# taz.de -- Medizinische Hilfe für Wohnungslose: Doc Müller
       
       > An die 1.600 Patienten hat Martin Müller behandelt. Wohnungslose,
       > Junkies, Zuwanderer. „Nicht urteilen, nicht werten“, meint er – und hört
       > nun auf.
       
 (IMG) Bild: „Kommen Sie rein – egal wer Sie sind!“ Die Tür von Martin Müllers Praxis stand jedem offen. Ein Nachfolger für ihn ist gefunden.
       
       DORTMUND taz | „Da sind ja Freunde von mir dran erstickt. Wenn du immer das
       Sperma schluckst, also das setzt sich da hinten im Hals fest, da kannst du
       echt dran ersticken. Und die Leute sagen dann: Selbst schuld. Ja, ja, wir
       sind alle ganz schön angeschlagen.“ Das Geld, das beim Anschaffen rumkommt,
       verbrennt sie in ihren Venen. Sie würde gern aufhören. Mit der
       Prostitution, mit dem Heroin.
       
       Die meisten hier würden gern aufhören, morgen oder so. Doc Müller bleibt
       gelassen und freundlich: „Kommen Sie ruhig öfter zu mir rein, dann weiß
       ich, wie es Ihnen geht. Und lassen Sie sich heute nicht verführen!“ Heute,
       antwortet die junge Frau beinahe fröhlich, heute bestehe überhaupt keine
       Gefahr: „Heute muss ich den ganzen Tag Wäsche machen.“
       
       Der Mediziner hat viele solcher Geschichten zwischen Brutalität und
       Banalität gehört in den letzten sechs Jahren, seit er zu dem wurde, was auf
       manchen Briefen an ihn steht: „Obdachlosenarzt Dr. Müller, Dortmund“. Die
       Post kommt an. Er will es den Menschen leicht machen, ihn zu finden, geht
       ihnen so weit wie möglich entgegen. „Aufsuchende medizinische Hilfe“ nennt
       man das.
       
       An zehn Stellen in der Dortmunder Nordstadt klebt Martin Müller
       stundenweise mit Heftpflaster einen Zettel an: „Hier geht’s zum Doc.“ So
       nennen ihn seine Klienten. Er sagt, „Klienten“ klinge neutraler als
       „Patienten“. Die, die zu ihm kommen, sind „nicht praxiskompatibel“, wie es
       auf Behördendeutsch heißt, Menschen, die nicht krankenversichert sind, die
       kein Geld für eine Behandlung oder für Medikamente haben, die nicht schön
       angezogen sind und manchmal nicht gut riechen.
       
       Wohnungslose, Junkies, Alkoholkranke, Zugewanderte aus Bulgarien und
       Rumänien, Menschen, die sich in Hinterhöfen und Toreinfahrten
       prostituieren, seitdem die Stadt Dortmund den Straßenstrich vor drei Jahren
       geschlossen hat. Menschen, die sich auf dem Arbeiterstrich an der
       Mallinckrodtstraße verkaufen, wo man morgens um 6 Männer findet, die fast
       jede Arbeit für fast kein Geld zu tun bereit sind.
       
       ## „Herr Doktor, ich schwör“
       
       Menschen, denen viele nicht mal die Hand geben würden. Martin Müller kommen
       sie oft sehr nah. Er kennt keine Berührungsangst. Selten trägt er
       Latexhandschuhe – Samthandschuhe aber auch nicht: „Jetzt quasseln Sie mir
       doch nicht die Hucke voll, Sie machen mich ja ganz bekloppt“, unterbricht
       er einen erregten Mann. Die Polizei hat ihm ein Medikament weggenommen.
       „Herr Doktor, ich brauch das wegen meiner epileptischen Anfälle.“ – „Die
       Polizei hat Ihnen das weggenommen, weil es als Heroinersatz auf der Straße
       gehandelt wird.“ – „Herr Doktor, ich schwör, ich hab noch nie auf der
       Straße Tabletten vertickt, nicht mal ’ne Aspirin.“
       
       Viel Stärkeres gibt es bei Doc Müller auch nicht – vor allem nichts, das
       als Ersatz für Betäubungsmittel herhalten kann. Seinen Vorrat an
       Medikamenten trägt er in zwei Arztkoffern bei sich. Wo die Medikamente
       herkommen? Aus einem langsam gewachsenen Spendennetzwerk, aber das reicht
       nicht immer. Dann stellt er ein Rezept aus und sagt: „Gehen Sie in diese
       Apotheke! Stellen Sie keine Fragen!“ Manchmal kann man nur helfen, wenn
       nicht alle Vorschriften genau eingehalten werden.
       
       Ursprünglich war er Chirurg mit eigener Praxis: „Die höchste Kunst des
       Chirurgen müsste eigentlich darin bestehen, Patienten überflüssige
       Operationen auszureden. Nur kann man damit kein Geld verdienen.“ Ende der
       90er ging er, unmittelbar nach dem Krieg, als Arzt in den Kosovo, und 2008
       dachte er an baldigen Ruhestand. Die für unkonventionelle Wege bekannte
       ärztliche Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt Dortmund,
       Dr. Ulrike Ullrich, versuchte damals, die Stelle mit einem geeigneten Arzt
       zu besetzen. Keiner wollte den Job machen, Müller nahm ihn und hat es nie
       bereut. Jetzt ist er 67 und muss von Amts wegen aufhören, der Nachfolger,
       Jens Feigel, ist schon da, war aber auch nicht leicht zu gewinnen.
       
       ## Auf Augenhöhe
       
       Müller ist keiner, der große Worte macht. Er hört zu, lässt sich aber nicht
       einwickeln von den oft endlosen Geschichten nicht gelingen wollender
       Lebenswege, er ist kein Pastor und kein Therapeut, sondern eben Arzt, lässt
       sich nicht umhauen von den täglichen Tragödien, von den Geschichten, die
       oft mit Gewalt, Tod, körperlichen und seelischen Verletzungen zu tun haben.
       Wichtig ist ihm, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und: „Nicht werten,
       nicht urteilen.“
       
       Wenn es klopft, ruft er aufmunternd: „Kommen Sie rein – egal wer Sie sind!“
       Nur wenn die Sprechzeit um ist und noch jemand zu ihm will, kann er sehr
       bestimmt werden: „Feierabend – Kommen Sie morgen wieder!“ Der barsche Ton
       irritiert zunächst. Aber viele Leute aus der Szene entwickeln ein
       tragisches Talent für falsches Timing – Fristen bei Ämtern zu versäumen,
       Arzttermine vergessen, den Integrationskurs zum wiederholten Mal verpassen.
       Oder sie klopfen, wenn es zu spät ist.
       
       Das Streetwork-Café an der Leopoldstraße liegt im Keller eines Parkhauses.
       Zu lauter Musik und umgeben von bedrohlich großen Hunden flößen sich Punks
       und junge Menschen mit durchgestrichenen Hakenkreuzen auf den Lederjacken
       Kaffee ein, mittags gibt es Eintopf, alles andere ist verboten.
       
       Die junge Frau mit der Wollmütze könnte äußerlich fast als Mann durchgehen,
       ein guter Schutz für das Leben auf der Straße. Sie hatte eine Überweisung
       zur Entgiftung. „Vor einem Jahr“, stellt der Doc ohne Vorwurf fest. Sie
       habe es halt verpeilt, aber grundsätzlich habe sich an ihrer Einstellung
       nichts geändert. Wie die denn sei? „Na ja, für ein Leben ohne Drogen
       natürlich.“
       
       ## Eine gewisser Stoizismus
       
       „Was Menschen hier ertragen und immer noch behaupten, es ginge ihnen gut,
       übersteigt manchmal das Vorstellungsvermögen“, sagt Müller. Auch Herrn L.
       geht es gut. Darum will er gar nicht zum Doc. Eigentlich ist er heute nur
       in der Beratungsstelle der Diakonie für Wohnungslose, weil er hofft, einen
       Platz bei einem betreuten Wohnprojekt zu ergattern. Krankenschwester Heike
       Ester, die den Arzt im Wechsel mit einer Kollegin unterstützt, bittet den
       Mann trotzdem in den Behandlungsraum. Seine Hände zittern, er ist
       schweißüberströmt – Verdacht auf Lungenentzündung. Den Becher, um das
       Antibiotikum zu schlucken, kann er kaum halten.
       
       Schwester Heike holt ihm trockene Klamotten aus der Kleiderkammer. Ob er
       wiederkommen wird, ob die Behandlung anschlägt? „Man darf hier keine
       Erwartungen über den Tag hinaus haben“, hat Martin Müller gelernt. „Ich
       habe über 1.600 Patienten betreut – einer war 237-mal bei mir, andere
       kommen einmal, einige kommen über lange Zeit - und sind dann auf einmal
       verschwunden.“ Immer wieder gibt es Fälle, in denen sich jemand aufrappelt
       und doch später wieder abstürzt. „Schrecklich“, sagt Müller, aber „wir
       geben niemals und niemanden auf“.
       
       Die Frauenübernachtungsstelle der Diakonie wirkt nicht so düster und
       bunkerartig wie das Pendant für Männer. Frauen, die hier Schutz finden,
       fliehen mitunter vor häuslicher Gewalt – wie Frau W. Ihr Mann hat sie
       wiederholt angegriffen, immer wieder ist sie zu ihm zurückgekehrt. Zu
       Müller kommt sie heute nur wegen ihrer Erkältung. Mit den schlimmen
       Geschichten halten die Menschen oft hinterm Berg. Lieber eine Krankheit,
       die man leicht hinter sich lassen kann. In der Hand hält die Frau eine
       Kaffeetasse mit der Aufschrift „Ich bin ein Glückskind.“
       
       ## Die eigene Diät: Zigaretten
       
       Die eigenen Abwehrkräfte stärkt Doc Müller mit einer rigorosen Diät aus
       selbst gedrehten Zigaretten, schwarzer Schokolade – nicht unter 70 Prozent
       Kakaoanteil – und schwarzem Kaffee, den er gelegentlich mit Chili
       nachwürzt. Im letzten Sommer musste er sich selbst für einige Tage in die
       Klinik begeben – das nächstgelegene Krankenhaus kam dafür nicht infrage:
       „Der Kaffee ist ungenießbar.“
       
       Alkohol- und Tabakwerbung würde er verbieten. Ausgerechnet er, ein
       engagierter Raucher? „Engagierter Raucher? Was soll das denn sein?“, fragt
       er zurück. Aber, auch wenn er das in offizieller Funktion nicht so deutlich
       aussprechen darf, Heroin würde er wohl freigeben. „Mit Heroin – im
       Gegensatz zu Alkohol – könnte man ein relativ normales Leben führen. Es
       sind die Umstände, an denen die Leute sterben: unsaubere Spritzen,
       verunreinigtes Heroin, Hepatitis, HIV. Und im weiteren Sinne die fast immer
       damit verbundene Kriminalität.“
       
       Der Ton zwischen Arzt und Klienten kennt das Sie und das Du, Herzlichkeit,
       Autorität und Kumpelhaftigkeit, Missverständnisse inbegriffen. Dem Junkie,
       der wissen wollte, wie man sich fachgerecht in die Leiste spritzt (weil
       alle anderen Venen vernarbt sind), mochte er keinen Rat geben, einer Frau
       mit Gewichtsproblem auch nicht: „Herr Doktor, was halten Sie denn von
       diesen Schlankheitspillen? Die anderen Frauen machen das mit Koks, aber ich
       will ja jetzt clean bleiben.“ Müller fragt nach der Ernährung. „Fast
       nichts. Nur Nudeln, Pommes, Chips.“
       
       ## Bei Schlägereien droht Hausverbot
       
       Tatsächlich ist die Atmosphäre oft weniger trist, als man von außen
       vermuten würde. Dass S. sich, nicht ganz nüchtern, im Bett umdrehte, im
       Metallgitter des Fußteils hängen blieb und dabei den Zeh brach, bleibt
       schmerzhaft. Ist aber trotzdem ziemlich komisch. S. ist eine Art gute Seele
       im Café Berta, mit dem die Stadt eine „Aufenthaltsgelegenheit für Alkohol
       konsumierende Personen“ geschaffen hat: mitgebrachtes Bier – ja, alles
       andere – nein; bei Schlägereien droht Hausverbot. Die Stammgäste fühlen
       sich als große Familie, es gibt sogar einen eigenen BVB-Fanclub.
       
       Das Café Berta ist dem Arzt besonders ans Herz gewachsen. Die Klienten
       kennen den Weg: an Dartscheibe und Tresen vorbei, durch die Küche ins
       Hinterzimmer. Einer von Müllers letzten Arbeitstagen endet hier. P. ist vor
       25 Jahren aus Polen gekommen und spricht geschliffen Deutsch. Als er noch
       auf der Straße lebte, zündete jemand nachts seinen Schlafsack an. Die
       Brandwunden sind bis heute nicht richtig verheilt.
       
       „Ich würde gern in ein paar Jahren bei Ihnen vorbeikommen“, meint P. zum
       Abschied, „nachsehen, wie es Ihnen geht, und erzählen, dass ich clean bin,
       keinen Alkohol mehr trinke und Arbeit habe. Aber wenn nicht …“ – „Dann fahr
       zur Hölle!“, sagt der Doc rau, aber herzlich.
       
       5 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hub
       
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 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Roma
       
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       Viele von ihnen sind Roma. Die Stadt Dortmund hat die Zuwanderung lange
       ignoriert.