankenversicherung hat keiner.
       Manchmal werden uns die Leute direkt von den Behörden geschickt, wenn zum
       Beispiel einer gerade seinen Antrag gestellt hat auf Arbeitslosengeld, aber
       bis das genehmigt ist, vergehen 5 bis 6 Wochen und so lange ist er nicht
       krankenversichert.
       
       Wir kümmern uns natürlich auch um die, aber darin sehe ich eigentlich nicht
       meine Aufgabe. Wenn ich mich jetzt ärgern würde, würde ich aber viel zu
       viel Energie nur dafür verbrauchen. Ich konzentriere mich lieber auf meine
       Patienten, auf den Menschen, den ich vor mir sehe. Und ich versuche, ihm
       auch ein bisschen Optimismus zu vermitteln, denn wenn ich immer nur
       herumschimpfen würde, über das, was alles schiefläuft draußen, dann baut
       ihn das auch nicht auf. Dann verkriecht er sich vielleicht noch mehr.
       
       Also hierher kommen Leute, die Probleme mit ihrer Gesundheit haben und
       viele andere Probleme, die sich ein Mensch, der das nicht kennt, gar nicht
       so richtig vorstellen kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal kommt, dann
       wird er ganz normal aufgenommen. Es kommt zum Beispiel ein Herr Müller und
       sagt: ’Ich möchte hier eigentlich nur in die Kleiderkammer und ein bisschen
       Essen, ich bin obdachlos geworden vor ein paar Wochen und weiß nicht, was
       ich machen soll, man hat mir den Ausweis geklaut, außerdem habe ich keine
       Krankenversicherung und ich fühle mich schlecht, habe da und dort
       Schmerzen.'
       
       ## Flaschen sammeln
       
       Da müssen wir erst mal ganz am Anfang anfangen mit dem Herrn Müller,
       fragen, wann war er zum letzten Mal beim Arzt, wann und weshalb ist er
       obdachlos geworden, wo wird geschlafen, bei Bekannten, draußen oder in
       Obdachlosenunterkünften, wovon lebt er, Flaschen sammeln, betteln,
       Suppenküchen, was hat er gearbeitet vorher – manche haben Anspruch auf
       Hartz IV, haben aber nie einen Antrag gestellt –, welche Schulbildung hat
       er, ist oder war er verheiratet, gibt es Kinder? Wenn ich ein ungefähres
       Bild von diesem Menschen habe, dann können wir einen Plan machen, wie wir
       ihm auch sozial helfen können.
       
       Wenn Herr Müller aber seine Geschichte nicht erzählen möchte, lieber anonym
       bleiben will, dann kann er das natürlich. Er muss sich aber einen Namen
       ausdenken für meine Unterlagen, weil ich mein ärztliches Handeln ja
       aufschreiben muss, Sachen wie: Hat Penicillin bekommen usw. Eine Frau war
       da, die hat sich ’Regenbogen' genannt, eine andere wollte gerne ’Mütze'
       heißen. Ich sage, von mir aus, Hauptsache beim nächsten Kontakt wissen Sie
       es noch.
       
       ## Zeit und Geduld
       
       Die meisten geben aber Auskunft über sich. Wenn ich erfahre, der ist erst
       relativ kurz obdachlos, dann kann ich ihm ganz anders helfen als einem, der
       seit 15 Jahren auf der Straße lebt. So ein langjährig Obdachloser braucht
       viel Zeit und Geduld, er ist kaum noch in der Lage, sich mit Behörden
       auseinanderzusetzen. Sie haben sich damit abgefunden, auf der Straße zu
       leben und sind damit rund um die Uhr beschäftigt. Die Sozialanamnese ist
       für mich wichtig, denn nur so weiß ich, was jemand neben einer
       medizinischen Betreuung noch braucht.
       
       Bei der medizinischen Anamnese, da sind die wichtigsten Fragen: Hepatitis,
       HIV, Tuberkulose, Syphilis, das sind ja alles meldepflichtige Krankheiten.
       
       Einige Patienten sind drogenabhängig. Ich mache so eine Grunduntersuchung:
       Diabetes, Bluthochdruck, Sauerstoff und lasse mir schildern, was er für
       Beschwerden hat. Alles, was ich hier ambulant für ihn tun kann, wird dann
       gemacht. Zum Röntgen usw. schicke ich ihn zum Gesundheitsamt. Oft gibt es
       auch Probleme mit den Zähnen, dann schicke ich ihn in unsere
       Zahnarztpraxis, viele haben auch Schwierigkeiten mit dem Sehen, die können
       dann zu unserer Augenärztin gehen, die auch eine Brillensammlung hat aus
       Spenden. Wir bieten den Patienten auch noch das und das an: Wenn es
       Probleme mit der Justiz gibt, wir haben auch Rechtsanwälte – mancher hat
       ’ne Flasche oder Lebensmittel mitgehen lassen, viele haben Schulden, weil
       sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt wurden, und Angst haben vor
       der Haftanstalt.
       
       Wir haben eine Sozialarbeiterin, die ihnen hilft, die kann sofort die Seite
       ausdrucken – man kann ja jetzt fast alle Formulare aus dem Internet holen
       –, sofort ausfüllen und, zack, zum Amt damit. Technisch ist das gar kein
       Problem. Wenn einer total Angst hat, da alleine hinzugehen, dann geht sie
       mit. Aber wir überschütten die Leute natürlich nicht gleich mit Hilfe, um
       Gottes Willen, sie sollen auch mal zur Ruhe kommen. Ich sage, gehen Sie
       erst mal nach oben essen und in die Kleiderkammer, wenn Sie etwas brauchen.
       Ich habe täglich die Praxis offen von 8 bis 15 Uhr, und Frühstück gibt es
       täglich schon ab 8.30 Uhr, bis 14 Uhr ist die Küche offen.
       
       ## Ein Jahr Zeit
       
       Ich achte aber darauf, dass die Leute hier nicht endlos obdachlos rein-,
       obdachlos rausgehen. Da können sie genauso gut anderswo essen gehen. Wir
       sind ja in dem Sinne keine Suppenküche. Wir sind zum einen
       Gesundheitszentrum und wollen aber auch, dass die Leute nicht auf der
       Stelle treten, sondern ein bisschen weiterkommen. Wir haben so ein Kärtchen
       eingeführt, mit dem kann jemand einen ganzen Monat lang essen. Und nach
       einem Monat spreche ich mit ihm, frage, wie geht es Ihnen, waren Sie beim
       Amt, was hat sich ergeben, welche Probleme gibt es? Und dann bekommt er
       wieder sein Kärtchen von der Sozialarbeiterin.
       
       Wir lassen den Leuten Zeit. Ein ganzes Jahr. Dann sage ich: okay. Moment
       mal, brauchen Sie unsere Hilfe überhaupt noch? Ich sehe Sie doch jetzt seit
       einem Jahr. Sie sehen immer schlimmer aus. Ich habe den Eindruck, wir
       können Ihnen nicht wirklich helfen. Meistens überlegen sie es sich dann
       doch und unternehmen etwas, um weg von der Straße zu kommen. Wenn wir
       sehen, er kann es schaffen, dann machen wir diesen Druck und helfen nach
       allen Kräften. Aber wenn ich sehe, das wird nix, dann lassen wir die Leute,
       manche haben wir schon seit Jahren hier. Manche sind auch psychisch krank,
       da wäre Druck ganz falsch. Man muss das von Fall zu Fall klären.
       
       Meist sind es ja Männer, die hierher kommen. Voriges Jahr hatte ich 83
       Prozent Männer und 17 Prozent Frauen hier, im Durchschnitt sind es immer so
       80 zu 20 Prozent. Und altersmäßig? Also das geht von 15 bis 80 Jahre
       eigentlich, aber 90 Prozent sind zwischen 30 und Ende 50. Damals am
       Ostbahnhof hatte ich – laut meinen Karten – so um 4 Prozent
       Drogenabhängige, aber heute sind es wesentlich mehr. Die Zahl der
       Alkoholkranken ist natürlich höher, 60 bis 70 Prozent.
       
       Die meisten Patienten hier sind deutsche Staatsbürger, zunehmend kommen
       aber auch Osteuropäer, Rumänen vor allem und Polen. Manche sind komplett
       betrunken. Sie haben teilweise keine Papiere. Wer von ihnen krank wird,
       muss die Behandlung privat bezahlen, EU-Bürger aus Osteuropa haben bisher
       keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die haben große Probleme, sie
       können auch nicht ins Obdachlosenheim, das geht nur mit
       Kostenübernahmeschein und den kriegen sie nicht. Es kamen auch mal Roma,
       die hatten zwar irgendwelche Unterkunft in Moabit, waren aber nicht
       versichert. Da ging’s um Zahnschmerzen. Aber es kommen auch Leute aus
       anderen Nationen, von Griechenland über Afrika bis zu Neuseeland.
       
       ## Armutskrankheiten
       
       Aber die meisten Patienten sind deutscher Herkunft und oft in einem
       schlechten Allgemeinzustand. Unsere Hautärzte sagen oft: ’Also hier sieht
       man Sachen, so was habe ich in meinem ganzen Berufsleben noch nicht
       gesehen. Wunden, Hauterkrankungen, Krätze, richtige Krätze, Parasiten, ja,
       Läuse, alles!' Die Leute haben typische Armutskrankheiten, zum Beispiel die
       sogenannte Schleppe, das ist eine bakterielle Hautkrankheit mit Eiter- und
       Krustenbildung, oft am ganzen Körper bis zum Kopf. Da muss man erst mal
       vollkommen säubern, desinfizieren und behandeln. Und dann gibt es natürlich
       Magenprobleme, Geschwüre durch den ganzen Stress, die schlechte Ernährung,
       Schlaflosigkeit, denn sie können ja nirgendwo ruhig schlafen. Viele sind
       auch schon operiert worden.
       
       Es gibt Lungenerkrankungen – einer kam mal mit einer offenen Tuberkulose,
       ich konnte ihn sofort mit dem Krankentransport einweisen in die Klinik –
       chronische Bronchitis, Asthma. Und dann natürlich Erkrankungen durch
       Alkohol, Bauchspeicheldrüse, Leberzirrhose, klar! Einige fügen sich
       Selbstverletzungen zu, schneiden sich mit Rasierklingen, brennen sich mit
       Zigaretten, junge Mädchen, aber Jungs auch. Es gibt viele Anämien.
       Verletzungen durch Stürze. Es gibt unbehandelte Diabetiker, offene Beine
       und natürlich auch Erfrierungen in jedem Winter. Meistens sind es die
       Zehen. Einer hat seinen Vorfuß dadurch verloren. Alles Krankheiten, die
       direkt mit der schlechten Lebenssituation zu tun haben.
       
       Auch im HNO-Bereich gibt’s vieles: Mittelohrentzündungen, schwere Angina,
       damit kommen sie erst, wenn sie nicht mehr sprechen können.
       Augeninfektionen kommen oft vor. Viele haben Blasenerkrankungen von der
       Kälte, Inkontinenz, Durchfall, was ganz besonders schlimm ist, wenn man
       weder Zugang zu einer Toilette hat noch zu Wasser und frischen Sachen. Als
       ich damals anfing in der Praxis am Ostbahnhof, da habe ich so viele
       verwahrloste Menschen gesehen, wie noch nie zuvor in meinem Leben.
       
       Verwahrlost heißt: Es kommt ein Mensch, der schon von Weitem stinkt, er hat
       ewig die Hose nicht ausgezogen, die Socken sind angewachsen, die Maden
       kommen raus, es regnet Kopf- und Filzläuse, da muss der Pfleger erst mal
       eine Ganzkörperrasur machen, entlausen und alles aufweichen … also so was
       ist schon extrem! Jetzt sehe ich immer noch welche, aber nicht mehr so
       viele. Es gibt inzwischen vier Praxen in Berlin, das wirkt sich aus. Wir
       alle haben in Berlin schon was erreicht. Ein wenig jedenfalls.
       
       ## Spenden erwünscht
       
       Was hat sich geändert in den vergangenen Jahren? Es gibt sehr viele
       Menschen, die nicht obdachlos sind, aber sie haben keine
       Krankenversicherung, waren vielleicht mal selbstständig, zum Beispiel als
       Taxifahrer, und sind dann raus aus der privaten Kasse, weil sie die 600
       Euro nicht mehr zahlen konnten und auch nicht die Hälfte für Bedürftige.“
       (Rund 137.000 nicht krankenversicherte Personen gibt es laut Statistischem
       Bundesamt. Und 150.000 Privatversicherte können ihre Policen nicht mehr
       bezahlen und bleiben die Beiträge schuldig. Anm. G. G.) „Das geschieht seit
       2009, seit es dieses Gesetz gibt zur Versicherungspflicht. Also hier bei
       uns gehören zu den Patienten jetzt auch so 20 Prozent etwa, die normal
       wohnen, aber nicht versichert sind. Eine Frau hat mich mal angerufen und
       gesagt, sie schläft mittlerweile in ihrem Kiosk, weil sie sich nur Miete
       oder Versicherung leisten kann. Auch kleine Rentner, die ihre
       Zusatzmedikamente oder Brille nicht bezahlen können.
       
       Überhaupt kommen zunehmend Patienten, da sage ich: Um Gottes Willen, was
       wollen denn diese Personen hier?! Ich mache das nun schon fast 20 Jahre, am
       Anfang kamen die klassischen Obdachlosen in meine Sprechstunde, arme Leute
       aus der unteren Schicht, inzwischen kommen heute auch Arme aus ehemals
       besseren Verhältnissen, die gebildet sind. Wir hatten schon einen Doktor
       der Pädagogik, einen Architekten, einen Anästhesisten, eine
       Krankenschwester …
       
       Was ich mir wünsche? Na ja, ich wünsche mir, dass wir weiterhin Spenden
       bekommen, damit es weitergehen kann. Von 2006 bis heute haben wir es
       geschafft. Und ich wünsche mir an erster Stelle natürlich, dass wir so
       viele Leute wie möglich von der Straße weg bekommen. Unsere Patienten hier,
       die träumen ja nicht von Palästen oder so. Die sehnen sich nach einem ganz
       einfachen, normalen Leben. Sie wollen nicht unter der Brücke im Park oder
       im Abrisshaus schlafen, und auch nicht mit mehreren anderen in einem Raum,
       wo der eine schnarcht, der andere im Schlaf redet oder nicht schlafen kann.
       Sie wollen ein Zimmer für sich allein, eine kleine Wohnung. Ich sage mir,
       es muss doch möglich sein, dass wir in einem so reichen Land die Leute von
       der Straße holen können?! Ich finde, dass das Problem lösbar ist.
       
       Mein Motiv? Wissen Sie, ich bin in Peru in den Anden aufgewachsen und als
       ich 13 Jahre alt war, zogen wir nach Ica, an die Küste. Dort habe ich zum
       ersten Mal in meinem Leben richtig arme Leute gesehen. Ich war schockiert.
       Ich habe mich immer sehr interessiert für dieses Problem, es hat mich
       empört! Und aus diesem Grund bin ich eigentlich Ärztin geworden. Ich mache
       das hier nicht, um karitativ tätig zu sein, zu missionieren oder zu
       erziehen. Ich möchte den Leuten in ihrer akuten Notlage medizinisch und
       auch mental helfen, und mir geht es darum, sie so zu stärken, dass sie ihr
       gutes Recht wahrnehmen können, als Bürger, die sie nach wie vor sind!“
       
       31 Dec 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nachruf-auf-Jenny-De-La-Torre/!6093787
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Deutschland
 (DIR) Obdachlosigkeit
 (DIR) Jenny de la Torre 
 (DIR) Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Tafel
 (DIR) EU
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Bundesärztekammer
 (DIR) Gabriele Goettle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Jenny De La Torre: Die Pionierin
       
       Die Berliner Ärztin Jenny De la Torre engagierte sich unermüdlich für
       obdachlose Menschen. Ihre Stiftung und ein Gesundheitszentrum helfen, wenn
       alle Stricke reißen.
       
 (DIR) Jenny de la Torre gestorben: Obdachlosenärztin im Einsatz für die Ärmsten
       
       Jenny de la Torre setzte sich als Ärztin für die Obdachlosen Berlins ein.
       Ihre Stiftung trauert um ihre Gründerin. Sie stehe für gelebte Solidarität.
       
 (DIR) Antifaschismus in Sachsen: Mit viel Geduld die Pegida bekämpfen
       
       Albrecht von der Lieth, Sprecher des Bündnisses „Nazifrei – Dresden stellt
       sich quer“, erzählt vom Widerstand gegen die Rechten.
       
 (DIR) Soziale Schere treibt Bedürftige zur Tafel: Steigende Nachfrage
       
       Mehr als 900 gemeinnützige Tafeln gibt es bereits in Deutschland. Spenden
       und die „Abfälle“ aus den Supermärkten können Bedarf nicht decken.
       
 (DIR) Kochkurs für Arme: Mit Hartz IV zu den Sternen
       
       Im niedersächsischen Landkreis Rotenburg gibt ein ehemaliger Spitzenkoch
       Kochkurse für Arbeitslose.
       
 (DIR) Medizinische Hilfe für Wohnungslose: Doc Müller
       
       An die 1.600 Patienten hat Martin Müller behandelt. Wohnungslose, Junkies,
       Zuwanderer. „Nicht urteilen, nicht werten“, meint er – und hört nun auf.
       
 (DIR) Fakten zu Sozialleistungen für EU-Bürger: Hartz-IV-Ausschluss, oder nicht?
       
       Die CSU polemisiert und will EU-Bürgern Sozialleistungen in Deutschland
       verweigern. Doch wie ist die Rechtslage? Sechs Fragen und Antworten.
       
 (DIR) Armut in Deutschland: Der Suppenküchenstaat wächst
       
       Der Armutsforscher Christoph Butterwegge erzählt von der Umwandlung des
       Sozialstaats. Er malt ein beunruhigendes Bild unserer gespaltenen
       Gesellschaft.
       
 (DIR) Gesundheit neu gedacht: Die Hoffnung stirbt zuletzt
       
       „Wir hatten die Vision einer besseren Medizin“, erinnert sich Dr. Ellis
       Huber, Ärztekammerpräsident a.D. Unsere Autorin hat ihn in Berlin
       getroffen.
       
 (DIR) Geschichte der Gesundheitsbewegung: Autonomie und Sterbehilfe
       
       Der Medizinhistoriker Gerhard Baader hat die NS-Euthanasie erforscht. Die
       heutigen Debatten um Bioethik und Sterbehilfe sieht er als Gefahr.
       
 (DIR) Boykott jüdischer Geschäfte im NS-Regime: Verraten und verkauft
       
       Moderner Antisemitismus hat verschiedene Ursachen und folgt bestimmten
       Mechanismen – es wird nicht mehr religiös argumentiert. Welche sind das und
       wie wirken sie?