# taz.de -- Boykott jüdischer Geschäfte im NS-Regime: Verraten und verkauft
       
       > Moderner Antisemitismus hat verschiedene Ursachen und folgt bestimmten
       > Mechanismen – es wird nicht mehr religiös argumentiert. Welche sind das
       > und wie wirken sie?
       
 (IMG) Bild: Wichtiges Mittel antisemitischer Propaganda: Männer der SA bei einem Hetzmarsch durch die Straßen von Berlin, Aufnahme von 1938.
       
       "Die Fremdheit der Juden scheint die handlichste Form zu sein, mit der
       Entfremdung der Gesellschaft fertigzuwerden."
       
       Theodor W. Adorno
       
       Dr. Hannah Ahlheim ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an
       der Universität Göttingen. Sie ging in Marburg/Lahn zur Schule, machte 1997
       Abitur und studierte 1997-2002 in Berlin. Ihre Dissertation zum Thema
       "Deutsche, kauft nicht bei Juden. Antisemitismus und politischer Boykott in
       Deutschland 1924 bis 1935" (ausgezeichnet mit dem "Fraenkel Prize in
       Contemporary History" 2009), schloss sie 2008 an der Ruhr-Universität
       Bochum ab. In Planung ist ein Buch über Schlaf und Ökonomie
       (Habilitationsprojekt). Frau Ahlheim wurde 1978 in Frankfurt am Main
       geboren, als Kind von 68er Eltern, die sie überaus schätzt. Der Vater ist
       Professor für Erziehungswissenschaften und politische Bildung, die Mutter
       ist analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. 
       
       Wir leben in Zeiten, in denen eine rassistisch motivierte Mordserie junger
       Neonazis in den Medien in aller Unbefangenheit mit der rassistischen
       Wortschöpfung "Döner-Morde" bezeichnet wird. In denen ein SPD-Mitglied
       ungehindert und folgenlos biologistische und rassistische Thesen verbreiten
       kann und sich öffentlich über Rassemerkmale, Erbanlagen und ökonomische
       Nützlichkeit von türkischen und arabischen Migranten äußern darf: "Es ist
       nämlich zu befürchten, dass sie zur überdurchschnittlichen Vermehrung jener
       bildungsfernen und von Transfers abhängigen Unterschicht beitragen, welche
       die Entwicklungsaussichten Deutschlands verdüstert." ("Deutschland schafft
       sich ab", S. 59) Und: "Wenn sich der Trend fortsetzt, dass die weniger
       Intelligenten mehr Kinder bekommen, dann sinkt die durchschnittliche
       genotypische Intelligenz, also der erbliche Anteil der Intelligenz in der
       Bevölkerung." (Aus dem österreichischen Kurier, 24. 9. 2011).
       
       Der drohende Tonfall schlägt zugleich scharfe bevölkerungspolitische
       Maßnahmen vor und hat rhetorisch bereits eine ausbürgernde Funktion. Sie
       macht die Migranten zu Fremden, die hier nichts zu suchen haben. Am 20.
       Januar sagte der noch amtierende Bundespräsident in seiner Rede zum 70.
       Jahrestag der Wannsee-Konferenz in der Wannseevilla salbungsvoll: "Wir
       werden alles tun, damit Terror und mörderischer Hass auf Fremde und Fremdes
       in Deutschland nie mehr Platz haben." Ihm fiel gar nicht auf, dass die
       jüdischen Mitbürger gar keine "Fremden" waren, sondern erst dazu gemacht
       wurden.
       
       Genau darauf richtet Hannah Ahlheim ihr kritisches Augenmerk. Sie besuchte
       uns Anfang Januar und erzählte uns von ihren Untersuchungen.
       
       "Ich habe Boykottaktionen gegen jüdische Gewerbetreibende und jüdische
       Geschäfte in den 20er und 30er Jahren untersucht. Sie waren ein wichtiges
       Mittel antisemitischer Propaganda. Die Boykottaufrufe trugen als
       Allererstes dazu bei, die Unterscheidung von ,deutsch' und ,jüdisch' im
       Alltag zu etablieren und ihr formuliertes Ziel war der dauerhafte
       Ausschluss von Menschen aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft,
       aufgrund ihres angeblichen Andersseins, ihres Judentums.
       
       ## Die Akten des Centralvereins
       
       Es kam mir auch darauf an, diese Zäsur von 1933 aufzulösen und zu schauen,
       welche Tradition antisemitischer Praktiken es auch schon in der Weimarer
       Zeit gegeben hat. Es gab zwar in vielen Fällen eine Rechtssprechung gegen
       diese Praktiken, aber der Glaube an die Rechtssicherheit für Juden, so der
       Centralverein, brach ja bereits in den 20er Jahren zusammen. Der erste
       große antisemitische Boykott war dann am 1. April 1933. Ich habe mir
       Flugblätter, Pamphlete, Karikaturen, programmatische Schriften und Berichte
       antisemitischer und nationalsozialistischer Herkunft angeschaut. Und ich
       hatte das Glück, diese verloren geglaubten Quellen zu finden, die Akten des
       ,Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens' im Archiv in
       Jerusalem. (Der Centralverein, der 1893 in Berlin gegründet wurde, wurde
       1938 verboten. Anm. G. G.)
       
       Der CV - die größte jüdische Organisation Deutschlands - hatte seit Mitte
       der 20er Jahre Berichte und Material gesammelt über Boykottaktionen,
       Prozessakten, Gerichtsurteile, und es finden sich auch sehr viele Berichte
       und Geschichten, die Alltagssituationen schildern und die Perspektive der
       Betroffenen sehr deutlich zur Geltung kommen lassen. Da wurde mir klar,
       dass man die Wirkung der Boykottaktionen nicht nur daran bemessen kann, ob
       die Geschäfte Verluste machten und wie groß der wirtschaftliche Schaden
       war, sondern die Wirkung darüber nachvollziehen muss, wie die Betroffenen
       das wahrnehmen.
       
       Die antisemitische Aktion hatte als erstes Ziel, ,den Juden' zu definieren,
       ihn zu personifizieren, vermeintlich erkennbar zu machen, in der
       Nachbarschaft zu ,entlarven', zu kennzeichnen. Mit den Boykotten wurde ja
       nicht nur eine Trennlinie zwischen ,Deutschen' und ,Juden' gezogen, sondern
       sie zerstörten auch nachbarschaftliche Strukturen. Es verändert sich ganz
       massiv was am Klima durch diese Fremdwahrnehmung. Besonders in der
       Selbstwahrnehmung der Betroffenen.
       
       Es ist ja ein großer Unterschied, ob man sich als Jude fühlt, oder ob man
       aggressiv als Jude wahrgenommen wird. Man ist nicht mehr unbefangen. Das
       wird sehr deutlich in den Selbstdarstellungen: diese unglaublichen
       Schwierigkeiten, sich selbst zu definieren, jenseits von antisemitischen
       Zuschreibungen. Das fand ich auch sehr frappierend in diesen Dokumenten.
       Das antisemitische Vorurteil ist schon sehr alt, grade auch im
       Wirtschaftsbereich. Da änderte sich aber im 19. Jahrhundert natürlich noch
       mal was. Seit 1871 gab es die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der
       Juden. Und es hatte sich ein neues Wirtschaftssystem etablierte, wo es dann
       auch um Finanzmarkt geht, um Börsen geht, um eine neue Wahrnehmung von
       Strukturen und Abhängigkeiten, die nicht mehr durchschaubar schienen.
       
       ## Moderne und Antisemitismus
       
       Ein ,moderner Antisemitismus' entsteht, der eben nicht mehr vor allem
       religiös motiviert ist. Es ändert sich die antisemitische Wahrnehmung von
       Juden entscheidend, denn das antisemitische Vorurteil verknüpft sich jetzt
       mit dem, was Moderne ist, was Kapitalismus ist. Bereits in den
       1870er/1880er Jahren, mit den ökonomischen Krisen, gab es erste
       Boykottaktionen gegen Juden.
       
       ,Die soziale Frage ist die Judenfrage', so beschrieb Glauchau den
       angeblichen Ursprung der Krise. Er war ein antisemitischer Journalist und
       Schriftsteller, der vor allem über den ,Gründungs- und Werbeschwindel'
       geschrieben hat, also über die Luftblase der Finanzmärkte Ende des 19.
       Jahrhunderts. (Durch die er angeblich große Teile seines Vermögens verlor.
       Anm. G. G.)
       
       Er prägte 1874 den Begriff des ,raffenden Juden'. Gegenübergestellt hat er
       ihm den ,schaffenden Arier', der die gute und rechtschaffene ,deutsche
       Arbeit' verrichtet. Dieses Begriffspaar ,raffend' und ,schaffend' blieb von
       da an ein Hauptbestandteil antisemitischen Denkens und antisemitischer
       Propaganda.
       
       Aber auch Schriften wie Sombarts 1911 erschienener Text ,Die Juden und das
       Wirtschaftsleben' haben das Bild von ,den Juden' nachhaltig geprägt. Die
       Stereotypen vom jüdischen Bankier oder Unternehmer wirken ja auch besonders
       deshalb scheinbar überzeugend, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthalten,
       eben dadurch, dass es so ist, dass die jüdische Minderheit aus
       nachvollziehbaren Gründen in bestimmten Berufen aktiv war. Daraus eine
       besondere Affinität zum Geld abzuleiten, oder gar die Entstehung des
       Kapitalismus, ist abwegig.
       
       ## Verfälschte Erfahrung
       
       ,Nicht die Erfahrung schafft den Begriff des Juden', sagte Sartre, ,sondern
       das Vorurteil fälscht die Erfahrung.' Die Wirkungsmacht des antisemitischen
       Vorurteils ist auch deshalb so stark, weil es eine einfache Erklärung für
       das Unbehagen liefert. Das Gefühl, ausgebeutet zu werden, vermarktet mit
       seiner Arbeitskraft, und dagegen machtlos zu sein, das ist ja ein sehr
       reales Gefühl, das besonders in den 20er Jahren so deutlich wie vorher noch
       nie wurde. Das sind reale Ängste und reale Aggressionen, die die Leute
       hatten.
       
       Nur, dass das Ganze dann auf einen imaginären Feind projiziert wird, der
       aufgrund seines raffgierigen Wesens schuld daran ist, und zwar schuld an
       allem: schuld an Armut, Arbeitslosigkeit, am Verfall der kulturellen Werte,
       an der Weltpolitik. Das Schema einer ,quasi natürlichen
       Unverbesserlichkeit', so nennt es Theodor W. Adorno, sei für den
       Antisemiten weitaus wichtiger als der Inhalt seiner Standardvorwürfe. In
       denen aber wird erst mal alles zusammengepackt und zu einer
       Vorurteilsfantasie ausgemalt.
       
       Es gibt eine Karikatur, die zeigt einen Kopf mit drei Gesichtern, dem eines
       Ostjuden, eines Politikers und eines Börsianers. Das alles, wird
       suggeriert, ist ,der Jude'. Und er ist darüber hinaus nicht nur Bonze,
       sondern auch Kommunist. Auch alles, was sozialdemokratisch ist, zum
       Beispiel Konsumgenossenschaften, oder auch andere Entwürfe, wurde sofort
       als ,jüdisch' gestempelt. Auch die Revolutionäre der Novemberrevolution von
       1918/19, das waren für die Antisemiten alles ,jüdische Sozialisten'. Rosa
       Luxemburg ohnehin, und daraus konstruierte man ,schlagende' Beweise dafür,
       dass das keine Revolution ist, die dem deutschen Nationalismus guttut.
       
       Es geht immer ums Deutsche, das bedroht ist und gehindert wird, so zu sein,
       wie es von Natur aus angeblich ist, was versklavt wird, vom Young-Plan, von
       den Industriemagnaten, von internationalen Finanzkonglomeraten. Aber nicht
       gegen das Konkrete, die Industriemagnaten, das Industriekapital soll sich
       das Volk oder die Volksgemeinschaft auflehnen, sondern gegen das
       undurchschaubare, als jüdisch personifizierte Finanzkapital.
       
       Der Historiker Moishe Postone erklärt es ganz klassisch marxistisch. Beim
       Geld, da geht es natürlich um den Fetischcharakter der Ware, und der Jude
       scheint genau dazu zu passen. Abstrakte Fantasie, in der sich alles
       Konkrete auflöst. Unter dieser Konstruktion verschwanden dann die wahren
       Herrschaftsverhältnisse von der Bildfläche.
       
       Nun will ich auf die Formen des Boykotts kommen, der, das muss ich
       vorausschicken, ursprünglich ein probates und ehrenwertes Mittel gegen ein
       Unrecht war. Der Begriff ,Boykott' stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts,
       vom Arbeitskampf ausgebeuteter irischer Landarbeiter gegen ihren grausamen
       Gutsverwalter namens Boycott.
       
       Zusammen mit den Pächtern, haben sie ihn über Monate hinweg wirtschaftlich
       und gesellschaftlich isoliert. In den USA und auch in Europa wurde der
       Boykott ein verbreitetes und in Teilen auch rechtlich anerkanntes Mittel im
       Arbeitskampf. 1894 gab es in Berlin einen acht Monate dauernden
       Bierboykott: Unter anderem ging es um die Einführung des 1. Mai als
       Ruhetag. Erinnern möchte ich auch an den Montgomery-Busboykott 1955/56,
       angeführt von Martin Luther King, ausgelöst durch eine schwarze Frau, die
       sich auf einen Sitzplatz nur für Weiße gesetzt hatte, das war der Beginn
       der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
       
       Das gute Ansehen dieses Kampfmittels im 19. Jahrhundert jedenfalls haben
       sich die antisemitischen Gruppen dann in den 20er Jahren zunutze gemacht,
       voran die lokalen und wirtschaftlichen Verbände der NSDAP, um mit Boykotten
       ihre Partei und ihre Ideologie zu bewerben. Sie missbrauchten ihn als
       rassistische Ausgrenzungsstrategie und als Instrument der Stigmatisierung.
       
       Als dann nach 1933 der ausgefeilte Propagandaapparat etabliert war, wurden
       die Boykottaktionen anschlussfähig an die Ressentiments in der Bevölkerung
       gemacht. Gleich 1933 gab es einen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte,
       durchgeführt durch die ,Aktionskomitees' der Ortsgruppen.
       
       Wir haben zahlreiche Fotografien dieser und von späteren Aktionen gesehen,
       die sich alle gleichen. Die meisten Leute haben diese Bilder vor Augen, auf
       denen ein bis zwei SA-Männer in Uniform martialisch vor Geschäften stehen
       und irgendwo steht zu lesen: ,Deutsche, kauft nicht bei Juden'. Die Szenen
       sind menschenleer. Das ist spannend, denn es gibt sehr wohl andere Bilder
       von Boykotten, da sieht man Straßenszenen mit Schaulustigen und Passanten.
       
       ## Der Boykott lebt von den Zuschauern
       
       Charakteristisch für die Aktionen war ja gerade das Zusammenkommen von
       Menschenmengen, die sich vor den einzelnen Geschäften sammelten. Denn
       gerade diejenigen, die dabeistehen und gucken, die sind die Wichtigen -
       weil Boykott lebt eben davon, dass man zuguckt und nichts tut.
       
       Boykott ruft ja nicht dazu auf, aktiv zu werden, sondern der sagt, tut
       etwas nicht, geht da nicht rein, kauft da nicht. Das ist eine Forderung,
       die ein Publikum natürlich sehr leicht erfüllen kann. Jeder in der Menge
       der Schaulustigen kennt bereits auch den Grund dafür.
       
       Aber selbst wenn sie keine radikalen Antisemiten sind, sondern nur
       ,harmlose' Neugierige, so waren sie doch zugleich bedrohlich. Auch für die
       Käufer, die durch die Menschenmenge hindurch mussten. Und das ist ein sehr
       wichtiger Punkt, denn ich glaube, dass man Antisemitismus in der
       Gesellschaft nicht versteht, wenn man nur die radikalen Antisemiten
       anschaut. Man muss auch das antisemitische Vorurteil, jenseits eines
       bewusst formulierten oder radikalen antisemitischen Weltbildes mit
       einbeziehen. Denn es reicht ja schon, diese Trennung mitzumachen.
       Zuzuschauen.
       
       Die antisemitischen Aktivisten entwickelten Werbefeldzüge, die mit den
       Begriffen ,deutsch', ,jüdisch' und ,christlich' arbeiteten. Auch Listen
       jüdischer Geschäfte, Flugblätter, Plakate und Klebezettel wurden benutzt,
       um eine ,jüdische' beziehungsweise ,deutsche' Topografie in den Städten
       herzustellen. Es wurden die unterschiedlichsten Mittel eingesetzt, es
       werden Lautsprecheranlagen installiert, Marschmusik wird gespielt und
       dazwischen gibt es Aufrufe an die ,deutsche Hausfrau'. Und dann gab es
       solche Wagen, die durch die Stadt fuhren mit Musik und Transparenten drauf:
       ,Kauft nicht bei Juden'. Es hatte so ein wenig Volksfestcharakter.
       
       Man muss sich die Szenerie vorstellen, besonders in einer kleinen Stadt, wo
       jeder jeden kennt und relativ klar ist, dass jeder, der einkaufen geht, das
       alles hört und sieht - und seinerseits gesehen wird.
       
       In Angst lebten aber vor allem die jüdischen Geschäftsleute und ihre
       Angestellten. Ein Ehepaar zum Beispiel, das einen Zigarrenladen führte,
       wagte nicht, das Geschäft abends zu verlassen, da sie beschimpft wurden,
       als sie aus der Tür treten wollten. Ladeninhaber wurden zum Teil von den
       Schaulustigen bedroht, wenn sie die Bemalung auf ihren Schaufensterscheiben
       entfernen wollten.
       
       Dennoch gab es anfangs noch immer Leute, die trotzdem bei jüdischen
       Kaufleuten einkauften. Im Sommer 1934 beginnt man mit deren Denunziation,
       1935 ist dann der Höhepunkt der Disziplinierungsmaßnahmen gegen solche
       ,deutschen Volksgenossen'. Sie werden fotografiert beim Betreten der
       Geschäfte und die Fotos dieser ,Volksverräter' werden in den Zeitungen oder
       in den Schaukästen des Stürmers veröffentlich mit der Unterzeile: ,Hat bei
       Juden gekauft'.
       
       Das trug natürlich auch dazu bei, die Aufrufe zu befolgen, schon um
       Konflikte zu vermeiden. Selbst bei den Akteuren der Boykotte gibt es
       unterschiedliche Motive oder Mischungen von Motiven. Es gibt die
       fanatischen Antisemiten, und es gibt Leute, die sind zwar in der SA oder
       den NSDAP-Ortsgruppen, zugleich sind sie aber auch Bürgermeister, Lehrer,
       Rechtsanwälte. Einzelne Geschäftsleute waren ebenso aktiv wie Nachbarn und
       ehemaligen Kunden.
       
       Die enge Verbindung von Parteipolitik, lokaler Politik und individueller
       Interessenlage ist ein typisches Muster, das sich in vielen Boykotten
       wiederfindet. Oft waren die Verhältnisse kaum zu durchschauen, da
       verschiedene Interessen im Spiel waren.
       
       Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall von Salomon Liebmann, der in
       Aschaffenburg die Firma M. Liebmann hatte, ein ,Häute-, Därme- und
       Metzgereibedarfsartikelgeschäft'. Er wurde 1934 Ziel einer antisemitischen
       Hetze, in die erstens der Bürgermeister eines anderen Örtchens, zweitens
       die Berufsgenossenschaft der Branche und drittens ein konkurrierender
       Metzger verwickelt waren. Der Metzger wurde von einigen Herren beauftragt,
       der Firma Liebmann Konkurrenz zu machen.
       
       ## Konkurrenz ausschalten
       
       Der Bürgermeister von Amorbach war einer dieser Herren. Er schickte ein
       Rundschreiben an alle Metzger der Gegend, mit der Aufforderung, von der
       Firma Liebmann nichts mehr zu kaufen und ihr nichts mehr zu liefern,
       andernfalls würden sie von den öffentlichen Lieferungen ausgeschlossen. Und
       in einer Sitzung der Häuteverwertungsgenossenschaft, in der fast alle
       Metzger organisiert waren, wurde verkündet, dass die Mitglieder der
       Genossenschaft keine Geschäfte mehr mit der Firma Liebmann machen dürfen.
       Durch solche Aktionen hat man jüdische Gewerbetreibende schnell in den Ruin
       getrieben. (Dieses Amorbach ist übrigens das von Theodor W. Adorno
       zeitlebens überaus geliebte Städtchen, in dem er die Ferien seiner Kindheit
       verbrachte. Anm. G. G.)
       
       Hier gibt es einen direkten Hinweis auf die Ausschaltung eines Konkurrenten
       - das ist ja die These von Götz Aly - und sie spielte sicher auch eine
       wichtige Rolle, aber man kann es darauf nicht einengen. Es erklärt noch
       überhaupt nichts darüber, woher die antisemitischen Stereotype kommen,
       weshalb die antisemitischen Ressentiments einer zunächst kleinen Gruppe in
       nur wenigen Jahren eine so große Verbreitung finden und eine so
       zerstörerische Kraft entfalten konnten.
       
       Aber zurück zu den Boykotten, wo es ja um die öffentliche Stigmatisierung
       ging. Ich wollte noch erzählen, dass es antisemitische Boykottaktionen gab,
       die nicht nur von organisierten Nationalsozialisten in Uniform, sondern
       auch aus der Gesellschaft heraus, ohne übergreifende Lenkung initiiert und
       organisiert worden sind. Es gab sozusagen hobbymäßige Privataktionen. In
       Berlin beispielsweise sind Leute, meist junge Männer, nachts als sogenannte
       Klebepatrouillen durch die Stadt gezogen mit ihrem Leimtopf und haben
       Zettel geklebt und Parolen geschrieben oder ,Jude' aufgemalt auf die
       jüdischen Geschäfte. Und das jede Nacht, immer wieder!
       
       1935, im Juni/Juli, gab es organisiert auftretende antisemitische
       Ausschreitungen in Berlin. Zunächst am Kurfürstendamm, dann in Neukölln und
       Kreuzberg. Es ging gegen Konditoreien und Eisdielen, das ist heute relativ
       unbekannt. Und es waren keine SA-Leute, sondern männliche Jugendliche. Sie
       wurden teils auch gewalttätig gegen die Gäste, zerrten sie raus aus dem
       Geschäft, schlugen einem Kind die Eistüte aus der Hand, demolierten das
       Mobiliar und bedrohten die Besitzer.
       
       Die Polizei hat ermittelt gegen unbekannt und diese Eisdielen wurden dann
       geschlossen, per Dekret, weil man ,für ihre Sicherheit nicht mehr
       garantieren konnte'. Und kaum durften sie wieder öffnen, ging der Terror
       von vorn los.
       
       ## Pfarrer und Lehrer
       
       Eine sehr verbreitete Methode des sozusagen indirekten Boykotts war, dass
       Autoritätspersonen wie Pfarrer oder Lehrer Druck ausübten. In Ostpreußen
       beispielsweise, da war ein Lehrer Braun aktiv, Obmann des
       Nationalsozialistischen Lehrerbundes, der seinen Kollegen und seinen
       Schülern den Einkauf in jüdischen Geschäften ausdrücklich verboten hat und
       der erkundigte sich bei seinen Schülern auch regelmäßig danach, wo ihre
       Eltern einkaufen. Das war ein Lehrer von vielen.
       
       Es gab speziellen Terror zu Weihnachten. Eine Geschichte aus Seddin, der
       Kaufmann hat rührende Briefe geschrieben an den CV. Er schrieb, ich kann
       gar nicht fassen, was mir passiert. Ich lebe seit Jahrzehnten mit meiner
       Familie hier und jetzt plötzlich das! Er hatte einen Weihnachtsbaum im
       Schaufenster und Glocken, wie sich das gehörte zu Weihnachten. Und da kam
       ein Kriminalkommissar und sagte: ,Das ist ein christliches Symbol, das hat
       hier nichts zu suchen!' Er sollte den Weihnachtsbaum entfernen.
       
       Es nutzte dem Kaufmann auch nichts, dass er ein Schreiben vom
       Reichswirtschaftsministerium vorlegen konnte, in dem stand, Juden dürfen
       Weihnachtsbäume aufstellen. Es kam ein Trupp von 15 Männern, die riefen vor
       dem Geschäft: ,Wir fordern die Christenreklame vom Juden heraus!' Eine
       Menge von Schaulustigen bildete sich. Der Kriminalkommissar schritt noch
       mal ein und sagte: ,Wenn sie sich hier nicht weiteren Gefahren aussetzen
       wollen, räumen sie den Baum weg!' Der Kaufmann benutzte dann auf Rat des CV
       Watte als Schnee und solche jahreszeitlichen Dinge. Es gab viele ähnliche
       Vorfälle überall.
       
       Man kann sagen, das ist eine lange Zeit, 1933 bis 1938, bis zur endgültigen
       ,Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben'. Viele sind ja
       zwischen 1933 und 1935 emigriert. Für die, die dablieben, war es ein
       langsames Absinken in immer schlechtere Verhältnisse. Viele nahmen das
       nicht einfach so hin, das zeigen die Dokumente, sie haben sich gewehrt
       gegen die Diskriminierung, mit Anzeigen und Eingaben, meist vergeblich.
       
       Diese ,gesetzlose' Zeit war für die jüdische Bevölkerung bereits so
       erschreckend, dass es sogar jüdische Kaufleute gab, die 1935, nach den
       ,Nürnberger Gesetzen', erst mal dachten, jetzt sind wir in Sicherheit.
       Jetzt geht alles seinen legalen Gang. Weil sie nicht glauben konnten, dass
       das die Legalisierung der Gewalt gegen sie ist, ein weiterer Schritt ,zur
       Lösung der Judenfrage'.
       
       Zudem war die Situation nach den ,Nürnberger Gesetzen' alles andere als
       eindeutig. Wegen der Olympischen Spiele begannen die Nationalsozialisten
       erst Ende 1936 die Enteignung jüdischer Gewerbebetriebe zu planen und zu
       organisieren und erst 1937/38 offen und systematisch in die Tat umzusetzen.
       Es gab eben dieses, wie Marion Kaplan mal sagte, ,Miteinander von Exklusion
       und Normalität', so ein Hin und Her, in dem mancher Hoffnung geschöpft hat.
       
       Von heute aus gesehen ist ja immer diese Frage im Hintergrund, warum sind
       sie eigentlich dageblieben, sie hätten es doch wissen müssen. Aber damals
       hatte kein Betroffener die Vorstellung eines Völkermordes!
       
       Im Anschluss an die Pogromnacht 1938 fingen dann ja auch sofort die ganzen
       Arisierungsprozesse an. Da war es bereits zu spät für die, die 1938, 1939
       noch da waren, nicht rechtzeitig emigrierten. Ich habe mal was gemacht über
       jüdische Konten bei der Commerzbank. Diese ganze Enteignung der Konten, das
       war ja alles gesetzesförmig. Die Banken waren übereifrige
       Erfüllungsgehilfen.
       
       ## Die Reichsfluchtsteuer
       
       Ausreisewillige Juden mussten eine ,Reichsfluchtsteuer' zahlen und ab 1939
       waren das ganze 94 Prozent ihres Vermögens. Das heißt, sie mussten mit 6
       Prozent ihres Vermögens ein neues Leben anfangen, irgendwo im Ausland, was
       für die meisten so gut wie unmöglich war. Das war auch deshalb schon
       unmöglich, weil viele Länder sich weigerten, solche verarmten Einwanderer
       bei sich aufzunehmen.
       
       Es gab Deutsche, die haben ja auch die sogenannte innere Emigration
       gewählt, aber ich habe damit meine Probleme. Weil das Frappierende oder
       Erschreckende am totalitären System ja genau das ist, dass es nichts
       Unpolitisches mehr gibt. Also sogar das Einkaufen ist dann politisch, und
       das muss ja jeder.
       
       Eine erschreckende Erkenntnis ist, dass man seiner nicht sicher sein kann,
       weil man selber ja auch Angst hätte. Deswegen finde ich das auch fatal,
       wenn Leute heute sagen, jetzt hört doch endlich mal auf, immer diese
       Vorwürfe und Schuldzuweisungen an die Deutschen.
       
       Darum geht es ja nicht, sondern es geht darum, die Mechanismen zu
       verstehen. Das Schlimme war auch, dass es eine Empathielosigkeit gab, eine
       unglaubliche gesellschaftliche Kälte. Ich hoffe natürlich, ich hätte die
       Stärke zu sagen, ich mache nicht mit, oder, besser noch, ich mache was
       dagegen. Also das Wollen, das ist da, aber man kann nur hoffen, dass die
       Gesellschaft einen nie in diese Situation bringt."
       
       30 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Armut
       
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